Amerikas rassistische Lynchmorde: Alte Grausamkeit in neuem Gewand
Die Morde an Schwarzen durch Polizisten und selbsternannte Rächer in den USA reißen nicht ab. Sie sind das Erbe eines Jahrhunderts der systematischen Entmenschlichung.
Am 24. Juni 1922 marschierten mehr als 3.000 Schwarze in einem stummen Protest durch die Straßen von Washington D.C. und forderten ein Ende der Lynchmorde, vor denen die Schwarze Bevölkerung in Angst und Schrecken lebte. Einem Artikel der New York Times von 1922 zufolge trug eine Gruppe von Jungen bei dem Protest ein Schild mit der Aufschrift „Wir sind fünfzehn Jahre alt: Jemand in unserem Alter wurde lebendig verbrannt“. Auf einem anderen Schild war zu lesen: „Der Kongress diskutiert über Verfassungsmäßigkeit, während der Rauch brennender Leichen den Himmel verdunkelt“.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel enthält Bilder vom Lynchmord an Rubin Stacey, die als historischer Beleg für die grausamen Praktiken dienen, die im Artikel beschrieben werden. Solche Bilder wurden missbraucht, um eine Ideologie der Weißen Vorherrschaft zu verbreiten – deshalb war es wichtig, auch diesen Teil der Geschichte zu zeigen.
Es war ein Video, das um die Welt ging: Der Afroamerikaner George Floyd liegt auf der Straße, sein Kopf auf dem Asphalt. Ein Weißer Polizist drückt sein Knie in Floyds Nacken. „Ich kann nicht atmen“, wiederholt der 46-jährige Floyd immer wieder. „Bitte. Bitte. Bitte. Ich kann nicht atmen. Bitte, Mann.” Passanten filmen die Szene und flehen den Polizisten an, aufzuhören. Er macht weiter. Im Beisein seiner drei Kollegen kniet er acht Minuten und 48 Sekunden auf Floyds Nacken, während das Leben aus dessen Körper weicht.
„Das war ein moderner Lynchmord“, sagt Arica Coleman, eine Geschichtswissenschaftlerin, Kulturkritikerin und Autorin.
„Dieser Mann lag hilflos am Boden. Er ist keine Gefahr. Ein Polizist kniet auf seinem Nacken. Dieser Mann fleht um sein Leben. Für mich ist das die ultimative Zurschaustellung der Macht eines Menschen über einen anderen. Früher konnte man für alles gelyncht werden.“
Links: Von 1920 bis 1938 ließ die National Association for the Advancement of Colored People vor ihrem Hauptquartier auf der Fifth Avenue in New York City eine Flagge mit der Aufschrift „Ein Mann wurde gestern gelyncht“ wehen.
Rechts: Nachdem der Schwarze Walter Scott in South Carolina von einem Weißen Polizeibeamten in den Rücken geschossen worden war, schuf der Künstler Dread Scott 2015 dieses Transparent, das an das historische Bild des Banners erinnert, welches das Hauptquartier der NAACP in New York zierte.
Von 1877-1950 wurden laut der Equal Justice Initiative mehr als 4.400 Schwarze Männer, Frauen und Kinder von Weißen Mobs gelyncht. Sie wurden erschossen, gehäutet, lebendig verbrannt, erschlagen und aufgeknüpft. Diese Lynchmorde fanden oft in Sichtweite jener Institutionen statt, die für Gerechtigkeit sorgen sollten – auf dem Rasen der Gerichtsgebäude. Einige Geschichtswissenschaftler vertreten die Ansicht, dass die Gewalt gegen Tausende Schwarze, die nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gelyncht wurden, der Wegbereiter für die Selbstjustiz und den Missbrauch der Polizeigewalt war, unter denen Schwarze Menschen noch heute zu leiden haben.
Floyds Tod ereignete sich sechs Wochen, nachdem die Polizei in Louisville in Kentucky Breonna Taylor in ihrem eigenen Haus erschossen hatte. Die Polizisten waren im Rahmen einer unangekündigten Durchsuchung in das Haus der 26-jährigen Schwarzen eingedrungen. Vier Wochen zuvor war der 25-jährige Afroamerikaner Ahmaud Arbery beim Joggen in seinem Wohnviertel in Glynn County, Georgia, ermordet wurden. Ein Weißer Mann und dessen Sohn hatten Arbery in ihrem Pickup-Truck verfolgt und niedergeschossen.
Laut Historikern scheinen diese Todesfälle nun den Schorf von der 400 Jahre alten Wunde der Unterdrückung Schwarzer Menschen abgerissen zu haben. Vor dem Hintergrund einer Pandemie, unter der in den USA überproportional viele Afroamerikaner zu leiden und zu sterben hatten, schürten diese Toten eine Wut, die zum Katalysator für Proteste im ganzen Land und im Rest der Welt wurde. Von Paris bis Sydney und von Amsterdam bis Kapstadt gingen Tausende Menschen auf die Straßen, um für Gerechtigkeit und ein Ende der Polizeigewalt zu demonstrieren.
Bryan Stevenson ist der Gründer und Direktor der Equal Justice Initiative. Die gemeinnützige Organisation versucht, das rassistische Erbe der USA über Aktivismus und Aufklärung zu adressieren. Ihm zufolge liegen die Wurzeln der Proteste in dem Umstand, dass das Land seine brutale Geschichte der Sklaverei, Lynchmorde und fortwährenden Unterdrückung seiner Schwarzen Bevölkerung noch nicht aufgearbeitet hat.
„Wir haben uns nach zwei Jahrhunderten der Sklaverei nie mit der größten Bürde unserer Nation auseinandergesetzt – nämlich diesem Narrativ, dass Schwarze Menschen unterentwickelt, weniger menschlich oder weniger wertvoll sind und weniger verdienen als Weiße“, so Stevenson.
„Dieses Konzept der Überlegenheit der Weißen („White Supremacy“) befeuerte ein ganzes Jahrhundert der Gewalt gegen Schwarze, Tausende Lynchmorde, Massentötungen und bis heute andauernde Vorurteile über die Gefährlichkeit und Schuldigkeit Schwarzer“, erklärt er. „Wenn Ahmaud Arbery, Breonna Taylor oder George Floyd getötet werden, reagieren Polizei, Strafverfolger und zu viele gewählte Vertreter instinktiv sofort, indem sie die involvierten Weißen schützen wollen. Die Videoaufzeichnungen verkomplizieren diese Strategie. Aber selbst die Gewalt, die auf Video festgehalten wird, reicht nicht aus, um die seit langem bestehende Weigerung zu überwinden, mit der Geschichte der Rassenungerechtigkeit in unserem Land abzurechnen.“
Öffentlich ermordet
Nach dem Tod von Floyd trauerten viele Menschen öffentlich, die das Video gesehen hatten. Es war eine erneute Erinnerung an die Brutalität, der Schwarze in der Geschichte der USA seit jeher ausgesetzt sind.
In Boston schrieb der Präsident des Emerson College einen beispiellosen Brief an seine Studenten, in dem er seine herzzerreißende Reaktion auf Floyds Tod vor laufender Kamera erklärte. Er begann mit den Worten: „Heute schreibe ich Ihnen als Schwarzer Mann … Im Hinblick auf die jüngsten Ereignisse kann ich Ihnen gar nicht anders schreiben.“
Terrence Floyd (zweiter von rechts) wird getröstet, während er an der Kreuzung der 38th Street und Chicago Avenue in Minneapolis sitzt, wo sein Bruder George Floyd am 25. Mai 2020 starb. Terrence Floyd hat sich für ein Ende der gewalttätigen Proteste ausgesprochen, die das Land erschüttern, und sagte, dass sie „meinen Bruder nicht zurückbringen werden“.
Eine Demonstrantin hält ein Schild vor dem Weißen Haus hoch, wo sich nach dem Tod von George Floyd Hunderte Menschen versammelt hatten. Am Montag, dem 1. Juni, schoss die Polizei Tränengas auf friedliche Demonstranten und räumte mit Blendgranaten den Weg durch den Lafayette Square frei, damit Präsident Donald Trump vom Weißen Haus zur St. John's Church gehen konnte, wo er mit einer Bibel in der Hand für Fotos posierte.
„Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen“, schrieb Lee Pelton, ein landesweit bekannter Sprecher für geisteswissenschaftliche Bildung und Diversität. „Stattdessen habe ich mir wie eine Motte, die vom Licht angezogen wird, die ganze Nacht wieder und wieder das Video angesehen, in dem George Floyd von einem Weißen Polizisten der Minneapolis Police ermordet wird. Es war ein legalisierter Lynchmord.“
Selbst während das Land im Rahmen der Pandemiebekämpfung eine beispiellose gemeinsame Anstrengung unternahm, „konnte das nicht verhindern, dass ein Schwarzer Mann in aller Öffentlichkeit ermordet wird“. Pelton schrieb, dass ihn die „Gefühllosigkeit und die beiläufige Entmenschlichung“ von Floyd, dem der Polizist sein Knie ganz lässig auf den Hals drückte, besonders getroffen hat.
Ein Gerichtsmediziner der Stadt Minneapolis stufte Floyds Tod als Mord ein und erklärte, dass sein Herz zu schlagen aufhörte, weil der Polizist ihm den Hals zudrückte. Der fragliche Polizist, Derek Chauvin, wurde später entlassen und wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz angeklagt. Die drei anderen Beamten, die das Geschehen beobachtet hatten, wurden ebenfalls entlassen. Ihre Anklage lautet Beihilfe zur Tat.
„Für diesen Polizeibeamten war [Floyd] unsichtbar – der unsichtbare Mann, den Ralph Ellison in seinem gleichnamigen Roman beschreibt“, schrieb Pelton, der seine akademische Laufbahn als Professor für englische und amerikanische Literatur begann. „Schwarze Amerikaner sind für die meisten Weißen Amerikaner unsichtbar. Wir leben in den Schatten.“
Überall Entmenschlichung
Diese „Entmenschlichung“ Schwarzer Menschen sei ein verbindendes Element der jüngsten Vorfälle, sagen Historiker. Sie ist der gemeinsame Nenner bei den frühzeitigen Toden von Floyd, Taylor und Arbery. Dieser Waffe bediente sich auch eine Frau, die einem Mann im Central Park mit der Polizei drohte.
In derselben Woche, in der Floyd ermordet wurde, ging der Harvard-Absolvent und Mitglied der New York City Audubon Society, Christian Cooper, in den Central Park, um Vögel zu beobachten. Dort begegnete er einer Weißen Frau, die ihren unangeleinten Hund ausführte.
Im Legacy Museum and Memorial der Equal Justice Initiative in Montgomery, Alabama, werden mehr als 800 Krüge mit Erde von Lynchplätzen aus dem ganzen Land ausgestellt. Das Museum befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen Lagerhauses, in dem Schwarze versklavt wurden. Die Ausstellung widmet sich der Geschichte der rassistischen Lynchmorde mit all ihren Schrecken. „Die Erde in diesen Krügen steht stellvertretend für das Leben unzähliger Amerikaner, die nie ein ordentliches Begräbnis hatten, die unsagbar gewaltsame Tode starben wegen ‚schwerer Vergehen‘, wie zum Beispiel, dass sie mit einem Weißen Mann gestritten hatten“, kann man im Museum lesen.
Er bat die Frau, Amy Cooper, ihren Hund anzuleinen – beide befanden sich in einem Bereich des Parks, in dem Leinenpflicht herrscht. Sie weigerte sich allerdings. Daraufhin begann Cooper damit, ihre Begegnung zu filmen. Sie warnte ihn, dass sie die Polizei anrufen und sagen würde, dass sie von einem „afroamerikanischen Mann bedroht“ würde. Cooper filmte die Situation ruhig weiter und erklärte der Washington Post später, „ich werde mich nicht an meiner eigenen Entmenschlichung beteiligen“.
„Es spielt keine Rolle, was wir tun – ob wir Vögel beobachten, am Straßenrand Wasser verkaufen oder als Nachrichtenreporter unterwegs sind. Unsere bloße Anwesenheit bedeutet eine Bedrohung, weil mit dem Schwarzsein gewisse Bedeutungen verbunden sind – gefährlich, unrein, unmenschlich, kriminell“, erklärt Coleman.
Das Verbrechen bestünde laut ihm schon darin, „als Schwarzer zu atmen“. „Und das geht zurück auf die Geschichte des Landes. So viele Schwarze wurden allein deshalb gelyncht, weil sie Schwarz sind. Das gibt Weißen Macht, weshalb die Frau – Amy – auch genau wusste, welche Rolle sie zu spielen hatte: Die Weiße Frau in Not, die vom großen, bösen, Schwarzen Wolf bedroht wird. ‚Ich werde die Cops rufen und ihnen sagen, dass mich ein afroamerikanischer Mann bedroht.‘ Sie kannte das Skript.“
Nicht nur gelyncht, sondern gefoltert
2018 eröffnete die Equal Justice Initiative in Alabama das National Memorial for Peace and Justice – das erste Denkmal des Landes, das den Opfern von Lynchmorden gedenkt. Es besteht aus 801 1,80 Meter hohen Blöcken aus gerostetem Stahl – einer für jedes County, in dem ein Lynchmord stattgefunden hat. Die Namen der Opfer sind auf den rostigen Säulen eingraviert, die an Balken hängen – genau wie die Leichen der Schwarzen Männer, Frauen und Kinder, die Billie Holliday in einem berühmten Protestlied gegen Lynchmorde mit „seltsamen Früchten“ („strange fruits“) verglich.
Lynchmorde waren eine brutale Form der außergerichtlichen Tötung, die in den gesamten USA stattfanden – auch in den drei Bundesstaaten, in denen Floyd, Taylor und Arbery umkamen. Viele der Opfer wurden nicht „einfach nur“ gehängt, sondern oft auch gefoltert. Die Mobs aus Weißen schnitten Schwarzen Männern die Genitalien, Finger oder Zehen ab, häuteten sie oder verbrannten sie bei lebendigem Leib. Auch Schwarze Frauen und Kinder blieben nicht verschont. Historischen Aufzeichnungen zufolge schnitten die Mobs mitunter schwangeren Schwarzen Frauen den Bauch auf und töteten ihre ungeborenen Kinder.
Die Leiche des 32-jährigen Rubin Stacy hängt am 19. Juli 1935 an einem Baum in Fort Lauderdale, Florida. Nachdem Stacy beschuldigt worden war, eine Weiße Frau „angegriffen“ zu haben, wurde er von einem Mob maskierter Männer aus dem Polizeigewahrsam entführt und gelyncht. Einem NAACP-Bericht zufolge wurde Stacy in der Nähe des Hauses von Marion Jones gehängt – der Frau, die ursprüngliche Beschwerde gegen ihn eingereicht hatte. Die New York Times schrieb, dass „eine spätere Untersuchung ergab, dass Stacy, ein obdachloser Pächter, zu dem Haus gegangen war, um nach Essen zu fragen. Die Frau erschrak und schrie, als sie Stacys Gesicht sah.“
Fotos vom Lynchmord an Rubin Stacy gingen durch das ganze Land. Sie wurden in einer Zeitschrift der NAACP und dann im Life Magazine veröffentlicht. Das Bild war auch Teil eines Berichts gegen Lynchmorde, der an Präsident Franklin Roosevelt geschickt wurde. Die NAACP hatte gehofft, dass Roosevelts Wahl 1932 den Tausenden von Lynchmorden ein Ende setzen würde. Aber Roosevelt weigerte sich, eine Gesetzgebung gegen Lynchmorde zu unterstützen.
Im Jahr 1918 fiel die 21-jährige Mary Turner, im achten Monat schwanger, im Süden Georgias einem Weißen Lynchmob zum Opfer, berichtet die National Association for the Advancement of Colored People. Walter White, der der NAACP von 1929 bis 1955 vorstand, sollte den Fall untersuchen. Zwischen 1880 und 1968 wurden laut einer Studie des Tuskegee Institute allein in Georgia 637 Lynchmorde verzeichnet.
„Der gewalttätige Plantagenbesitzer Hampton Smith wurde erschossen“, heißt es im Bericht der NAACP. „Eine Woche lang suchte man nach dem Täter und tötete schließlich Mary Turners Ehemann, Hayes Turner. Mary bestritt, dass ihr Ehemann irgendwas mit dem Mord an Smith zu tun hatte, und drohte, die Mitglieder des Mobs verhaften zu lassen.“
Am nächsten Tag holte der Mob Mary Turner. „Sie legten ihr Fesseln an die Fußgelenke und banden sie kopfüber an einen Baum, übergossen sie mit Benzin und Motorenöl und zündeten sie an“, berichtet die NAACP. „Turner hat noch gelebt, als ein Mitglied des Mobs ihr den Unterleib mit einem Messer aufschnitt und ihr ungeborenes Kind zu Boden fiel. Das Baby wurde zertrampelt. Turners Leichnam war mit Hunderten von Kugeln durchsetzt.“
Viele der Schwarzen Opfer solcher Lynchmorde waren nie offiziell wegen irgendeines Verbrechens angeklagt worden. Sie wurden einfach gelyncht, weil sie einen Weißen Menschen auf eine Art und Weise angesprochen hatten, die als unangemessen empfunden wurde. Andere wurden getötet, weil sie eine Weiße Frau angerempelt, einem Weißen direkt in die Augen gesehen oder aus dem Brunnen einer Weißen Familie getrunken hatten.
„Diesem Land steckt ein tief verwurzelter Hass in den Knochen, der die Tötung der Schwarzen Bevölkerung befürwortet“, sagt die Historikerin, Dichterin und Autorin CeLillianne Green.
Die USA wurden auf dem Konzept der Überlegenheit der Weißen gebaut, so Green. 40 der 56 Gründerväter, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten, sowie 10 der 12 ersten Präsidenten waren Sklavenhalter. Die Konstitution der USA erkannte Schwarze nicht als vollwertige Menschen an und zählte Sklaven als drei Fünftel einer freien Person.
Weiße Hilfssheriffs & Henker
Die Ansicht, dass Schwarze Weißen „unterlegen“ seien, ist laut Historikern einer der Faktoren hinter dem heutigen Rassismus und der Unterdrückung. Zur Geschichte der USA gehören auch Sklavengesetze, die den Besitzern die vollständige Kontrolle über das Leben von Schwarzen gaben. In manchen Staaten durften sich Schwarze nicht in Gruppen zusammenfinden, ihre eigenen Nahrungsmittel besitzen oder lesen lernen.
Die sogenannten Black Codes und die Jim Crow-Gesetze regelten die Bewegungsfreiheit von Schwarzen bei Nacht. Einige Weiße Städte erließen Sonnenuntergangsgesetze, laut denen Schwarze die Stadt vor Sonnenuntergang verlassen mussten. Viele wurden gelyncht, weil sie gegen diese Auflagen „verstießen“.
In Georgia mussten Plantagenbesitzer und deren Weiße Angestellte im 18. Jahrhundert in der Miliz dienen, welche die Sklavereigesetze durchsetzte, erklärt die American Civil Liberties Union. In der Geschichte der USA wurden „Weiße Menschen immer wieder zu Hilfssherrifs ernannt, um Schwarze zu töten“, sagt Green. „In Georgia waren Vater und Sohn wie Sklavenfänger unterwegs.“
Die folgende Szene erinnert an jene Gewalt, die sich zu oft ereignete, wenn versklavte Schwarze ohne ihren Pass unterwegs waren, den sie laut den Black Codes stets bei sich tragen mussten.
Ein 30-minütiges Handyvideo hielt den gewaltsamen Tod von Arbery am 23. Februar 2020 fest. Es zeigt, wie er auf einer Straße nach Hause joggt, während ihm zwei Männer auflauern. Sie wurden später als Gregory McMichael, 64, und sein Sohn Travis McMichael, 34, identifiziert.
Arbery versucht sie abzuwehren, ehe sie dreimal auf ihn schießen. Er will fliehen, bricht dann aber tot auf der Straße zusammen. Es hat zwei Monate gedauert, bis die beiden Täter verhaftet wurden.
Die Ermordung Arberys existiert nicht in einem Vakuum, sagt Coleman. Sie entspringt einer Geschichte der „Entmenschlichung“ Schwarzer Menschen. „All diese Vorfälle zeichnet eine gemeinsame Furcht vor dem Schwarzsein aus.“
Diese Entmenschlichung wurde 1857 legalisiert, als der Oberste Gerichtshof im Fall Dred Scott gegen Sandford beschloss, dass Schwarze Amerikaner – ob nun frei oder versklavt – nicht als amerikanische Bürger gelten und nicht vor dem Bundesgerichtshof klagen dürfen. Das bedeutete, dass Schwarze vom Gesetz nicht geschützt wurden „und es Schwarzen nicht erlaubt war, sich zu verteidigen“, so Coleman.
Dieses Prinzip kam auch bei der Ermordung Taylors zum Tragen, sagt Coleman. Die Polizisten in Zivil brachen mitten in der Nacht die Tür zu ihrem Haus auf, weshalb Taylors Freund auf sie schoss. „[Die Polizisten] haben nicht nur achtmal auf sie geschossen“, sagt sie. „Weil ihr Freund nicht verstand, was da passierte, und versuchte, sein Zuhause zu verteidigen, haben sie ihn wegen versuchten Mordes an einem Polizisten festgenommen – weil Schwarze sich gar nicht verteidigen sollen. Das ist für Schwarze vom ersten Tag ihres Lebens an Realität.“
Tödliche Anschuldigungen
Als die landesweiten Proteste ausbrachen, trendete auf Twitter auch der Hashtag #AmyCooperIsARacist („Amy Cooper ist eine Rassistin“). Der Vorfall erinnerte viele an die Gefahr, der Schwarze Männer durch die Anschuldigungen Weißer Frauen ausgesetzt sind. Mit dieser Problematik hatte sich die Journalistin Ida B. Wells eingehend befasst. 2020 gewann sie posthum einen Pulitzerpreis für ihre furchtlose Berichterstattung über die Gewalt gegen Schwarze während der Ära der Lynchmorde.
Wells kam zu dem Schluss, dass viele Schwarze Männer aufgrund von falschen Anschuldigungen Weißer Frauen gelyncht wurden. In einem mittlerweile berühmten Leitartikel, der am 21. Mai 1892 in ihrer Zeitung Memphis Free Speech erschien, schrieb Wells: „Niemand in diesem Teil des Landes glaubt an das abgedroschene alte Märchen, das Schwarze Männer Weiße Frauen vergewaltigen. Wenn die Südstaatenmänner nicht aufpassen, könnte man zu einer Schlussfolgerung kommen, die für den moralischen Ruf ihrer Frauen sehr schädlich wäre.“
Mamie Till-Mobley weint auf der Beerdigung ihres Sohnes am 6. September 1955 in Chicago. Emmett Till, ein 14-Jähriger, der Verwandte in Mississippi besuchte, wurde ermordet, nachdem er beschuldigt worden war, einer Weißen Frau namens Carolyn Bryant hinterhergepfiffen zu haben. Till wurde am 28. August 1955 in Money, Missouri, entführt, gefoltert und erschossen. Seine Leiche, die mit einem Ventilator beschwert worden war, wurde drei Tage später im Fluss Tallahatchie gefunden.
Seine Mutter bat um ein Begräbnis mit offenem Sarg und wollte, dass das Foto von Emmets entstelltem Gesicht im Jet Magazine veröffentlicht wird, damit die Welt den ganzen Schrecken der Lynchmorde im Süden der USA sehen kann. Fast 60 Jahre später offenbarte Carolyn Donham, die Emmett damals beschuldigte, dass sie gelogen hatte. Ihre Aussage ist im Buch „The Blood of Emmett Till“ von Timothy B. Tyson festgehalten, einem Professor an der Duke University.
Mordprozess Emmett Till : J.W. Milam (links) und sein Halbbruder Roy Bryant (rechts) wurden 1955 von der Anklage freigesprochen, sie hätten Emmett Louis Till ermordet. Der 14-jährigen Junge war beschuldigt worden, einer Weißen Frau hinterhergepfiffen zu haben. Eine ausschließlich Weiße Jury sprach die Angeklagten nach einstündiger Beratung frei. Die beiden gaben später in einem Interview zu, dass sie Till getötet hatten. Sie wurden nie für den grausamen Mord verurteilt. Der Fall trug zur Entstehung der Bürgerrechtsbewegung in den USA bei. 2018 gestand Carolyn Bryant – die Till beschuldigte hatte, ihr in einem Lebensmittelladen in Money, Missouri, hinterhergepfiffen zu haben –, dass sie gelogen hatte.
Amy Coopers Drohung gegenüber Christian erinnert an die falsche Anschuldigung einer Weißen Frau, die zum Mord an Emmett Till führte. Der 14-jährige Teenager aus Chicago wurde 1955 in der Stadt Money in Mississippi gelyncht.
Till wurde beschuldigt, einer Weißen Frau hinterhergepfiffen zu haben. Der Jugendliche wurde daraufhin aus dem Haus seines Onkels entführt, gefoltert und mit zahlreichen Kugeln durchlöchert. Man wickelte einen 30 Kilogramm schweren Ventilator mit Stacheldraht um den Hals des Jungen und versenkte ihn im Fluss Tallahatchie. Jahrzehnte später gestand die Frau, die ihn beschuldigt hatte, dass die Geschichte größtenteils erfunden war.
Eine ähnliche Anschuldigung wurde 1920 gegen drei Schwarze Zirkusarbeiter vorgebracht, die in Duluth im Bundesstaat Minnesota gelyncht wurden. Elias Clayton, Elmer Jackson und Isaac McGhie waren als Köche und Arbeiter mit dem John Robinson Circus in die Stadt gekommen.
„Sie waren am 14. Juni 1920 für einen Festumzug und eine Vorstellung in der Stadt“, erklärt die Minnesota Historical Society.
An jenem Abend gingen die 19-jährige Irene Tusken und ihr 18-jähriger Freund James Sullivan in den Zirkus. „Nach der Vorstellung verließen sie das große Zelt durch den Hinterausgang“, heißt es in der Beschreibung der MHS. „Niemand weiß genau, was als nächstes passierte. Aber am frühen Morgen des 15. Juni erhielt der Polizeichef von Duluth, John Murphy, einen Anruf von James Sullivans Vater. Er erzählte, dass sechs Schwarze Zirkusangestellte James und Irene mit einer Waffe bedroht und Irene Tusken vergewaltigt hätten.“ Eine medizinische Untersuchung konnte keine Beweise liefern, um die Anschuldigungen zu stützen.
Die Polizei nahm sechs Schwarze Männer fest. In den Zeitungsberichten zu dem Vorfall wurde auch von dem angeblichen Übergriff berichtet. Bis zum Abend hatte sich ein Weißer Mob „von schätzungsweise 1.000 bis 10.000“ Menschen versammelt und das Polizeirevier gestürmt. „Dort stießen sie auf wenig Widerstand von Seiten der Polizei, der befohlen worden war, ihre Waffen nicht einzusetzen“, erklärt die MHS. Nach einem Scheinprozess wurden Clayton, Jackson und McGhie für schuldig erklärt.
Die drei Männer wurden an einer Straßenlaterne gehängt. In einem Foto, das später auch als Postkartenmotiv diente, ist die grausige Szene zu sehen: Zwei der Männer hängen mit aufgerissenen Hemden an Seilen von der Laterne. Ein dritter liegt auf dem Boden. Eine Gruppe Weißer Männer steht im Halbkreis um die Leichen – einige von ihnen grinsen oder lächeln.
Der Duluth Herald berichtete über die Schrecken eines Lynchmords an drei Schwarzen Männern durch einen Weißen Mob am 15. Juni 1920 in Duluth, Minnesota. „WÜTENDER MOB ERMORDET DREI NEGROS AUS POLIZEISTATION DURCH AUFKNÜPFEN AN STRASSENLATERNE“, verkündet die Schlagzeile.
Kein Gericht, keine Gerechtigkeit
Genau wie Floyd, Taylor und Arbery wurden viele der Lynchopfer getötet, ohne dass sie eines Verbrechens angeklagt wurden, einen gerichtlichen Prozess hatten oder die Gelegenheit bekamen, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen.
Vor über 70 Jahren kam es im Bundesstaat Georgia zu den „Letzten Massenlynchmorden“, als ein Mob zwei Schwarze Männer und deren Ehefrauen angriff, die gerade auf dem Rückweg von der Kautionsverwaltung waren.
Am 25. Juli 1946 wurden George W. Dorsey, Mae Murray Dorsey, Roger Malcolm und Dorothy Malcolm in Walton County aus einem Auto gezerrt, wie es in Gerichtsakten heißt. Die beiden Ehepaare wurden brutal ausgepeitscht und gefoltert.
Zwei Wochen vor dem Angriff war Roger Malcolm verhaftet worden. Ihm wurde vorgeworfen, einen Weißen Farmer bei einer Auseinandersetzung erstochen zu haben, heißt es in einem Bericht der Equal Justice Initiative. Ein Weißer Grundbesitzer, für den die Malcolms und die Dorseys als Farmpächter arbeiteten, bot ihnen an, sie zum Gefängnis zu fahren, damit sie dort eine Kaution über 600 Dollar hinterlegen konnten. Aber auf dem Rückweg zur Farm hielt ein Mob aus 30 Weißen Männern das Auto an. Die vier Eheleute wurden an eine Eiche gebunden und starben in einem Kugelhagel. Dann schlug ihnen der Mob die Schädel ein und riss ihnen die Gliedmaßen ab.
Die Leichen ließ man in der Nähe der Ford-Brücke über dem Fluss Apalachee hängen – eine weitere grauenvolle Szene in der Landschaft des amerikanischen Rassismus.
„Sie starben ohne anwaltliche oder richterliche Hilfe, ohne alle verfassungsmäßigen Rechte und ohne einen Funken Gnade“, schrieb der Historiker Anthony Pitch, der dem Vorfall ein ganzes Buch widmete.
Die Nationale Gedenkstätte für Frieden und Gerechtigkeit, die am 26. April 2018 eröffnet wurde, ist dem schändlichen Vermächtnis der Sklaverei und den Opfern rassistischer Lynchmorde gewidmet. Die Gedenkstätte besteht aus mehr als 800 Monumente aus Cortenstahl – eines für jedes County in den USA, in dem es zu Lynchmorden kam. Auf jeder Säule ist der Name eines Mannes, einer Frau oder eines Kindes eingraviert, das gelyncht wurde. Laut der Equal Justice Initiative wurden zwischen 1877 und 1950 mehr als 4.400 Schwarze Männer, Frauen und Kinder „von Weißen Mobs gehängt, lebendig verbrannt, erschossen, ertränkt und zu Tode geprügelt“.
Ein Ende „solcher Übel“
Aber auch damals schon reagierten andere US-Amerikaner schockiert auf die Taten ihrer Mitbürger. Wenige Monate vor den Lynchmorden in Georgia hat ein anderer Vorfall für einen öffentlichen Aufschrei gesorgt. In der Stadt Batesburg in South Carolina war ein uniformierter Schwarzer Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg aus einem Bus gezerrt worden. Angeblich hat er dem Fahrer Widerworte gegeben. Ein Polizist schlug auf ihn ein, bis er das Bewusstsein verlor – der Vorfall kostete den Veteranen sein Augenlicht. Isaac Woodward war gerade erst ehrenhaft aus dem Dienst entlassen worden. Als der Präsident Harry S. Truman erfuhr, dass Schwarze Kriegsveteranen, die ihre Bürgerrechte einforderten, zur Antwort verprügelt wurden, erklärte er: „Ich werde dafür kämpfen, solchen Übeln ein Ende zu setzen.“
Der gewaltsame Tod der Malcolms und Dorseys war zwar der letzte bekannte Massenlynchmord in Georgia – aber trotz Trumans Versprechen ging das Lynchen im ganzen Land weiter.
Die Praktik stieß früher auf so breite Akzeptanz, dass sie sogar im Vorhinein beworben wurde. Zeitungen druckten nicht nur Artikel über solche Vorfälle ab, sondern auch das Datum, die Uhrzeit und den Ort der geplanten außergerichtlichen Exekutionen. Das erscheint heute fast undenkbar, aber Coleman sieht hässliche Ähnlichkeiten zu den heutigen Videos. „Früher fuhren Tausende von Menschen mit Zügen [zu den Lynchmorden]“, sagt sie. „Die Fotos davon druckte man dann auf Postkarten. Heute haben wir das Internet und die sozialen Medien. Ich sehe da keinen Unterschied. Es wird zu einer Pornografie des Mordens. Man sitzt da und sieht dabei zu, wie jemand in Echtzeit getötet wird.“
Nach der Abschaffung der Sklaverei durch die Emanzipationsproklamation folgte eine weitere Ära des Grauens, die darauf abzielte, die Schwarzen Bürger einer Weißen Autorität zu unterwerfen. „Wir hatten fast ein weiteres Jahrhundert der willkürlichen Gewalt gegenüber Schwarzen“, so Coleman, „weil die Vorherrschaft der Weißen Schwarze Menschen nicht als frei anerkennt. Und das alles passiert noch immer.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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