Wie aus Furcht Märchen wurden: Der deutsche Wald und seine Fabelwesen

Der Märchenwald ist deutsches Kulturgut. Seit Jahrhunderten beflügelt er die Fantasie der Menschen – vom urtümlichen Volksglauben über das Mittelalter bis zu den Märchensammlungen der Neuzeit.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 21. Apr. 2022, 15:08 MESZ
Zeichnung von Hänsen und Gretel, auf der sie zusammen auf einem Waldweg durch den dunklen Wald ...

Das Märchen Hänsel und Gretel erschien im Jahr 1812 in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm und ist heute eines der bekanntesten in Deutschland. In ihm werden die beiden Geschwister von ihren verarmten Eltern im Wald ausgesetzt und treffen dort auf eine böse Hexe.

Foto von Wikicommons/Public Domain

Selbst in unserer modernen Welt, in der es kaum noch unberührte Natur gibt, in der man sich verlaufen könnte, und in der wir uns dank wissenschaftlicher Forschung vieles erklären können, ist der wilde Wald ein geheimnisvoller Ort. Den Grund dafür findet man auch in den Geschichten, mit denen wir groß werden: Dem deutschen Volkskundler Albrecht Lehmann zufolge, der sich in seiner Studie Von Menschen und Bäumen mit der Beziehung der Deutschen zu ihren Wäldern auseinandergesetzt hat, ist das Waldbewusstsein der Erwachsenen bis heute von Kindheitsnarrativen wie Märchen und Sagen geprägt. Diese stammen aus lange vergangenen, vorindustriellen Zeiten – erdacht, erzählt und weitergegeben von Menschen, die nicht über unser heutiges Wissen und gut ausgeschilderte Wanderwege unter Bäumen verfügten.

“Dass Walderzählungen archetypische Angstgefühle zugrunde liegen, zeigt sich in den kollektiven Geschichten ganz deutlich.”

von Dr. Sabine Wienker-Piepho
Dr. Sabine Wienker-Piepho

Faszination und Grauen

Die Hochphase der Märchen und Märchensammlungen – darunter die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm – war während der Romantik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Laut dem deutschen Germanisten Prof. Dr. Heinz Rölleke wurde aber bereits in den volkstümlichen Erzählungen des Mittelalters der Begriff des „wilden Walds“ geprägt – einem unheimlichen Ort der Faszination und des Grauens, der die Grundlage für die enge Verbindung zwischen realem Wald und Märchen bildete. Die Alliteration taucht in Grimms Märchen an verschiedenen Stellen auf, etwa in Mädchen ohne Hände („Sie kam in einen großen wilden Wald“) oder in Die zwölf Brüder („ich will in den wilden Wald laufen“).

„Zur Zeit des Ursprungs der Märchen und ihrer frühen Tradition wurden die Landschaften noch weitgehend von Urwäldern beherrscht“, schreibt der Erzählforscher in einem Artikel, der in dem Kulturmagazin Musenblätter erschienen ist. Ihm zufolge lag das damalige Verhältnis von bewohnten und bebauten Flächen zu Urwäldern ungefähr bei zehn zu 90. „Diese kaum von Menschen betretenen, geschweige denn urbar gemachten riesigen Flächen empfand man als bedrohlich.“

Die Furcht vor dem großen Unbekannten war nicht unbegründet: Tatsächlich liefen Jäger, Köhler oder Holzfäller beim Betreten der dunklen Tiefen des Walds immer Gefahr, sich zu verlaufen und in ihm durch Verhungern, Verdursten oder Verletzungen den Tod zu finden. Laut Dr. Sabine Wienker-Piepho, Professorin für Volkskunde und Vorsitzende der Kommission für Erzählforschung, gibt es zwar auch seltene Gegenbeispiele – wie die Märchen Allerleirauh oder Schneewittchen –, in denen der Wald als Zufluchtsort fungiert, doch „mehrheitlich ist der Wald gefährlich“, erklärt sie. „Dass Walderzählungen archetypische Angstgefühle zugrunde liegen, zeigt sich in den kollektiven Geschichten ganz deutlich.“

BELIEBT

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    Mit dem Beginn der Romantik am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der deutsche Wald zum Sehnsuchtsort und Symbol für eine mystische, träumerische Welt. Das ist auch auf dem Gemälde des Malers Carl Friedrich Lessing mit dem Titel „Die tausendjährige Eiche" aus dem Jahr 1837 zu erkennen. Die Epoche war auch die Hochzeit der Märchensammlungen.

    Foto von Carl Friedrich Lessing (1808-1880)

    In etwa der Hälfte der rund 200 Grimm’schen Märchen und vielen anderen deutschen Sagen und Erzählungen spielt der Wald eine Rolle – laut Wiencker-Peipho meist in solchen, in denen es um Gefahrenbewältigung und Bewährungsproben aller Art geht: Gretel rettet ihren Bruder Hänsel vor der Hexe, das tapfere Schneiderlein überlistet im Wald zwei Riesen, die Bremer Stadtmusikanten verjagen eine Räuberbande. „Der Wald gehört zu den Märchenschauplätzen, auf denen der Märchenheld in der Isolation fern seiner Familie oder der vertrauten Zivilisation agiert“, sagt Heinz Rölleke. Dabei durchläuft die Hauptfigur oft eine wichtige persönliche Wandlung und verlässt den Wald als veränderter Mensch.

    Das Numinose: Vom Christentum verteufelt

    Die Gefahr geht in der historischen Sagenwelt jedoch nicht nur vom wilden Wald selbst, sondern vor allem auch von dem aus, was in ihm lebt. „Im Märchen ist der Wald nicht nur ein Gebiet der Gefährdung, sondern auch der bevorzugte Ort für Begegnungen mit numinosen Mächten jeglicher Art“, erklärt Heinz Rölleke. Das Numinose – ein Begriff, der auf den deutschen Religionswissenschaftler Rudolf Otto zurückgeht – bezeichnet eine geheimnisvolle, übernatürliche Wirkkraft von teilweise unbestimmter Gestalt, die religiöse Menschen erschreckt oder fasziniert. Im Grimm’schen Märchen Der Soldat und der Schreiner weigert sich Letzterer aus Angst vor den Kreaturen im Wald, diesen zu betreten: „Ich geh' nicht hinein, darin springen Hexen und Gespenster herum“.

    Der Glaube, dass im Wald schreckliche Kreaturen lauern, hat sich jedoch erst in der Spätantike und dem Frühmittelalter entwickelt. Zuvor waren die Wälder in der Religionsvorstellung der Germanen heilige Haine, in denen Götter lebten, die den Menschen freundlich gesinnt waren. Erst im Zuge der Christianisierung seien diese Göttergestalten dämonisiert oder gar verteufelt worden, so Heinz Rölleke. So erkläre sich auch, dass die Bewohner des Waldes in späteren Volkserzählungen meist als zwielichtige, unheimliche Gestalten beschrieben wurden.

    Die Figur des Zwergs etwa wurde im Hochmittelalter trotz seiner menschlichen Gestalt unter dem Einfluss des Christentums zunehmend dämonisiert. Im 11. Jahrhundert entwickelte sich der Aberglaube, Zwerge würden menschliche Säuglinge stehlen und diese gegen eigene Nachkommen – sogenannte Wechselbälger – austauschen. Dasselbe wurde Elfen unterstellt, die in mittelalterlichen Erzählungen ebenfalls als Dämonen betrachtet wurden. Ihnen wurde außerdem nachgesagt, dass sie Krankheiten und schlechte Träume bringen würden.

    Auch die Waldleute – Naturgeister mit direktem oder indirektem Bezug zum Wald – durchliefen in der Wahrnehmung der Menschen diese Entwicklung. Sie wurden im Zuge der Christianisierung zu Teufeln dämonisiert, obwohl es sich bei ihnen dem Volksglauben nach um den Menschen wohlgesonnene Wesen handelt. Je nach Region tragen sie unterschiedliche Namen: In den Wäldern Bayerns und Frankens sind zum Beispiel die Holz- und Moosleute zu Hause. Ähnlich wie Zwerge sind sie klein und von menschlicher Gestalt. In Erzählungen tragen sie Kleidung aus Leinen oder Moos, häufig sind sie aber auch unbekleidet und stark behaart. Sie leben in Familien unter Baumwurzeln und in hohlen Bäumen, die Frauen können Krankheiten voraussagen und diese mithilfe von Kräutern heilen.

    Aufhocker, Baumgeister, Hexen

    Dem Volksglauben nach muss man vor allem den männlichen Waldbewohnern mit Vorsicht begegnen. Wäldmänner, darunter auch Schrate und Waldriesen, sollen Wanderer in die Irre führen können und ihnen Streiche spielen. Menschenfrauen lauern sie auf, um sie zu verführen oder zu vergewaltigen. 

    Die sogenannten Holzleute – menschenähnliche kleine Wesen, die im Wald unter Baumwurzeln und in hohlen Bäumen lebten – waren Menschen gegenüber wohlgesonnen so lang man sie nicht verspottete. Diese Illustration aus einer Handschrift aus dem späten 16. Jahrhundert zeigt einen Holzmann und eine Holzfrau mit ihren Kindern.

    Foto von Germanisches Nationalmuseum Nürnberg

    Ein weiteres gefährliches Waldwesen ist der sogenannte Aufhocker, ein koboldartiger Druckgeist, der nächtlichen Wanderern auf den Rücken springt und ein beklemmendes Gefühl auslöst. Die Begegnung mit dem Aufhocker kann körperliche und seelische Krankheiten – manchmal auch den Tod – zur Folge haben. Seinen Ursprung hat die Figur des Auflockers vermutlich in der Furcht vor Untoten, den sogenannten Wiedergängern. In den Wäldern des ehemaligen Königreichs Böhmen trieb der Sage nach zum Beispiel der riesige Aufhockgeist Heemann sein Unwesen, benannt nach dem Ruf „He! He!“, mit dem er auf sich aufmerksam machte. Wer ihm antwortete, den tötete er. Vom Aufhocker erlösen konnte erst das Licht des anbrechenden Tages, ein Gebet, Glockenläuten – oder aber die Sicherheit des eigenen Heims. Laut Sabine Wienker-Piepho wird im Volksglauben beim Betreten des Hauses eine magische Schwelle überschritten, die jeden Zauber bricht. „Im Wald muss man den Aufhock tragen“, sagt sie, „übertritt man die Schwelle, springt er von allein ab.“

    Die Liste numinoser Wesen, die in urtümlichen Erzählungen und Märchen den Wald bevölkern, ist lang: Perchten, Holde und Unholde, Baumgeister, Riesen, Dämonen wie das Rumpelstilzchen und natürlich Hexen. Aber auch Tiere mit Fähigkeiten, die sie eigentlich nicht haben dürften, kommen immer wieder vor. So sind im Märchenwald beispielsweise Frösche und Wölfe plötzlich der menschlichen Sprache mächtig – laut Heinz Rölleke eines der häufigsten Märchenwunder. Die sozialhistorische Interpretation, also die Ermittlung des Ursprungs dieser teilweise bedrohlichen Kreaturen, ist laut Wienker-Piepho eine der reizvollsten Aufgaben der Geisteswissenschaften. „Die rätselhafte Anonymität der jahrtausendealten mündlichen Überlieferungen bleibt ein Dauer-Faszinosum: Wer hat sich das ausgedacht, und warum?“, sagt sie.

    Der Wald – ein mystischer Ort

    Die meisten Erzählungen, die sich um den Wald ranken, stammen aus lang vergangenen Zeiten, die mit unserer heutigen Lebensrealität kaum noch Berührungspunkte haben. Dennoch sind sie im Kopf jedes modernen Waldspaziergängers präsent. Vielleicht liegt hierin der Grund dafür, dass die Aura der Faszination und des Grauens, die den Wald umgibt, auch heute noch fast ungebrochen fortbesteht. „Die mythische Qualität des Waldes entwickelt sich immer wieder neu“, sagt Sabine Wienker-Piepho.

    Er bleibt ein magischer Ort der Märchen.

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