Märchenhaftes Siebengebirge: Wie Schneewittchen hinter die sieben Berge kam

Im deutschen Siebengebirge soll eine Freifrau gelebt haben, deren Lebensgeschichte das Schneewittchen-Märchen erzählt. Was passierte wirklich hinter den sieben Bergen?

Von Anna-Kathrin Hentsch
Veröffentlicht am 5. Okt. 2020, 10:41 MESZ
Sagenhaftes Siebengebirge: Um die bewaldeten Hügel am Rhein ranken sich viele Legenden und Sagen.

Sagenhaftes Siebengebirge: Um die bewaldeten Hügel am Rhein ranken sich viele Legenden und Sagen.

Foto von majonit, Stock.adobe.com

„Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen“ - kaum eine Formel aus unserer Kindheit hat sich so in unser Gedächtnis geschrieben, wie diese aus dem Märchen Schneewittchen. Bilder von dunklen Wäldern, zipfelmützigen Zwergenfreunden, bösen Hexen und Stiefmüttern erscheinen vor dem inneren Auge, allesamt phantastische Einschreibungen in unser kindliches Gedächtnis. Kaum ein Herangewachsener kennt die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen (KHM) nicht: Die berühmte Sammlung aufgezeichneter, volkstümlicher Geschichten der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm entstand Anfang des 19. Jahrhunderts und ist heute Kulturgut. In Form von Literatur, als Zeichentrick- oder Realverfilmung sind die bekanntesten Märchen Teil der Allgemeinbildung.

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Sieben Berge im Siebengebirge

Ein geographischer Blick auf die Schneewittchen-Formel „Hinter den sieben Bergen“ legt eine Verortung des Märchengeschehens in das deutsche Siebengebirge nahe. Rechtsrheinisch erstreckt sich das Mittelgebirge über circa 15 Kilometer. Eine bewaldete Hügellandschaft mit mehr als 40 Gipfeln, deren sieben große Anhöhen märchenhafte Namen wie Löwenburg, Drachenfels und Wolkenburg tragen. Hat also im Siebengebirge ein reales Schneewittchen gelebt, deren Lebensgeschichte von den Gebrüdern Grimm aufgezeichnet wurde, so dass wir Schneewittchen als deutsches Märchen lesen können?

Für Ulrike Kindl, Volkskundlerin und Professorin an der Universität Ca´ Foscari in Venedig, ist Schneewittchen ganz klar kein deutsches Märchen: „Märchen und Sagen sind nie national. Dem Märchen ist die Idee eines nationalen Schreibens völlig fremd. Denn Märchen sind ubiquitäre Konstrukte, also Sequenzen die in jeder Sprache, in jedem Land, in jeder Zeit neu an die Gegebenheiten einer Erzählgemeinschaft oikotypisiert, also angepasst, wurden.“

Schneewittchen heißt eigentlich ATU 709

Erzählforscher nennen die Schneewittchen-Sequenz ATU 709, nach dem internationalen Motivindex von Aarne-Thompson-Uther, der Märchen und Schwankgruppen anhand ihrer verarbeiteten Motive klassifiziert. „Diese ATU Sequenzen sind ungefähr 900 Konstellationen mit einer Nummer, unter der alle Varianten einsortiert werden, die man weltweit findet“, erklärt Prof. Kindl. „Denn man hat festgestellt, dass diese 900 Erzählsequenzen immer wieder vorkommen.“ Unter der Rubrik „Zaubermärchen“ im Unterpunkt „Andere übernatürliche Geschehnisse“ findet sich das KHM 53 - das dreiundfünfzigste Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm: „Schneewittchen“. Der Untergattung Zaubermärchen ist gemein, dass durch magische Handlungen die Wirklichkeit beeinflusst wird. Die Handlungsreihe beginnt mit einem Mangel oder Wunsch, der durch Zauberei beseitigt bzw. erfüllt wird. Der Verzauberung folgt die Erlösung.

Das deutsche Schneewittchen

In die deutsche Erzählgemeinschaft kam die Schneewittchen-Sequenz ziemlich sicher im 17. Jahrhundert über Frankreich und dessen Feenliteratur, ein Strang weist auch nach Italien.

Damals erzählte man sich nach getaner Arbeit, beim abendlichen Zusammensitzen, Geschichten und Legenden. Das Volk ohne Buch vertrieb sich mit populären Erzählstoffen die Zeit, während die Frauen spannen und die Männer zusammenkamen. „Man plauderte und erzählte sich Geschichten. In den katholischen Ländern konnten die unteren Schichten nicht Lesen und Schreiben, in den protestantischen Ländern gab es wenigstens die Sonntagsschule. Literatur war nur für die gebildeten Schichten, die unteren Schichten waren illiterat und bildungsfern, sie erzählten sich zur Unterhaltung eben Geschichten. Dabei gab es immer jemanden, der besonders gut erzählen konnte.“

Anfang des 19. Jahrhunderts trafen die Grimms eine jener guten Erzählerinnen in einem hessischen Gasthof. Die Töchter der Familie Hassenpflug, hugenottische Auswanderer aus Frankreich, lieferten den Gebrüdern Grimm einen Großteil des Stoffes für die Kinder- und Hausmärchen. Marie Hassenpflug gilt als Quelle für Schneewittchen, ihre Version der Sequenz haben die Grimms überarbeitet, aufgeschrieben und als „Schneewittchen“ in ihren KHM veröffentlicht. Durch den großen Erfolg und Siegeszug des Buches wurde die Sequenz damals „eingefroren“ und bis heute nicht weitergesponnen. Wie die Geschichte eine Woche später erzählt wurde, wissen wir nicht.

Durch den Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ von Walt Disney verbreitete sich 1937 diese hessische Sequenz weltweit. Walt Disney erinnerte sich zu Lebzeiten sehr gut an die Märchen, die ihm seine Großmutter vorgelesen hatte. Disneys Autoren brachten die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen von einer Europareise mit in die amerikanischen Studios. Basierend auf der KHM-Ausgabe letzter Hand aus dem Jahr 1857, adaptierte Disney mit seinen Zeichnern das Märchen für den Zeichentrickfilm.

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„Die Grimms haben mit den KHM einen Märchenstil geschaffen, der bis in Harry Potter und Star Wars hineinreicht. Sie waren tolle Autoren, doch sie haben die Märchen nicht erfunden, sondern gefunden und aufgeschrieben. Die beiden Brüder haben niemals ethnische Feldforschung betrieben, dementsprechend steht „hinter“ einer Geschichte auch nie eine reale Person. Die Grimms waren gelehrte Bücherwürmer, philologisch hochgebildet. Sie waren begnadete Redakteure: Sie verarbeiteten zugetragene oder in alten Almanachen aufgefundene Geschichten stilsicher zu wunderbaren Erzählungen und erfanden dabei nebenher das ganz neue Genre der Buchmärchen“, erklärt Ulrike Kindl.

Auch der Zuschnitt des neuen Genres auf die Kinderliteratur geht auf die Grimms zurück: Ursprünglich war das Märchen – auch das Kunstmärchen – für ein erwachsenes Publikum gedacht. „Im Zuge eines genialen Geistesblitzes von Wilhelm Grimm wurden die Märchen zu Kinder- und Hausmärchen. Im frühen 19. Jahrhundert wurde die Kindheit als solches ja überhaupt erst erfunden. Dass ein Kind eigene Bedürfnisse hat, ist eine sehr moderne Vorstellung, die erst mit der bürgerlichen Familie in der Romantik und der industriellen Revolution entstehen konnte. Vorher waren Kinder in den niederen Schichten vor allem Arbeitskräfte. Deshalb waren es in den Märchen auch ursprünglich Mütter, die ihre Kinder fortschickten, nicht Stiefmütter, zu denen Jacob Grimm sie erst später machte.“

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Urbane Mythen des 19. Jahrhunderts

Wir stellen uns also vor, Marie Hassenpflug erzählt in einer hessischen Stube zur allgemeinen Unterhaltung der erwachsenen Zuhörer die Liebesgeschichte einer wunderschönen Adeligen mit allen Attributen des damals gängigen, mediterranen Schönheitsideals: Eines Töchterchens, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz. Um den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte zu untermauern, versetzt die begnadete Erzählerin die Heldin in das Umfeld der aktuellen Gesellschaft. Denn was ist unterhaltsamer und glaubhafter als eine Geschichte, die einem Freund von einem Freund im Nachbarort passiert ist? „Ubiquitäre Sequenzen, die auf der ganzen Welt erzählt werden, verortet jeder anständige Erzähler in der unmittelbaren Umgebung der Örtlichkeit die eine Erzähltradition hat“, bestätigt Kindl.

Dieses unmittelbare Umfeld war in Deutschland seinerzeit waldiges Mittelgebirge, in dessen Hinterland Bergbauarbeiter in kleinen Hütten lebten. „Dass Deutschland mal fast vollständig von Wald bedeckt war, können wir uns heute nicht mehr vorstellen“, meint Kindl. So kommt es, dass das Grimmsche Schneewittchen durch den Wald muss und dort mit den Zwergen lebt, während es woanders auf der Welt hinter die Klippen oder die blauen Berge flieht. „Das hat mit der Milieu-Dominanz in den deutschen Landen des frühen 19. Jahrhunderts zu tun: Große Laub- und Mischwälder prägten das Landschaftsbild und drei Viertel der gesamten Bevölkerung lebte in kleinen Dörfern auf dem Land - und damit buchstäblich im Wald. Die weit verbreiteten Sequenzen von Schneewittchen, Rotkäppchen oder den sieben Geißlein fanden im damaligen deutschen Landschaftsbild wunderbare Stellen zum Andocken.“

Das selbe gilt für die reale Entsprechung der sieben Zwerge: In den Wäldern des Siebengebirges lebten die Bergbauarbeiter in kleinen Hütten zusammen. Sie gelten als die Vorbilder für die Zwerge der verorteten Sequenz. Es waren jedoch keine kleinwüchsigen Menschen, die in den Stollen arbeiteten und lebten. „Im Bergbau wurde bis zur Erfindung des Dynamits sehr an der Größe der Gruben gespart. Daher rührt die Vorstellung, es müssten Zwerge an der Arbeit sein. In Wirklichkeit arbeiteten die Steiger in den Gängen auf den Knien, die mit Erz gefüllten Säcke wurden nur zu oft von Kindern aus dem Bergwerk gezogen.“ Zudem stopften sich die Kinder die Mützen mit Stroh aus, um ihre Köpfe zu schützen. Laut der Ethnologin kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu, in der Erzählung aus Menschen Zwerge werden zu lassen: „Der Sagen- und Märchenzwerg gehört in der germanisch-keltischen Tradition zu den sogenannten Elementargeistern. Als hilfreiche Erdgeister behüten sie Schneewittchen.“

Diese spezifischen Verortungen in einer einprägsamen Formel wie „Hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen“ zu fassen, zeugt von großem erzählerischen Können der heute unbekannten Erzähler. Die Grimms haben diese im Siebengebirge erzählte Form samt Formel des Schneewittchen-Märchens in ihre Geschichte eingegossen und so eine Momentaufnahme einer Erzählgemeinschaft konserviert.

Heimatrecht im deutschen Märchenwald

Man darf sich also ein Schneewittchenumfeld in Deutschland kreieren, indem man die Grimmsche Variante des Märchens im Siebengebirge verortet. Dort ist sie definitiv erzählt worden. Ulrike Kindl stellt aber nochmal mit Nachdruck klar, dass es sich trotzdem nicht um ein deutsches Märchen handelt, sondern „nur um eine von ´zigtausenden Verortungen dieser weltweit verbreiteten Sequenz. Die deutsche Romantik hat dieses Märchen nicht erfunden. Die wahren Wurzeln von Schneewittchen reichen weit ins mythische Denken der Menschheit zurück: Schneewittchen-Märchen - ATU 709, um genau zu sein - erzählen sich, natürlich in vielen Abwandlungen, praktisch alle Völker der Welt.“

Doch selbst die Grimms trieben den Glauben, die Märchen seien ur-hessischer Herkunft voran, obwohl sie natürlich wussten, dass das nicht stimmte. Es lag ihnen aber vor allem am Verkauf ihrer Bücher, weshalb sie dem Wunsch der Bevölkerung nach einer regionalen Tradition und nationalen Identitätstiftung nachkamen. Gutes Marketing wie sich zeigte, die Kinder- und Hausmärchen waren und sind bis heute ein voller Erfolg.

Schneewittchen-Marketing

Auch die heutigen Marketingbeauftragten der selbsternannten Schneewittchen-Stadt Lohr am Main wollen den Erfolg ihrer Stadt sichern: Mit Fakten, Daten und Örtlichkeiten belegen sie, dass die Lebensgeschichte der 1725 in Lohr am Main geborenen Maria Sophia Margaretha Catharina Freifräulein von Erthal das historisch reale Vorbild des Märchens ist. Der Spiegel der bösen Stiefmutter hängt im Museum, erst kürzlich wurde Marias Grab entdeckt; tatsächlich gibt es einige Parallelen zwischen dem jungen Freifräulein und Schneewittchen. Für Ulrike Kindl ist diese erneute Verortung legitim und steht ganz in der Tradition des Märchenerzählens: „Schneewittchen entspringt keiner regionalen Tradition, wurde aber nach dem Siegeszug der KHM mehrfach im hessischen Umland mit vorhandenen einheimischen Traditionen vermischt. Das ist durchaus legitim: Märchenstoffe sind proteushafte Gebilde, sie nehmen jede Form und jedes Lokalkolorit an, zu jederzeit, an jedem Ort.“

Die Menschen glauben solche Geschichten und Verrohungen gerne, denn Erzählen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. In Europa haben wir keine funktionierende Erzählkultur mehr, sie ist durch die Massenmedien obsolet geworden. Der Fernseher (oder das Marketingbüro) sind die neuen Märchenerzähler.

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Es gibt also kein deutsches Ur-Schneewittchen. Und wohl auch keine andere ausländische Prinzessin die diese Geschichte genau so erlebt hat. Denn es geht um viel mehr: „Schneewittchen erzählt die Geschichte einer Initiation“, weiß Ulrike Kindl. „Das Ur-Muster dürfte auf das Tod-im-Leben-Mysteriums zurückgehen, die fundamentale Erfahrung der Wandlung, die das Sterben alter Formen voraussetzt, damit neues Leben entstehen kann. Für uns Kinder der Aufklärung ist es heute kaum noch nachvollziehbar, welche Bedeutung solche Seinserfahrungen und Mythen der ewigen Wiederkehr gehabt haben müssen. Mit ausgefeilter Ritualität hat man sich nach der neolithischen Revolution mit dem Mysterium von Leben, Tod und Wiedergeburt auseinandergesetzt.“

Diese alten Erinnerungen waren den Märchenerzählern des beginnenden 19. Jahrhunderts natürlich nicht klar. In erster Linie dienten die Erzählungen der Unterhaltung, manchmal hatten sie einen moralischen Kern. „Die enthaltenen Urmythen der Menschheit entdeckt heute erst der geschulte Blick eines Ethnologen von aussen, der, wie im Falle von Schneewittchen, die alten griechischen Mythen darin erkennt“, schließt Ulrike Kindl. Für den Laien und Märchenliebhaber gibt es also hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen noch weit mehr zu entdecken als eine nationale Liebesgeschichte.

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