Tod nach Europareise: Teenagerin aus der Spätantike bekommt ein Gesicht

Forschende haben das Schicksal eines 16-jährigen Mädchens rekonstruiert, das im 7. Jahrhundert vermutlich von Süddeutschland nach England übersiedelte. Hinweise auf den Grund für die Reise gibt eine Grabbeigabe: ein wertvolles Kreuz aus Gold und Granat.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 27. Juni 2023, 09:32 MESZ
Das digital rekonstruierte Gesicht der Teenagern aus Süddeutschland.

Im Rahmen der Untersuchungen wurde der Teenagerin anhand der Maße ihres Schädelknochens ein Gesicht gegeben.

Foto von Hew Morrison

Schon im 7. Jahrhundert reisten Menschen quer durch Europa – anders als heute aber eher nicht, um Urlaub zu machen. Sterbliche Überreste aus jener Zeit, die bereits im Jahr 2011 bei Ausgrabungen im Dorf Trumpington in der Nähe von Cambridge im Osten Englands gefunden wurden, erzählen von einer solchen Europareise. Sie stammen von einer Teenagerin, die im Alter von nur 16 Jahren ihren über 1.000 Kilometer entfernt liegenden Geburtsort verließ, der höchstwahrscheinlich in Süddeutschland lag. Doch was wollte sie in England?

Im Rahmen der Ausstellung Beneath Our Feet: Archaeology of the Cambridge Region des Museum of Archaeology and Anthropology (MAA) in Cambridge sind Forschende der Lebensgeschichte der Teenagerin auf den Grund gegangen. Anhand ihrer Ernährungsgewohnheiten war es möglich, Teile ihres Lebens – darunter ihre lange Reise – nachzuvollziehen.

In Zusammenarbeit mit dem Forensiker und Künstler Hew Morrison hat das Team außerdem das Aussehen der jungen Frau rekonstruiert und ihrer verhängnisvollen Geschichte so ein Gesicht gegeben.

Aufbruch in Deutschland?

Hinweise darauf, dass die Teenagerin weit gereist sein muss, lieferte eine Isotopenanalyse, bei der Wachstum und Beschaffenheit ihrer Knochen und Zähne untersucht wurden. Dabei fand das Forschungsteam um die Archäologin Sam Leggett von der University of Edinburgh heraus, dass sich die Ernährungsgewohnheiten der Teenagerin in jungen Jahren schlagartig änderten – was darauf schließen lässt, dass sie an zwei sehr unterschiedlichen Orten aufwuchs. Das deutlichste Indiz: Das Sinken des Proteingehalts in ihrer Ernährung. Die Forschenden vermuten, dass dies zu dem Zeitpunkt geschah, als sie in England ankam.

Auch die Bettbestattungsweise der Teenagerin legt nahe, dass sie keine gebürtige Engländerin war. Bei der sogenannten Bettbestattung werden die Toten auf eine Art Bett gelegt und so in den Boden gelassen. Weil es bisher nur wenige Funde gibt, weiß man noch nicht viel über diese Form des Begräbnisses. Bekannt ist aber, dass sie vor vor 1.300 Jahren beispielsweise in Süddeutschland vorkam. Darum hält Emma Brownlee, Archäologin an der Cambridge University, es für am wahrscheinlichsten, dass die junge Frau ursprünglich aus dieser Region stammt.

„Sie war ein recht junges Mädchen, als sie loszog – wahrscheinlich aus einem Teil Süddeutschlands in der Nähe der Alpen in einen sehr flachen Teil Englands“, sagt Leggett. Sie vermutet, dass die lange Reise, das ungewohnte Essen und ihr geringes Alter letztendlich ihren Tribut forderten: Bereits mit 16 Jahren starb die Teenagerin. Begonnen hatte sie ihre Reise den Forschenden zufolge im Alter von mindestens sieben Jahren – lange lebte sie also nicht in England.

Europareise im Namen der Kirche

Doch warum machte sich die Unbekannte so jung auf den Weg nach England? Und wie kam sie dorthin? Hinweise gibt unter anderem eine Grabbeigabe, die bei den Erstgrabungen im Jahr 2011 im Mittelpunkt stand: Das Trumpington-Kreuz, benannt nach seinem Fundort. Das Kreuz aus Gold und Granat ist eines der ersten Artefakte des frühen Christentums in England und extrem wertvoll. Dass es der Teenagerin ins Grab gelegt wurde, zeigt den Forschenden zufolge, dass sie in der frühen Entwicklung der christlichen Kirche in Europa eine Rolle gespielt haben muss.

BELIEBT

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    Links: Oben:

    Das Trumpington Kreuz, als es 2011 während der Ausgrabungen unterhalb des Schädels der Frau entdeckt wurde. Der hohe Wert des Kreuzes und seine Symbolik sprechen dafür, dass die Teenagerin eng mit der frühen christlichen Kirche verbunden war.

    Rechts: Unten:

    Das Trumpington-Kreuz nach der Restaurierung in altem Glanz.

    bilder von University of Cambridge Archaeological Unit

    Denn das Christentum begann erst zu Lebzeiten des Mädchens, also im Laufe des 7. Jahrhunderts, wirklich Fuß zu fassen. Die Forschenden vermuten, dass die Teenagerin einer wohlhabenden oder gar adeligen Familie angehörte, die früh im Namen des Christentums durch das Land zog, um die Religion zu verbreiten. „Es gab damals ein gesamteuropäisches Netzwerk von Elitefrauen, die in der frühen Kirche stark engagiert waren“, sagt Sam Lucy, Spezialistin für angelsächsische Bestattungen vom Newnham College in Cambridge. Sie war Teil des Teams, das 2012 die Ergebnisse der ersten Ausgrabungen veröffentlichte.

    Konkrete Hinweise können in Zukunft Funde von weiteren Bettbestattungen in der Gegend geben. Das Forschungsteam betont aber schon jetzt, wie wichtig derartige neue Forschungserkenntnisse sind – denn gerade die Einzelschicksale längst verstorbener Menschen können uns die Geschichte näherbringen.

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