Asiaten als Vorzeige-Minderheit: Geschichte eines rassistischen Mythos

Das Stereotyp von asiatischstämmigen Menschen als klug, fügsam und gut integriert fußt nicht nur auf einer Geschichte der Ausgrenzung. Es wurde auch genutzt, um marginalisierte Gruppen gezielt gegeneinander auszuspielen.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 4. Juni 2021, 12:24 MESZ
Klassenfoto April Lou

Ein Klassenfoto der Lehrerin April Lou und ihrer Schüler an einer öffentlichen Schule in New York City im Jahr 1964. Die Schüler, allesamt Neueinwanderer aus Hongkong und Taiwan, halten Plakate, auf denen ihre Namen auf Chinesisch stehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lockerten die USA die Beschränkungen für asiatische Einwanderer – doch damit stieg auch die Erwartung an asiatische Amerikaner, brave, vorbildliche Bürger zu sein.

Foto von Fred Palumbo, New York World-Telegram & Sun Collection, PhotoQuest, Getty

Wer am 12. Februar 1970 die „Seattle Times“ aufschlug, blieb vielleicht bei John J. Reddins nostalgischer Kolumne „Faces of the City“ (dt.: Gesichter der Stadt) hängen. An jenem Donnerstag veröffentlichte Reddin eine Ode an die asiatisch-amerikanischen Einwohner der Stadt, die er als fleißig, gut erzogen und sozial aufstiegsfähig beschrieb. „Unsere japanisch-amerikanischen Einwohner gehören zu den besten Bürgern der Stadt“, schrieb Reddin. „Sie sind fleißig und höflich, haben eine angeborene Zuneigung und Respekt für Familie und Freunde [...] und wir alle könnten von ihnen ein oder zwei Lektionen in guten Manieren lernen!“

Der Artikel empörte Einwohner von Seattle wie Joseph T. Okimoto, ein Mitglied der städtischen Asian Coalition for Equality, der die Kolumne in einem vernichtenden Leserbrief kritisierte. „Auf den ersten Blick erscheint die Kolumne harmlos“, schrieb er. „Aber unter der Oberfläche, und gar nicht mal allzu tief, liegen bestimmte gesellschaftliche Einstellungen, die sich aus einer langen Geschichte der Diskriminierung speisen.“ Genau die Eigenschaften, die der Journalist lobte, „entwickelten sich aus einem Jahrhundert des Rassismus gegen den Gelben Mann in einer Gesellschaft, die ihn als minderwertig betrachtete“, fuhr Okimoto fort.

Er bezog sich auf das langgehegte Stereotyp von asiatischen Amerikanern als „Vorzeige-Minderheit“: eine ethnische Gruppe, die über die Vorurteile und Voreingenommenheit anderer hinauswuchs, um eine der fleißigsten und leistungsstärksten Demografien der Vereinigten Staaten zu werden. Der Mythos wurzelt jedoch in der historischen Misshandlung von Menschen asiatischer Abstammung – und sein Schatten liegt immer noch auf jenen US-Amerikanern, deren Wurzeln in Asien oder auf den pazifischen Inseln liegen.

Der Ursprung antiasiatischer Ressentiments

Im Laufe der amerikanischen Geschichte waren asiatische Einwanderer und ihre in Amerika geborenen Nachkommen auf ihre Weißen Mitbürger angewiesen. Gleichzeitig wurden sie von diesen geschmäht: Man nutzte ihre billige Arbeitskraft aus, während man sie als faul, schmutzig, unmoralisch und gefährlich stigmatisierte.

Die Einwanderung von Asiaten im großen Stil begann in den 1850er Jahren und beflügelte die nationale Wirtschaft und die Expansion des amerikanischen Westens. Da sie in ethnischen Enklaven lebten und von den Weißen Amerikanern und europäischen Einwanderern mit Misstrauen betrachtet wurden, gerieten Menschen asiatischer Abstammung bald ins Visier der ersten restriktiven Einwanderungsgesetze der Nation. Der Page Act von 1875 verhinderte effektiv die Einreise asiatischer Frauen, da sie als Prostituierte galten. Der Chinese Exclusion Act von 1882 verhängte ein Moratorium für die Einreise chinesischer Einwanderer, das letztlich bis in die 1940er Jahre in Kraft blieb. Andere asiatische Einwanderer sahen sich mit Gesetzen konfrontiert, die ihre Einbürgerung als amerikanische Staatsbürger verhinderten – dieses Recht hatten lange Zeit nur „freie Weiße“ oder Menschen afrikanischer Abstammung.

Galerie: Die Farbvielfalt des Menschen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kochte die anti-asiatische Stimmung immer wieder hoch – und gelegentlich auch über. In den 1940er Jahren hatte die feindselige Stimmung gegenüber Japanern einen fieberhaften Höhepunkt erreicht. Nach Japans Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 griff Paranoia um sich, dass japanische Amerikaner die Vereinigten Staaten verraten würden. Das veranlasste die Regierung dazu, etwa 120.000 japanische Amerikaner – von denen viele in den USA geboren waren – in Internierungslagern einzusperren. Sie wurden gezwungen, ihre Häuser, Geschäfte und ihren Besitz zurückzulassen. So verloren viele japanische Amerikaner all ihr Hab und Gut.

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    Aus Angst, dass sie ihr Land verraten könnten, zwang die US-Regierung japanische Amerikaner während des Krieges, ihre Häuser zu verlassen und ihre Geschäfte zu schließen. Von dieser Erfahrung gezeichnet, versuchten asiatische Amerikaner später, sich in die Gesellschaft zu integrieren, obwohl sie weiterhin diskriminiert wurden.

    Foto von Hulton-Deutsch, Corbis/Getty

    Die erste Gruppe von 82 japanischen Amerikanern trifft am 21. März 1942 im Internierungslager Manzanar im kalifornischen Owens Valley ein. Bis zu seiner Schließung im Jahr 1945 waren in Manzanar während des Zweiten Weltkriegs mehr als 10.000 Menschen japanischer Abstammung inhaftiert.

    Foto von Eliot Elisofon, The Life Picture Collection, Getty

    Gesinnungswechsel nach dem Zweiten Weltkrieg

    Der Zweite Weltkrieg hatte den Wohlstand der japanischen Amerikaner vernichtet. Ironischerweise markierte er auch das Ende der Ausgrenzung Asiens, da die USA versuchten, ihre Allianzen in Asien zu festigen.

    Im Jahr 1943 hoben die USA den Chinese Exclusion Act auf, um der japanischen Kriegspropaganda entgegenzuwirken. Diese verwies auf den amerikanischen Rassismus, um die Allianz der USA mit China zu untergraben. Nach dem Krieg gewährten die Vereinigten Staaten japanischen Einwanderern 1952 endlich das Recht auf Einbürgerung. Es war eine Geste der Dankbarkeit gegenüber den japanischen Amerikanern, die ihrem Land gedient hatten. Aber natürlich hoffte man auch, das Nachkriegsjapan als neuen Verbündeten inmitten der zunehmenden Spannungen des Kalten Krieges zu gewinnen. Dreizehn Jahre später, 1965, ebnete der Immigration and Naturalization Act noch mehr asiatischen Einwanderern den Weg in die USA: Er ermutigte sowohl qualifizierte Arbeitskräfte als auch diejenigen, die bereits Familie in den USA hatten, in die Staaten einzuwandern.

    Doch das Ende der politischen Ausgrenzung nahm den asiatischen Amerikanern nicht die berechtigten Ängste vor Rassismus und Vorurteilen. In den 1950er und 1960er Jahren versuchten viele aus Angst vor Fremdenfeindlichkeit und Entrechtung, sich möglichst unauffällig zu verhalten und in die Weiße amerikanische Gesellschaft zu assimilieren.

    „Indem wir versuchten zu beweisen, dass wir zu 100 Prozent Amerikaner sind, hofften wir darauf, akzeptiert zu werden“, schrieb die Psychologin Amy Iwasaki Mass 1991. Sie verglich die psychologische Reaktion mit der, die Kinder gegenüber ihren misshandelnden Eltern entwickeln. „Wir [...] zahlten einen enormen psychologischen Preis für diese Akzeptanz“, schrieb sie.

    Von „guten“ und „schlechten“ Minderheiten

    Aber es gab noch einen anderen Preis zu zahlen: In den 1950er und 1960er Jahren entstand der weit verbreitete Mythos von der Leistungsfähigkeit fügsamer asiatischer Amerikaner. Über ein Jahrhundert lang waren Asiaten als „Fremde“ zum Sündenbock gemacht worden. Staatsbürgerschaft oder Gleichberechtigung gab es für sie nicht. Doch nun, da die USA ihre potenziellen Verbündeten aus dem Kalten Krieg umwarben, wurden Asiaten als wünschenswerte, fleißige Minderheit gepriesen. Schlimmer noch: Sie wurden als positives Gegenbeispiel zu anderen Gruppen wie Latinos und Schwarzen Amerikanern hochgehalten, die als Bedrohung für die Weiße Vorherrschaft dargestellt wurden.

    Insbesondere die japanischen Amerikaner wurden als Vorbilder des American Dream hervorgestellt. „Obwohl sie von ihrer eigenen Regierung interniert wurden, schafften sie es, erfolgreich zu sein und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten – ohne ein großes Aufheben darum zu machen, dass sie gegen ihren Willen inhaftiert waren“, sagt Angie Chuang. Die außerordentliche Professorin für Journalismus an der University of Colorado erforschte die Konzepte von Ethnien und Identität. Diese scheinbare Fügsamkeit der Japaner wurde von Kommentatoren gelobt, die sich mit den wachsenden Bürgerrechtsbewegungen anderer marginalisierter Gruppen zunehmend unwohl fühlten.

    „Dies ist eine Minderheit, die sich sogar über vorurteilsbehaftete Kritik erhoben hat“, schrieb der Soziologe William Petersen 1966 in einem Artikel im „New York Times Magazine“. Peterson gilt als Erster, der den Mythos ausformulierte. Aber noch besser sei es, schrieb er, dass sie all dies „durch ihre eigenen, fast völlig eigenständigen Bemühungen“ erreicht hätten. Gesetzestreu, fleißig, gut ausgebildet und sogar gut gekleidet: Laut Petersen hätten sich die japanischen Amerikaner über alles erhoben, was die amerikanische Gesellschaft ihnen entgegengeworfen habe. Er kontrastierte sie mit den Schwarzen Amerikanern, die er als „problematische Minderheiten“ betitelte, die einige der Vorurteile gegen sie verdient hätten. 

    Die Realität war jedoch, dass asiatische Amerikaner immer noch systematischen Vorurteilen und rassistischer Diskriminierung ausgesetzt waren. Das war auch bei anderen People of Colour der Fall, sagt Chuang. „Der Mythos der vorbildlichen Minderheit wurde nach dem Motto ‚Divide et impera‘ benutzt, um asiatisch-amerikanische Einwanderer gegen die Schwarze Bevölkerung auszuspielen“, sagt sie. Selbst als sie für ihre harte Arbeit gepriesen wurden, wurden asiatische Amerikaner gleichzeitig als Ausrede benutzt, um keine sozialen Dienstleistungen oder sonstige sinnvolle Unterstützung für marginalisierte Bevölkerungsgruppen bereitzustellen – denn es ging ja offensichtlich auch so. Und ihre Arbeit, sagt Chuang, wurde weiterhin von einer Nation abgewertet, die sich lange auf „fügsame“ asiatische Arbeitskraft verlassen hatte.

    Kampf dem Stereotyp

    Doch nicht jeder glaubte an diesen Mythos. Dieselbe Bürgerrechtsbewegung, die in den 1950ern und 1960ern die Schwarzen und lateinamerikanischen Communitys aufrüttelte, begeisterte auch die asiatischen Amerikaner. Insbesondere diejenigen, deren eingewanderte Eltern gegen alle Widrigkeiten gekämpft hatten, nur um als Keil gegen andere Gruppen benutzt zu werden, wollten die Zustände nicht länger hinnehmen. Mit der Zeit begann eine breite Koalition von Studenten, Pädagogen, Gewerkschaftsaktivisten und Gemeindemitgliedern, Wiedergutmachung zu suchen. Sie entwickelten wieder einen Stolz auf eine gemeinsame Identität, auf die Sprachen, kulturellen Praktiken, Namen und körperlichen Merkmale, die sie lange Zeit notgedrungen kaschiert und unterdrückt hatten.

    Leon Zhang (links) und Chris Tang (rechts) aus McLean in Virginia halten am 21. März 2021 Schilder bei einer Kundgebung in Washington, DC. Die Kundgebung richtete sich gegen die steigende Zahl von Angriffen auf asiatische Amerikaner und Pazifikinsulaner seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie.

    Foto von Alex Wong, Getty

    Heute werden die Folgen dieses Mythos besser verstanden. Asiatische Amerikaner und Pazifik-Insulaner in einen Topf zu werfen – vielfältige Gemeinschaften, die ihre Herkunft auf über 50 Länder zurückführen und etwa doppelt so viele Sprachen und Dialekte sprechen –, führt zu einer Vermengung individueller Leistungen und kann Ungleichheiten und Diskriminierung verschleiern. Da zusammengefasste Daten ein rosiges Bild der Leistungen asiatischer Amerikaner zeichnen können, weisen die Politikexperten Christian Edlagan und Kavya Vaghul vom Washington Center for Equitable Growth auf die Schwachstellen solcher Datensätze hin: Denn was daraus oft nicht ersichtlich ist, sind erhebliche Unterschiede bei den Einkommensniveaus, Beschäftigungsquoten und Bildungsabschlüssen.

    Der Mythos der Vorzeigeminderheit „überbewertet den Erfolg der asiatischen Amerikaner in Bezug auf Resilienz, Gesundheit, Weisheit und Wohlstand“, schrieb eine Gruppe von Experten für öffentliche Gesundheit von der New York University School of Medicine 2016 in einem Kommentar. Sie stellen fest: Da davon ausgegangen wird, dass asiatische Amerikaner keine Ungleichheiten erfahren, werden ihnen wichtige Ressourcen vorenthalten. Der Druck der angeblich angeborenen asiatischen Exzellenz kann auch Folgen für die psychische Gesundheit haben. Der Mythos wurde mit allen möglichen Problemen in Zusammenhang gebracht: von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Depressionen und Angstzustände bis hin zu höheren Selbstmordraten und einer geringeren Wahrscheinlichkeit, psychologische Hilfsdienste in Anspruch zu nehmen.

    Auch hat der Mythos die asiatischen Amerikaner nicht vor anhaltenden Vorurteilen und Diskriminierung geschützt, von Mikroaggressionen bis hin zu antiasiatischer Gewalt. Fast zwei Jahrhunderte nach Beginn der Masseneinwanderung in die Vereinigten Staaten sagt Chuang, dass es an der Zeit ist, mit dem Stereotyp aufzuräumen, Menschen asiatischer Abstammung seien „ruhig oder fügsam oder leicht zu handhaben. Wir müssen uns zusammenschließen und eine neue Solidarität zwischen asiatischen Amerikanern und Pazifikinsulanern entwickeln, die es vorher nicht gab.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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