Schreckgespenst und Todesbotin: Die Legende um die Weiße Frau

Die Weiße Frau ist eines der berühmtesten Gespenster des späten Mittelalters – und soll bis in die Neuzeit in Deutschlands Schlössern und Burgen gespukt haben. Die Geschichte einer gefürchteten Geistergestalt.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 29. Sept. 2022, 10:16 MESZ
Die Weiße Frau erscheint am Totenbett eines Sterbenden.

Die Weiße Frau erscheint am Totenbett eines Sterbenden. Für ihre Rolle als Unheilsbotin ist die Gespenstergestalt bis heute bekannt.

Foto von LaBeauce und Minne, 1857

„Gehüllt in weiße Witwentracht / In weißen Nonnenschleier / So schreitet sie um Mitternacht / Durch Burg- und Schlossgemäuer.“ So beschreibt der Lyriker Christian Graf zu Stolberg-Stolberg im Jahr 1814 in einer Ballade das Erscheinen der Weißen Frau – einer Geistergestalt, die zu dieser Zeit bereits seit Jahrhunderten deutsche Adelsfamilien heimgesucht haben soll. Bei ihren Besuchen trägt sie ein weißes Kleid und ist in eine Art Nebel oder dumpfen Lichtschein gehüllt. Manchmal weist sie eine blutrote Wunde am Hals auf oder trägt ein Kreuz in der Hand – und oft bringt ihr Erscheinen Unheil mit sich. Oder gar den Tod.

Vor allem im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit wollen Schlossbewohner und -besitzer immer wieder den Geist der Weißen Frau gesehen haben. Darunter sogar Kaiser Napoleon, der im Jahr 1812 bei einem Besuch auf Schloss Bayreuth ein ungemütliches Erlebnis mit der Geistergestalt gehabt haben soll. Etwa hundert Jahre zuvor berichtete auch Preußenkönig Friedrich I. von einer erschreckenden Begegnung mit einer in weiß gehüllten Geisterfrau im Berliner Stadtschloss. Sie sind lange nicht die einzigen prominenten Augenzeugen. Wie aber konnte sich die Sage der Weißen Frau so hartnäckig halten? Und gibt es für ihr Erscheinen vielleicht ganz irdische Erklärungen?

Die Todesbotin der Hohenzollern

Bis heute trifft man die Gestalt in unzähligen Sagen und Legenden verschiedenster Adelsfamilien und Schlossbesitzer an. Beispielsweise soll im Schloss Friedenstein in Gotha oder auch im Düsseldorfer Schloss eine Weiße Frau ihr Unwesen treiben, die wehklagend durch die Gemäuer streift. Und auch auf der Plassenburg und im Berliner Stadtschloss wurde sie vor allem vom 15.-18. Jahrhundert immer wieder gesichtet. Als gefährlich galt die Weiße Frau in den meisten Erzählungen nicht, kündigte aber Unheil an: beispielsweise den Tod eines Familienmitglieds.

Lithographie von Ludwig Löffler aus dem Jahr 1851: Die Weiße Frau erscheint König Friedrich I. im Jahr 1713 kurz vor seinem Tod auf dem Berliner Stadtschloss.

Foto von Ludwig Löffler, 1819-1876

In ihrer wohl bekanntesten Form ist die Weiße Frau als „Todesbotin der Hohenzollern“ bekannt, die über mehrere Jahrhunderte hinweg den Mitgliedern des Adelsgeschlechts der Hohenzollern den Tod ankündigte. Der Todesbotin wurden im Laufe der Geschichte die meisten Sichtungen von Weißen Frauen auf der Plassenburg, dem Bayreuther Neuen Schloss, der Burg Hohenzollern und dem Berliner Stadtschloss zugeordnet. Ihre historische Vorlage war die Gräfin Kunigunde von Orlamünde, die von 1303 bis 1382 lebte und mit Graf Otto VI. aus dem Hause Orlamünde verheiratet war. Dieser starb bereits 1340 und machte Kunigunde zur Witwe. 

Der Sage nach soll die Gräfin damals nach Ottos Tod in der Plassenburg untergekommen sein. Dort verliebte sie sich in Albrecht den Schönen, Burggraf von Nürnberg und Teil des Adelsgeschlechts der Hohenzollern. Weil sie dachte, den Grafen so für sich gewinnen zu können, tötete sie ihre beiden Kinder aus der Ehe mit Otto. Doch dies erzielte nicht die gewünschte Wirkung: Albrecht wandte sich von ihr ab. Kunigunde schwor aus Rache an ihm, den Hohenzollern als Geist zu erscheinen und ihnen ihren Tod vorherzusagen. 

Sichtungen der Weißen Frau

Historisch nachweisen lassen sich die Einzelheiten dieser Geschichte nicht. Heute wird vermutet, dass die Gräfin erst weit nach ihrem Tod mit den frühen Sichtungen der Weißen Frau in Verbindung gebracht wurde – offenbar als Erklärungsversuch für die seltsamen Geistererscheinungen. Wie genau die Sage letztendlich entstand, kann heute ebenfalls nicht eindeutig nachgewiesen werden, denn Niederschriften lassen sich erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts finden.

“In weißer Robe, weiß verbrämt, / Tritt sie aus Wänden und aus Bildern; / Dastehn die Wachen wie gelähmt, / Die in den Korridoren schildern.”

von Lyriker Ferdinand Freiligrath, 1844

Eine Version der Geschehnisse findet man in einer Ausgabe des Archiv für Geschichte und Altertumskunde von Oberfranken aus dem Jahr 1869 vom Konsistorialrat Dr. Kraußhold. Laut ihm erschien der Geist von Kunigunde schon im Jahr 1486 auf dem Bayreuther Schloss. Heimgesucht wurde damals der Markgraf Albrecht Achilles, Mitglied des Geschlechts der Hohenzollern, der kurz nach dem angeblichen Besuch der Weißen Frau verstarb. Auch auf der Plassenburg, in der Kunigunde damals unglücklich in Albrecht den Schönen verliebt gewesen sein soll, erschien der Geist mehreren Bewohnern. Darunter der Markgraf Friedrich IV., dem sie am Anfang des 16. Jahrhunderts laut Dr. Kraußhold mehrere nächtliche Besuche abstattete.

Und schließlich ist es auch sie, die Napoleon bei seinem Deutschlandbesuch in Bayreuth am Anfang des 19. Jahrhunderts in Angst und Schrecken versetzt haben soll. Der Sage nach ist sie ihm erschienen, indem sie aus ihrem Gemälde trat, das in seinem Zimmer hing, und ihm seinen drohenden Untergang vorhersagte – eine Prophezeiung, mit der sie Recht behalten sollte.

Die Lust am Gruseln seit der Antike

Das Erzählen von Geistergeschichten – ob wahr oder nicht – fasziniert die Menschen schon lange. Laut Eberhard Bauer, stellvertretender Leiter des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, gibt es Berichte über Gespenster, Geistererscheinungen und Spukphänomene bereits seit der Antike. „Das Unheimliche fasziniert und löst seit jeher ambivalente Reaktionen aus – die berühmte Angstlust“, sagt er. So ist die Freude am Gruseln bis heute Grundlage eines der beliebtesten Film- und Buchgenres: dem Horror, in dem auch paranormale Narrative eine große Rolle spielen. Wohl auch deshalb ziehen uns vermeintlich wahre Geschichten wie die der Weißen Frau bis heute in den Bann.

Für Jeannie Banks Thomas, Volkskundlerin und Professorin an der Utah State University, stehen bei paranormalen Legenden vor allem die Umstände, in denen sie entstanden sind, im Vordergrund. Sie sind gerade deshalb auch weit nach ihrer Entstehung noch interessant. „Sowohl Gläubige als auch Nichtgläubige erzählen Geistergeschichten, weil die Erzählungen kulturelle Themen enthalten“, schreibt sie in Taking Ghosts Seriously.

Denn Erscheinungsbilder wie die Weiße Frau kommen nicht nur in verschiedenen Schlössern und Burgen Deutschlands, sondern weltweit in verschiedensten Kulturen vor. Beispielsweise tritt La Llorona, eine Frauenfigur aus der lateinamerikanischen Folklore, ähnlich wie die Weiße Frau in weiße Schleier gehüllt in Erscheinung – und bringt oft Unheil oder den Tod über die Menschen, die ihr begegnen. So auch die Banshee, die vor allem in der irischen Folklore bekannt und ebenfalls in weiße Schleier gehüllt sind. Auch sie gelten als Vorbotinnen für nahendes Leid und kündigen dieses – wie La Llorona – durch lautes Wehklagen an. Die weiblichen Geistergestalten haben so eines gemein: Sie bringen Unheil.

Darstellung einer Banshee, die zwei mit ihrem Klagelied Männer heimsucht.

Foto von R. Prowse, 1862

Weiße Frauen: Ein Einblick in die Kultur

Laut Jeannie Banks Thomas lässt sich durch Erzählungen dieser Art vor allem etwas über die jeweiligen Ängste der Menschen aussagen, die die Geschichten erzählen. Dabei stünden Themen wie Trauma und Tod oft im Mittelpunkt. „Geistergeschichten sind ein nützliches Mittel, um die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen“, so Thomas. Ebenso lasse sich dadurch auch die Entstehungszeit der historischen Berichte besser nachvollziehen.

Im Falle von La Llorona oder der Weißen Frau scheinen die Erzählungen zweierlei zu offenbaren. Einerseits eine Angst vor der Unerklärlichkeit des Todes, der durch die Sagen einen Sinn, in gewissem Maße sogar einen Auslöser, zugeschrieben bekommt. Andererseits stehen bei beiden Erzählungen auch Kindesmorde durch die Frauen im Fokus der Geschichte, die letztendlich zu ihrem Dasein als Spukgestalten führten – wie eine Strafe oder die Folge fehlender Mutterliebe. 

Auch über die persönlichen Umstände der Person, die von der paranormalen Begegnung erzählt, können Geistergeschichten viel offenbaren. „Einige Geschichten enthüllen das Kulturelle, andere Geschichten erzählen uns mehr über das Persönliche“, sagt Thomas. Das geschehe ganz unabhängig von der Glaubwürdigkeit der Geschichte.

Laut Eberhard Bauer gibt es in diesem Zusammenhang in der psychodynamischen Deutung von Spuk- und Geistererscheinungen Erklärungsansätze, die auf die Befindlichkeiten oder Lebensumstände der Person schließen lassen. In dem Feld ginge man deshalb „davon aus, dass Spannungen, Konflikte oder Entwicklungsaufgaben der betreffenden Person, die zur Bearbeitung anstehen, auf ,normale‘ Art und Weise nicht gelöst werden können“, sagt er. „,Geister‘ oder ,Verstorbene‘ werden als Ursachen für die Phänomene angenommen.“ Kurz: Was unerklärlich scheint, wird mit übernatürlichen Erscheinungen erklärt.

So ist die Weiße Frau wohl einerseits geboren aus der Lust am Gruseln und am Erzählen von Geschichten und ist andererseits ein Hinweis darauf, wie Menschen damals mit dem Tod von Familienangehörigen oder unerklärlichen Vorkommnissen in ihren Gemäuern umgingen. Dadurch wurde wohl auch Kunigunde von Orlamünde zum gefürchteten Schreckgespenst.

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