Granate des kleinen Mannes: Die Geschichte des Molotowcoktails

Der Krieg in der Ukraine lässt die Bevölkerung wie am Fließband Benzinbomben bauen – Zeit, dem Kampfmittel auf die Spur zu gehen. Wann wurde der Molotowcocktail erfunden und woher kommt sein Name?

Von James Stout
Veröffentlicht am 15. März 2022, 09:45 MEZ, Aktualisiert am 15. März 2022, 12:40 MEZ
Ein Mitglied der Sandinista wirft im Jahr 1979 einen Molotowcocktail auf das Hauptquartier der Nationalgarde in ...

Ein Mitglied der Sandinista wirft im Jahr 1979 einen Molotowcocktail auf das Hauptquartier der Nationalgarde in Esteli, Nicaragua. Die Aufnahme der Fotografin Susan Meiselas wurde unter dem Titel „Molotov Man“ berühmt.

Foto von Susan Meiselas, Magnum Photos

In der Stadt Lwiw im Westen der Ukraine basteln Studenten und Künstler ihre Molotowcocktails in einer Fabrikhalle, in der früher Raves stattfanden. In einem Vorort von Kiew zeigt eine Rentnerin einer CNN-Reporterin ihren Vorrat der selbstgebastelten Brandsätze und erklärt, wie sie auf Google die Bauanleitung gefunden hat. In Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, treffen sich Frauen sich im Freien, um die Benzinbomben herzustellen.

„Es scheint gerade keine wichtigere Aufgabe zu geben“, sagt eine von ihnen.

Überall im flächenmäßig größten Land Europas ist die Bevölkerung damit beschäftigt, Molotowcocktails in großen Mengen zu produzieren. Sie wollen vorbereitet sein, wenn die russischen Truppen in ihre Städte eindringen. Seit fast einem Jahrhundert ist der auch als Benzinbombe bekannte Wurfbrandsatz im Kampf David gegen Goliath die Waffe der Wahl: effektiver als Steine und fast ebenso leicht verfügbar. Alles, was man braucht, ist eine Glasflasche, ein Stofflappen und ein paar wenige entzündliche Zutaten.

Demonstranten entzünden im Jahr 2012 während des Arabischen Frühlings nahe des Tahir-Platzes einen Molotowcocktail, um damit Polizisten zu bewerfen.

Foto von Moises Saman, Magnum Photos

Zwei maskierte Männer fliegen im Jahr 1981 in Belfast, Nordirland, vor herannahenden Soldaten. Ein dritter holt zum Wurf mit einem letzten Molotowcocktail aus.

Foto von Ian Berry, Magnum Photos

Ein Mann bereitet im Mai 1968, während der Stundenproteste in Paris, Molotowcocktails vor.

Foto von Bruno Barbey, Magnum Photos

Russische Panzer sind schon seit Jahrzehnten Ziel von Molotowcocktails. Im Spanischen Bürgerkrieg waren die Rebellen des rechtsgerichteten Nationalistenlagers im Jahr 1937 die Ersten, die sie gegen die sowjetischen Kampffahrzeuge der Regierung der Zweiten Spanischen Republik einsetzten. Bei einem Vorfall gelang es ihnen, mit selbstgebastelten Brandsätzen neun Panzer außer Gefecht zu setzen. Die selbstgebauten Brandsätze waren so effektiv, dass sowohl die Armee der Republikaner als auch die internationalen Brigaden, die diese unterstützten, bald ihre eigenen Benzinbomben herstellten und sie gegen die Putschisten richteten.

Seinen Namen erhielt das bis dahin unbenannte Kampfmittel im Jahr 1939, als die Sowjetunion Finnland angriff. Damals dementierte Stalins Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, dass sowjetische Kampfflieger die Finnen bombardieren würden. Stattdessen behauptete er, sie brächten Brot. Die Finnen waren über diese dreiste Lüge so empört, dass sie die russischen Bomben „Molotows Brotkörbe“ tauften. Zu diesen wollten sie das passende Getränk anbieten: den Molotowcocktail. Staatseigene Alkoholfabriken stellten ihre Produktion von Wodka auf Benzinbomben um, die die finnischen Truppen sehr erfolgreich gegen sowjetische Panzer einsetzten. Der Name „Molotowcocktail“  war bald überall auf der Welt bekannt.

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    In der Ukraine sind Molotowcocktails auch früher schon zum Einsatz gekommen: Diese Bilder zeigen Brandflaschen, die während der Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew im Jahr 2014 gebaut wurden.

    Foto von Donald Weber

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    Foto von Donald Weber

    In der Ukraine sind Molotowcocktails auch früher schon zum Einsatz gekommen: Diese Bilder zeigen Brandflaschen, die während der Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew im Jahr 2014 gebaut wurden.

    Foto von Donald Weber

    In der Ukraine sind Molotowcocktails auch früher schon zum Einsatz gekommen: Diese Bilder zeigen Brandflaschen, die während der Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew im Jahr 2014 gebaut wurden.

    Foto von Donald Weber

    Im Zweiten Weltkrieg rüsteten sich die Briten mit Molotowcocktails gegen eine befürchtete Invasion der Nationalsozialisten. Tom Wintringham, ein Veteran der internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg, veröffentlichte im Jahr 1940 in der  britischen Zeitschrift Picture Post eine Bauanleitung für die Wurfbrandsätze und erklärte den Lesern, wie genau sie einzusetzen seien.

    „Warten Sie, bis der Panzer nah genug ist. Ihr Kamerad entzündet dann die benzingetränkte Ecke des Lappens. Sobald diese brennt, werfen Sie Flasche und Lappen. Zielen Sie so, dass der Brandsatz vor dem Panzer landet. Der Lappen sollte sich in der Kette oder der Laufrolle verfangen. Wenn die Flasche zerbricht, sollte der Lappen stark genug mit Benzin durchtränkt sein, um ein starkes Feuer zu entfachen, das die Gummiräder verbrennt, auf denen die Panzerkette läuft, den Vergaser in Brand setzt oder die Besatzung orientierungslos macht.“

    „Die Dinger sind kein Spielzeug“, schreibt er abschließend. „Sie sind extrem gefährlich.“

    Demonstranten werfen während der Proteste auf dem Maidan in Kiew im Jahr 2014 Molotowcocktails auf Polizisten.

    Foto von Jerome Sessini, Magnum Photos

    Im Auftrag der Regierung wurde der britischen Heimwehr – Männer, die zu alt waren, um in der Armee zu dienen – beigebracht, wie die „Cocktails à la Molotow“ anzuwenden sind. Ein Trainingsvideo zeigte Freiwilligen, wie man Barrikaden baut, die die Panzer der Nationalsozialisten aufhalten sollten, sodass sie mit Benzinbomben beworfen werden konnten.

    Außerdem wurde in Großbritannien die „Brandgranate Nummer 76“ hergestellt. Bei dieser handelte es sich um einen Molotowcocktail, in dem Gummi gelöst war, das den Brandstoff klebrig machte. Durch die Beimischung von weißem Phosphor war die Granate selbstentzündlich, sodass kein Lappen mehr nötig war. Sie wurde in einer Stückzahl von etwa sechs Millionen produziert und überall im Land vorrätig gehalten. Die Bevölkerung sollte schnell darauf zugreifen können, um sich im Fall einer Besetzung gegen die Angreifer zu wehren – ganz so, wie es die Menschen in der Ukraine heute tun. Noch im Jahr 2018 stieß man bei Bauarbeiten auf bisher unentdeckte Bestände.

    In Belfast, Nordirland, werden im Jahr 1981 im Vorfeld eines Marschs zur Unterstützung von Bobby Sands – einem im Hungerstreik befindlichen Mitglied der Irish Republican Army (IRA) – Molotowcocktails vorbereitet.

    Foto von Peter Marlow, Magnum Photos

    Als die Menschen in Ungarn sich im Jahr 1956 gegen die Kontrolle der Sowjetunion wehrten, taten sie dies mit Molotowcocktails: Bevor ihr Aufstand niedergeschlagen werden konnte, gingen um die 400 sowjetische Panzer in Flammen auf.

    Seitdem kommen die Benzinbomben überall auf der Welt regelmäßig bei Protesten und bewaffneten Konflikten zum Einsatz: In den Sechzigerjahren, während des Prager Frühlings, wehrten sich Tschechoslowaken mit ihnen gegen die Truppen des Warschauer Pakts. Zur selben Zeit bewarfen protestierende Studenten in Paris die Polizei mit selbstgebastelten Molotowcocktails. Palästinenser setzten sie gegen israelische Soldaten ein, Sandinistas gegen die nicaraguanische Nationalgarde. Sie waren Kampfmittel der Shah-Gegner während der Islamischen Revolution in den Siebzigerjahren und auch die Demonstranten in Hong Kong greifen auf sie zurück.

    Immer dann, wenn Menschen das Gefühl haben, einem übermächtigen Gegner gegenüberzustehen, schlägt die Stunde des Molotowcocktails. Das gilt auch für die aktuelle Situation in der Ukraine. Der Kreml behauptete, russische Truppen würden in dem Land mit offenen Armen empfangen werden. Stattdessen, so Olena Selenska, die Ehefrau des ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenskyj, „verscheuchen wir sie mit Molotowcoktails“.

    Selbst bei Regen waren Molotowcocktails die Waffe der Wahl während der Unruhen in Nordirland – hier zu sehen auf einem Bild, das im Jahr 1985 in Belfast entstand.

    Foto von Stuart Franklin, Magnum Photos
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