Seltener Siedlungsfund: Archäologische Zeitreise vor den Toren Lübecks
Hinweise auf vorgeschichtliche Siedlungen sind im Norden Deutschlands äußerst selten. Eine Fundstelle bei Lübeck scheint den bisherigen Mangel nun auf einen Schlag gutmachen zu wollen: mit einer spannenden Reise durch gleich mehrere Zeitalter.
Das Ausgrabungsgelände südlich der Stadt Lübeck in Schleswig-Holstein. Das Gebiet erzählt eine Jahrtausende andauernde Siedlungsgeschichte, wie Archäologen nach ersten Ausgrabungen und Analysen feststellen konnten.
Das schleswig-holsteinische Lübeck ist vor allem für seine Glanzzeit als florierende Hanse- und erste deutsche Hafenstadt an der Ostsee im Mittelalter bekannt. Doch das könnte sich nun ändern: Auf einem Gelände südlich der Stadt machten Archäologen einige spektakuläre Entdeckungen, die darauf schließen lassen, dass an dieser Stelle bereits vor ungefähr 12.000 Jahren erstmals Menschen lebten – gefolgt von einer Siedlungsgeschichte, die über Jahrtausende Bestand hatte.
„Ursprünglich war das Gelände ein weißer Fleck auf der archäologischen Karte Lübecks“, erklärt Dr. Ingrid Sudhoff, Sachgebietsleiterin für das Lübecker Landgebiet in der Abteilung Archäologie. Die durch die Nähe zu Wasserläufen und den guten Boden siedlungsgünstige Lage des Areals hätte die Archäologen jedoch dazu veranlasst, ab 2018 systematische Untersuchungen durchzuführen. „Die bisherigen Ergebnisse belegen die Anwesenheit von Menschen seit spätestens dem Ende der Eiszeit“, sagt Sudhoff. Damit sei bestätigt, was die Forschenden bereits vermutet hatten: „Hier wurde über Jahrtausende gesiedelt.“
Von der Jungsteinzeit bis ins Römische Kaiserreich
Nachdem im Jahr 2018 im Zuge des Bauvorhabens erste Oberflächenbegehungen stattgefunden hatten, folgten ein Jahr später geomagnetische Untersuchungen des Geländes. 2021 begann ein kleines archäologisches Team mit den Voruntersuchungen und konnte dabei bereits eine große Zahl von Funden zu Tage fördern: Feuersteinartefakte vom Ende der Eisenzeit, die die Anwesenheit von Jägern und Sammlern belegen, sowie Keramikscherben und Metallgegenstände, die auf die Trichterbecherkultur der Jungsteinzeit ab 4100 v. Chr. zurückzuführen sind. Diese befanden sich in großflächigen Resten von Kulturschichten, was im Umfeld vorgeschichtlicher Fundplätze einen enormen Seltenheitswert hat.
Im März 2022 starteten dann die eigentlichen Ausgrabungen, bei denen neben weiteren Fragmenten und Artefakten auch Reste von Siedlungsstrukturen aus unterschiedlichen Zeitaltern entdeckt wurden. „Anhand zahlreicher Gruben und Pfostengruben sind bereits jetzt die Grundrisse mehrerer kleiner und großer Gebäude zu erkennen“, sagt Leif Schlisio, wissenschaftlicher Leiter der Ausgrabungen. Außerdem konnten Reste von Ofenanlagen freigelegt werden und es fanden sich Hinweise auf eine Bronzewerkstatt und Eisenverhüttung.
Die Metallfunde aus der Römischen Kaiserzeit stellen für die Archäologen eine Besonderheit dar: Sie können auf Kontakte zum Römischen Reich hinweisen.
Von besonderem Interesse für die Forschenden sind laut Ingrid Sudhoff die Funde, die auf Kontakte zum Römischen Reich hindeuten. Unter ihnen: eine römische Münze aus dem Jahr 85 n. Chr. von Kaiser Domitian, ein verziertes Bronzeblech und eine mit Pinienzapfen verzierte Bronzenadel, die Artefakten ähnelt, die so bisher nur in provinzialrömischen Bereichen – zum Beispiel dem Niederrheingebiet – ausgegraben werden konnten.
Die Forschenden, die das Gelände untersuchen, begeben sich dabei auf eine spannende Reise durch die Zeiten. Auf der voruntersuchten Fläche wurden inzwischen Hinweise auf Siedlungstätigkeiten aus einer Vielzahl von Epochen festgestellt: von der Jungsteinzeit über die Bronze- und vorrömische Eisenzeit bis mindestens in die Völkerwanderungszeit des 5. Jahrhunderts n. Chr., hinzu kommen einzelne Funde, die bis ins frühe Mittelalter der sächsisch-slawischen Zeit datiert werden können.
Hohe Relevanz für die norddeutsche Archäologie
Monika Frank, Kultursenatorin der Stadt Lübeck, betont die ungewöhnlich weite Ausdehnung der Siedlungsfundplätze, die ein weiträumiges Siedlungsareal von überregionaler Bedeutung vermuten ließen. „Für Schleswig-Holstein und insbesondere für Lübeck fehlen systematische Untersuchungen zu vorgeschichtlichen Siedlungskammern bisher weitestgehend“, sagt sie. Siedlungsbefunde vor- bis frühgeschichtlicher Kulturgruppen seien im norddeutschen Raum nach wie vor gegenüber Bestattungsplätzen unterrepräsentiert. Darum sei die wissenschaftliche Relevanz und kulturhistorische Bedeutung des jetzt untersuchten Geländes als sehr hoch einzuschätzen.
Dieser Meinung ist auch Ingrid Sudhoff. „Für die Geschichte der Region ist diese Fundstelle von enormer Bedeutung“, sagt sie. Erstmals bestünde hier die Möglichkeit, die Besiedlungsgeschichte über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren zu verfolgen. „Derart großflächige und zusammenhängende Untersuchungen sind selten möglich – und für die Lübecker Archäologie auch das erste Mal, zumindest für die Vorgeschichte.“
Aufgrund der Größe des Areals und der Fülle an Befunden müssten nun umfangreiche Ausgrabungen durchgeführt werden. Ingrid Sudhoff sieht diesen mit Vorfreude entgegen. „Die Anwendung modernster Untersuchungsmethoden und eine engmaschige naturwissenschaftliche Begleitung ermöglichen hier die seltene Chance einer Rekonstruktion der Lebenswelten unserer Vorfahren über mehrere Jahrtausende“, sagt sie.