Blick ins Archiv: National Geographics rassistische Berichterstattung

Wir haben einen führenden Historiker gebeten, unsere Berichterstattung über nichtweiße Menschen zu analysieren. Nur, wenn wir uns unserer Vergangenheit stellen, können wir sie wirklich überwinden.

Von Susan Goldberg
Veröffentlicht am 16. Juni 2020, 12:06 MESZ
In einem Artikel über Australien, der 1916 erschien, wurden die australischen Ureinwohner als „Wilde“ bezeichnet, die ...

In einem Artikel über Australien, der 1916 erschien, wurden die australischen Ureinwohner als „Wilde“ bezeichnet, die „unter allen Menschen den niedrigsten Grad an Intelligenz“ haben.

Foto von C.p. Scott man, H.e. Gregory woman, National Geographic Creative both

Wir schreiben den 2. November 1930. National Geographic hat einen Reporter und einen Fotografen entsandt, um über einen famosen Anlass zu berichten: die Krönung von Haile Selassie, König der Könige von Äthiopien, der Erobernde Löwe des Stammes Judah. Es gibt Trompeten, Weihrauch, Priester und Krieger, die Speere schwingen. Der Artikel umfasst 14.000 Wörter und 83 Bilder.

Hätte 1930 in Amerika statt in Äthiopien eine Zeremonie zur Ehrung eines Schwarzen stattgefunden, wäre es garantiert zu keiner Berichterstattung gekommen. Schlimmer noch: Hätte Haile Selassie in den Vereinigten Staaten gelebt, wäre ihm mit ziemlicher Sicherheit der Zutritt zu unseren Vorlesungen im rassengetrennten Washington, D.C., verwehrt worden. Vielleicht hätte er auch kein Mitglied der National Geographic Society sein dürfen. Laut Robert M. Poole, dem Verfasser von „Explorers House: National Geographic and the World It Made“, „waren Afroamerikaner – zumindest in Washington – in den 1940er Jahren von der Mitgliedschaft ausgeschlossen".

„Die Gäste in der Stube des Fairfax House aus dem 18. Jahrhundert unterhalten sich mit Karten und Tonpfeifen“, heißt es in der Bildunterschrift aus einem Artikel von 1956 über die Geschichte Virginias. Obwohl die in dem Artikel erwähnt Häuser von Sklaven gebaut wurden, behauptete der Verfasser, dass sie „für ein Kapitel in der Geschichte dieses Landes stehen, an das sich jeder Amerikaner mit Stolz erinnern kann“.

Foto von Robert F. Sisson And Donald Mcbain, National Geographic Creative

1941 beschrieb National Geographic kalifornische Baumwollarbeiter, die auf die Beladung eines Schiffs warteten, mit Beleidigungen aus der Sklavenzeit: „Negerbabys, Banjos und Baumwollballen wie jene, die man in New Orleans sehen kann.”

Foto von Ray Chapin, National Geographic Creative

Ich bin die zehnte Herausgeberin von National Geographic seit seiner Gründung im Jahr 1888. Ich bin die erste Frau und die erste Jüdin – Mitglied zweier Gruppen, die auch hierzulande einst diskriminiert wurden. Es tut weh, die schrecklichen Geschichten aus der Vergangenheit des Magazins zu erzählen. Aber als wir beschlossen, uns in einer Ausgabe dem Thema Rassismus zu widmen, hielten wir es für richtig, zuerst unsere eigene Geschichte zu erforschen, bevor wir unseren Blick als Reporter auf andere richten.

Rasse“ ist kein biologisches Konstrukt, wie Elizabeth Kolbert in der Ausgabe erklärt, sondern ein soziales, das verheerende Auswirkungen haben kann. „So viele der Schrecken der letzten Jahrhunderte lassen sich auf die Vorstellung zurückführen, dass eine ‚Rasse‘ der anderen unterlegen ist“, schreibt sie. „Rassenunterschiede prägen nach wie vor unsere Politik, unsere Stadtviertel und unser Selbstverständnis.“

Es ist wichtig, wie wir Menschen unterschiedlicher Herkunft präsentieren. Ich höre oft von Lesern, dass National Geographic ihr erster Blick auf die Welt war. Unsere Entdecker, Wissenschaftler, Fotografen und Schriftsteller haben Menschen an Orte mitgenommen, die sie sich nie hätten vorstellen können. Das ist eine Tradition, die unsere Berichterstattung noch heute antreibt und auf die wir zu Recht stolz sind. Aber das bedeutet auch, dass wir bei jedem Artikel die Pflicht haben, ein genaues und authentisches Bild zu präsentieren – eine Pflicht, die umso schwerer wiegt, wenn wir über brisante Themen wie Ethnien und Rassismus berichten.

BELIEBT

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    Der Fotograf Frank Schreider zeigt in einer Ausgabe von 1962 Männern von der Insel Timor seine Kamera. Das Magazin druckte oft Fotos von „unzivilisierten“ Ureinwohnern, die scheinbar von der Technologie „zivilisierter“ Westler fasziniert waren.

    Foto von Frank And Helen Schreider, National Geographic Creative

    Wir baten John Edwin Mason darum, uns bei dieser Untersuchung zu helfen. Mason ist für diese Aufgabe gut aufgestellt: Er ist Professor an der University of Virginia und auf die Geschichte der Fotografie und die Geschichte Afrikas spezialisiert – ein häufiger Schnittpunkt unserer Berichterstattung. Er ist in unsere Archive eingetaucht.

    Was er dort fand, war kurz gesagt, dass National Geographic bis in die 1970er Jahre hinein People of Color, die in den Vereinigten Staaten lebten, praktisch ignorierte. Selten wurden sie als mehr denn Arbeiter oder Hausangestellte erwähnt. Derweil präsentierte das Magazin „Eingeborene“ anderswo als Exoten, als bekanntermaßen oft unbekleidete, glückliche Jäger und edle Wilde – kein Klischee blieb unbedient.

    Im Gegensatz zu Magazinen wie Life, so Mason, habe National Geographic wenig getan, um seinen Lesern über die in der Weißen amerikanischen Kultur tief verwurzelten Stereotypen hinwegzuhelfen.

    Südafrikanische Goldgräber waren während „wilder Stammestänze“ „von donnernden Trommeln bezaubert“, heißt es in einer Ausgabe von 1962.

    Foto von Kip Ross, National Geographic Creative

    Mitte des 20. Jahrhunderts war National Geographic bekannt für seine glamourösen Darstellungen von Inselbewohnern des Pazifiks. Tarita Teriipaia aus Bora Bora wurde im Juli 1962 abgelichtet – im selben Jahr, in dem sie mit Marlon Brando in dem Film „Meuterei auf der Bounty“ zu sehen war.

    Foto von Luis Marden, National Geographic Creative

    „Die Vorstellungen der Amerikaner über die Welt rührten von Tarzan-Filmen und groben rassistischen Karikaturen her“, sagte er weiter. „Die Rassentrennung war eben Fakt. National Geographic klärte nicht auf, sondern verstärkte die Botschaften, die die Amerikaner bereits erhalten hatten – und das in einem Magazin, das eine enorme Autorität besaß. National Geographic entstand auf dem Höhepunkt des Kolonialismus, und die Welt war in Kolonisatoren und Kolonisierte geteilt. Das war eine Linie, die entlang von Hautfarben verlief, und National Geographic spiegelte diese Sicht der Welt wider.“

    Manches von dem, was in unseren Archiven zu finden ist, macht sprachlos. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel über Australien aus dem Jahr 1916. Unter den Fotos von zwei Aborigines ist die Bildunterschrift zu lesen: „Südaustralische Blackfellows: Diese Wilden haben unter allen Menschen den niedrigsten Grad an Intelligenz.“

    Fragen ergeben sich aber nicht nur aus dem, was im Magazin stand, sondern auch aus dem, was nicht darinstand. Mason verglich zwei Artikel, die wir über Südafrika geschrieben haben: einer aus dem Jahr 1962 und der andere aus dem Jahr 1977. Die Geschichte von 1962 wurde zweieinhalb Jahre nach dem Massaker an 69 Schwarzen Südafrikanern durch die Polizei in Sharpeville gedruckt. Viele der Opfer wurden auf der Flucht in den Rücken geschossen. Die Brutalität der Morde schockierte die Welt.

    Ein Artikel, der 1977 über die Apartheid in Südafrika berichtete, zeigt Winnie Mandela, eine Mitbegründerin des Schwarzen Elternverbandes und Frau von Nelson Mandela. Sie war eine von etwa 150 Personen, denen die Regierung verboten hatte, ihre Städte zu verlassen, mit der Presse zu sprechen und mit mehr als zwei Personen gleichzeitig zu reden.

    Foto von James P. Blair, National Geographic Creative

    „In der Geschichte von National Geographic werden kaum Probleme erwähnt“, sagte Mason. „Schwarze Südafrikaner kommen gar nicht zu Wort. Dieses Fehlen ist genauso wichtig wie das, was da drinsteht. Die einzigen Schwarzen tanzen exotische Tänze ... Diener oder Arbeiter. Es ist eigentlich bizarr, wenn man bedenkt, was die Redakteure, Schriftsteller und Fotografen alles bewusst übersehen haben mussten.“

    Im Kontrast dazu steht der Artikel von 1977, der im Kielwasser der US-Bürgerrechtsbewegung erschien. „Er ist kein perfekter Artikel, aber er erkennt die bestehende Unterdrückung an“, sagte Mason.

    „Schwarze Menschen werden abgebildet. Oppositionsführer sind abgebildet. Es ist ein ganz anderer Artikel.“

    Wir machen einen weiteren Zeitsprung nach Haiti im Jahr 2015. Im Rahmen eines Artikels gaben wir jungen Haitianern Kameras und baten sie, ihre Lebensrealität selbst zu dokumentieren. „Die Bilder der Haitianer sind wirklich, wirklich wichtig“, sagte Mason, und wären in unserer Vergangenheit „undenkbar“ gewesen. Ebenso undenkbar war damals unsere heutige Berichterstattung über ethnische und religiöse Konflikte, die Weiterentwicklung von Geschlechteridentitäten, die Realitäten im heutigen Afrika und vieles mehr.

    „Ich kaufe jeden Tag Brot von ihr“, sagte der haitianische Fotograf Smith Neuvieme über seine Mitbürgerin Manuela Clermont. Er machte sie zum Mittelpunkt dieses Bildes, das 2015 veröffentlicht wurde.

    Foto von Smith Neuvieme, Fotokonbit

    Mason deckte auch eine Reihe von stereotypen Kategorien bei unseren Bildern auf: Fotos von „Einheimischen, die von westlicher Technologie fasziniert sind. Das erzeugt wirklich diese Dichotomie zwischen ‚uns und denen‘, zwischen dem Zivilisierten und dem Unzivilisierten.“ Und dann gibt es da noch diesen Überhang an Bildern von schönen Pazifikinsulanerinnen.

    „Wenn ich mit meinen Studenten über die Zeit bis nach den 1960er Jahren sprechen würde, würde ich sagen: ‚Seid vorsichtig mit dem, was ihr hier zu lernen glaubt‘“, sagte er. „Erkennt aber gleichzeitig die Stärken an, die National Geographic selbst damals hatte: Es führte Menschen in die Welt hinaus, um Dinge zu sehen, die wir noch nie zuvor gesehen haben. Es ist durchaus möglich, dass ein Magazin den Menschen die Augen öffnen kann, während es sie gleichzeitig auch verschließt.“

    Am 4. April 2020 jährte sich der Tag der Ermordung von Martin Luther King, Jr. zum 50. Mal. Es ist ein angemessener Moment, um einen Schritt zurückzutreten und Bilanz zu ziehen, wo wir beim Thema Rassismus stehen. Es ist auch ein Gespräch, das in Echtzeit abläuft: In zwei Jahren werden zum ersten Mal in der Geschichte der USA weniger als die Hälfte der Kinder des Landes Weiß sein. Lassen Sie uns also darüber sprechen, was bei diesem Thema funktioniert und was nicht. Ergründen wir, warum wir weiterhin nach „Rassen“ trennen und wie wir integrative Gemeinschaften aufbauen können. Konfrontieren wir die beschämende Verwendung von Rassismus als politische Strategie und beweisen wir, dass wir es besser können.

    Für uns bot diese Ausgabe auch eine wichtige Gelegenheit, unsere eigenen Bemühungen um etwas zu betrachten, das seit 130 Jahren ein Kernstück unserer Mission darstellt: die Dokumentation der Reise der Menschheit. Ich möchte, dass eine künftige Redakteurin von National Geographic mit Stolz auf unsere Berichterstattung zurückblicken kann – nicht nur auf die Geschichten, die wir zu erzählen beschlossen haben, und die Art und Weise, wie wir sie erzählten, sondern auch auf die vielfältige Gemeinschaft von Autorinnen, Redakteuren und Fotografinnen, die hinter diesem Werk steht.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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