Von Afghanistan nach Ruanda: Eine Mädchenschule im Exil
Shabana Basij-Rasikh ist Rolex National Geographic Explorer des Jahres. Nachdem sie vor den Taliban fliehen musste, setzt sie sich nun dafür ein, dass geflüchtete Kinder weltweit eine Chance auf Bildung bekommen.
Ihre Eltern haben Shabana Basij-Rasikh schon früh beigebracht, dass Bildung jedes Risiko wert ist – eine Überzeugung, die die Gründerin der School of Leadership in Afghanistan durch zwei Taliban-Regime getragen hat.
Dieser Artikel wurde durch die Unterstützung von Rolex ermöglicht. Das Unternehmen pflegt eine langjährige Partnerschaft mit der National Geographic Society, um die Herausforderungen der Ökosysteme zu beleuchten, die unseren Planeten am Leben halten – mit Forschung, Geschichten und Expeditionen.
Im Taliban-besetzten Kabul verlassen zwei Kinder ihr Haus. Das ältere trägt eine Burka, das kurzhaarige jüngere eine Hose. In den Händen haben sie Einkaufstüten. Bruder und Schwester, die Besorgungen machen, würde man denken, wenn man sie sieht. Der Weg, den sie gehen, ist jeden Tag ein anderer. Wenn sie ihr Ziel erreicht haben, passen sie auf, dass niemand sieht, wie sie heimlich durch eine Tür in ein Gebäude huschen.
Es ist ihre Schule.
Die Szene spielt sich so im Herbst 1996 ab, kurz nachdem die Taliban Bildung für Mädchen gesetzlich verboten haben. Lehrer und Eltern, die den Schulbesuch trotzdem ermöglichen, müssen mit der Todesstrafe rechnen. Das jüngere der beiden Kinder, die sechsjährige Shabana Basij-Rasikh, muss sich deshalb als Junge verkleiden und für seine ältere Schwester die Rolle des vorgeschriebenen männlichen Aufpassers übernehmen. In den Einkaufstüten befinden sich Schulbücher, die sie für ihren geheimen Unterricht benötigen.
Als sie eines Tages das Gefühl haben, jemand habe sie auf dem verbotenen Schulweg verfolgt, flehen die beiden Schwestern ihre Eltern an, sie nicht mehr in die Schule zu schicken. Doch die Bitte wird abgelehnt: Eine gute Bildung sei jedes Risiko wert.
Basij-Rasikh ist 31 Jahre alt, als die Taliban im Jahr 2021 erneut die Kontrolle über Afghanistan übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt ist sie die Gründerin des ersten und einzigen Mädcheninternats des Landes, der School of Leadership Afghanistan (SOLA), – und hat ihre Flucht seit mehreren Monaten vorbereitet. Sie hat alle Schulakten verbrannt und 256 Schülerinnen, Mitarbeiter*innen und Familienangehörige durch das Chaos des Kabuler Flughafens zu einem Flugzeug geführt. Es fliegt nach Ruanda, dem einzigen Land, das sich bereit erklärt hat, sie aufzunehmen.
Schülerinnen auf dem Exil-Campus der SOLA in Kigali, Ruanda. Nach der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 evakuierte Shabana Basij-Rasikh, Gründerin des ersten und einzigen Mädcheninternats Afghanistans, Schülerinnen und Mitarbeitende in das afrikanische Land.
Jedes Mal, wenn die Taliban bisher an die Macht kamen, war die Bildung für Mädchen das Erste, was sie abschafften. Heute dürfen Mädchen in Afghanistan die Schule nur bis zur sechsten Klasse besuchen. Weniger als 20 Prozent der Mädchen im schulfähigen Alter nehmen überhaupt am Unterricht teil. Die neuen Gesetze haben ihnen fast alle Rechte genommen, die sie einmal hatten – sie dürfen sich nicht einmal mehr in öffentlichen Parks aufhalten.
Frauen und Mädchen würden in Afghanistan nach und nach unsichtbar gemacht, so Basij-Rasikh. Für ihren Mut und unermüdlichen Einsatz dafür, dass afghanische Mädchen und junge Frauen Zugang zu Bildung erhalten, erhielt sie nun den Titel Rolex National Geographic Explorer des Jahres 2023.
SOLA besteht weiterhin, doch der Campus befindet sich nun in Ruanda – einem Land, dessen Bevölkerung selbst durch Krieg und Flucht gezeichnet ist. Hier weiß man, was es bedeutet, Schutz zu suchen. Derzeit werden an der SOLA 61 Schülerinnen unterrichtet, darunter einige Neuzugänge aus afghanischen Flüchtlingsgemeinschaften in Usbekistan, Pakistan und Iran.
Doch eine feststehende Schule allein reicht nicht, findet Basij-Rasikh. Afghan*innen, die aus ihrer Heimat geflohen sind – und dazu zählt auch ihr Ehemann Mati Amin, der in einem Flüchtlingscamp in Pakistan aufwuchs – bilden inzwischen die drittgrößte Flüchtlingsgruppe der Welt. Im Schnitt ist jede geflüchtete Person zehn bis 15 Jahre heimatlos. Basij-Rasikh und Amin, die im Jahr 2022 zum ersten Mal Eltern geworden sind, wollen helfen, diese verlorene Zeit wiedergutzumachen.
„Egal, ob in unserem Zuhause oder in unserer Beziehung: SOLA ist immer dabei“, sagt Basij-Rasikh lachend.
Während für SOLA nun das dritte Jahr im Exil anbricht, gibt es Pläne zur Gründung von SOLA X – einer Art mobilen Schule, die es Kindern ermöglichen soll, per Smartphone über WhatsApp am Unterricht teilzunehmen. Lehrer*innen sollen Unterrichtsinhalte und Aufgaben in einem digitalen Klassenzimmer teilen, das von jedem Ort der Welt aus zugänglich ist – sogar von Afghanistan. Alle Schüler*innen erhalten am Ende ihrer Schulzeit ein Zertifikat, das ihre Teilnahme an dem Programm bestätigt. Im Gegensatz zu den Schülerinnen, deren Unterlagen Basij-Rasikh vor ihrer Flucht verbrennen musste, werden diese Kinder immer dazu in der Lage sein, einen Ausbildungsnachweis vorzulegen.
In Ruanda ist SOLA inzwischen immer mehr verwurzelt. Die Schule hat Land gekauft, um einen Campus aufzubauen, der genug Platz für Wohn- und Klassenräume für über 200 Kinder von der sechsten bis zur zwölften Klasse bieten soll. Sollte SOLA eines Tages nach Afghanistan zurückkehren können, soll der Campus in Ruanda weiterbetrieben werden: als ein fernes zweites Zuhause, als Ort der Ruhe und als Notfallplan, falls Afghanistan eines Tages wieder in die Hände von Extremisten fallen sollte.
Es gibt viele Orte auf der Welt, an denen Krieg, Klimawandel und politische Umwälzungen Bildung unmöglich machen. Weltweit gehen schätzungsweise 244 Millionen Kinder im schulfähigen Alter nicht zur Schule. Basij-Rasikh sieht ihre Mission in dem Aufbau eines Models, das vertriebenen Schülerinnen und Schülern Zugang zu Bildung verschafft. „SOLA ist keine Schule“, sagt sie, „sondern eine Bewegung.“
Der neueste Artikel von National Geographic-Redakteurin Nina Strochlic behandelt das Erbe und die Wiederbelebung der Catskill Mountains in New York.
Der preisgekrönte Fotograf Pari Dukovic arbeitet in den Genres Porträt, Mode und Reportage. Seine Reportage über COVID-19 erschien in der November-Ausgabe von National Geographic im Jahr 2020.
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache im Juli 2023 in der US-amerikanischen Ausgabe von National Geographic veröffentlicht.