Der Zuschauer-Effekt: Nichts sehen, nichts hören – nicht helfen

Je mehr Menschen einen Notfall beobachten, desto unwahrscheinlicher, dass zumindest einer hilft. Was bremst Zivilcourage und Hilfsbereitschaft? Die Antwort: der Zuschauer- oder Bystander-Effekt, auch bekannt als Genovese-Syndrom.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 17. Nov. 2022, 08:32 MEZ
Die drei Affen als kleine bronzene Statuen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Die drei Affen stammen aus der japanischen Kultur.

Foto von Adobe Stock

März 1964: Mitten in einem New Yorker Wohnviertel wird eine 28-jährige Frau brutal überfallen, vergewaltigt und ermordet. Das Martyrium der Kitty Genovese dauert eine halbe Stunde. Zahlreiche Zeugen sollen zumindest Teile des Verbrechens gehört oder beobachtet haben. Sogar von 38 tatenlosen Zeugen ist die Rede, was sich kurz darauf allerdings als falsch herausstellt. Richtig aber ist: Kitty Genovese hätte den Überfall womöglich überlebt – wenn ihr nur rechtzeitig jemand geholfen hätte.

Einige Jahre später sorgte das Schicksal der Kitty Genovese ein zweites Mal für Aufsehen. Die amerikanischen Sozialpsychologen John M. Darley und Bibb Latané hatten das Phänomen der menschlichen Hilfeleistung unter die Lupe genommen. Im Zentrum ihrer Forschungen stand die Frage, warum Menschen oft nicht eingreifen, wenn bei einem Unfall oder Verbrechen dringend Hilfe nötig ist. Warum verschließen Zuschauer („Bystander“) einfach Augen, Ohren und Mund? Genauso wie die drei Affen, die nichts sehen, hören oder sagen wollen?

Der Fünf-Stufen-Prozess des Helfens

Auf Grundlage ihrer Untersuchungen und Experimente entwickelten Darley und Latané ein Erklärungsmodell für den Zuschauer- oder Bystander-Effekt, auch Genovese-Syndrom genannt. Darin beschreiben sie fünf Entscheidungsstufen, die ein Beobachter in einer Notsituation durchlaufen muss, bevor er dem Opfer am Ende tatsächlich hilft. Das Dilemma: Stufe für Stufe wird die Hilfe immer unwahrscheinlicher. Und das liegt ausgerechnet auch an den Mitmenschen.

BELIEBT

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    Zunächst einmal muss man das Ereignis bemerken und dann als Notfall interpretieren. Schon auf dieser zweiten Stufe kann die Anwesenheit anderer Menschen dazu führen, dass niemand hilft. Weil keiner eingreift, gelangt man schnell zur Auffassung, dass alles in Ordnung sein müsse. Die Forschung nennt das pluralistische Ignoranz.

    Auf der dritten Stufe lauert eine weitere Hürde: Verantwortung. Nur wer sich persönlich dazu berufen fühlt, wird aktiv werden. In einer Gruppe aus unbekannten Personen herrscht allerdings in der Regel keine Klarheit über Verantwortlichkeiten. So ergreift am Ende niemand die Initiative. Die Psychologie spricht hierbei von Verantwortungsdiffusion.

    Galerie: Reise in unser Gehirn

    Gelähmt vor Schock

    Sind trotz allem die ersten drei Stufen gemeistert, steht man nun vor einer schwerwiegenden Entscheidung: Wie genau soll man helfen? Zeugen eines Notfalls, die darauf keine Antwort haben, werden im schlimmsten Fall gar nichts tun. Unter Umständen sind sie selbst wie gelähmt vor Schock.

    Zu guter Letzt kann auch die Furcht vor persönlichen Konsequenzen dazu führen, dass man doch noch Augen, Ohren und Mund verschließt. Manche wollen sich nicht selbst in Gefahr bringen, andere haben vielleicht Angst, sich strafbar zu machen. Falls also nicht alle Bedingungen des Fünf-Stufen-Prozesses erfüllt sind, kommt es laut Darley und Latané zu keinerlei Hilfe.

    Wer sich also in Sicherheit wiegt, weil viele Leute vor Ort sind, sollte nachdenklich werden: Je mehr Menschen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass überhaupt jemand im Notfall einspringt. Die Menschenmasse gaukelt Sicherheit vor. Doch die Hilfsbereitschaft verliert sich im Nebel der anonymen Menge.

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    Angst und Furcht mögen nicht angenehm sein, aber beides sind wichtige Emotionen, die die menschliche Evolution prägten. Unser Gehirn reagiert auf Bedrohungen und bereitet unseren Körper auf das vor, was da kommen könnte – so wie wir es vor Hunderttausenden von Jahren gelernt haben. Aber wie sieht die Wissenschaft hinter dieser angeborenen Reaktion aus und wie gehen wir in der modernen Welt damit um?

    Der Fall Kitty Genovese: Zivilcourage überführt den Mörder

    Der Mörder von Kitty Genovese wurde übrigens fünf Tage später gefasst. Winston Moseley war gerade dabei, eine Wohnung in Queens auszuräumen, als ihn ein Nachbar fragte, was er da mache. Moseley beteuerte, ein Möbelpacker zu sein. Doch der Nachbar blieb skeptisch und alarmierte die Polizei. Moseley kam ins Gefängnis, wo er 2016 nach fast 52 Jahren Haft im Alter von 81 Jahren starb. Die Zivilcourage eines Unbeteiligten war ihm schließlich doch noch zum Verhängnis geworden.

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