Mittelalterliches True Crime: Warum Oxford einst die tödlichste Stadt Englands war

Mord und Totschlag waren im mittelalterlichen England an der Tagesordnung. Besonders in Oxford häuften sich die brutalen Fälle. Wie die englische Stadt zur Mordhauptstadt wurde – inklusive weiterer kurioser Fälle aus den 700 Jahre alten Akten.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 3. Nov. 2023, 15:46 MEZ
Mittelalterliches Gemälde: Kain erschlägt Abel auf dem Feld.

Die Allgegenwärtigkeit von Waffen führte im Mittelalter schnell zur Eskalation von Konflikten. 

Foto von Guyard des Moulins, Bible historiale, c 1350-1356, British Library, Royal MS 19 D II, f 10v.

Erstochen, erschlagen, verunglückt – das mittelalterliche England war ein heißes Pflaster. Gewalttaten waren an der Tagesordnung, ermordet werden konnte man auch schon einmal wegen einer Kleinigkeit. Ob mit dem Messer, der Axt, Pfeil und Bogen oder den eigenen Händen: Es gab schon damals viele Möglichkeiten, dem Leben seines Widersachers ein Ende zu setzen. 

Historiker*innen von der University of Oxford haben mittelalterliche Kriminalfälle aus London, Oxford und York um 1300 analysiert – und eine interaktive Karte mit insgesamt 354 Mordfällen erstellt. Zu jedem Mordfall gibt es eine „Fallakte“, die etwas über den Tathergang, die Umstände des Mordes und die Tatperson erzählt. Basis dieser „Murder Map“ sind Aufzeichnungen von Gerichtsmedizinern aus dem 14. Jahrhundert, deren Aufgabe es damals war, Todesfälle zu untersuchen und zu dokumentieren. 

Weshalb mordeten die Menschen im Mittelalter, wie wurden die Fälle damals aufgeklärt – und warum musste man ausgerechnet in Oxford mit dem Tod rechnen?

Straftaten im Mittelalter: Tödliche Auseinandersetzungen und Selbstjustiz

Im Mittelalter regierte die Straßenjustiz. In Verbindung mit der Allgegenwärtigkeit von Waffen im täglichen Leben konnten selbst geringfügige Meinungsverschiedenheiten zu einem Mord führen. Häufig passierten diese Taten nachts nach der Sperrstunde, wenn die Städte weitestgehend dunkel waren und nur vom Mondlicht beschienen wurden. Wer sich nach der Ausgangssperre ohne ausdrückliche Erlaubnis auf der Straße aufhielt, galt als verdächtig und potenziell kriminell. 

Die London Bridge bei Nacht im 15. Jahrhundert. 

Foto von British Library, Royal 16 F II f. 73

Oft waren es hitzige Streitgespräche in Schankhäusern oder Tavernen, die nachts auf der Straße eskalierten und in Messerstechereien oder Schwertkämpfen endeten. Doch es gab auch Fälle, die weitaus kurioser waren. So führte der Streit um ein Pferd in London im Jahr 1326 zu einer Auseinandersetzung, in die sich immer mehr Nachbarn und Passanten mit ihren Waffen einmischten, ohne den eigentlichen Grund zu kennen. Am Ende des Gemenges gab es einen Toten – und viele flüchtige Täter. 

Es waren hauptsächlich Männer, die damals Straftaten begingen – häufig wegen Kleinigkeiten. Doch auch Frauen wurden zu Mörderinnen. Das zeigt der Fall eines Paares, das als Verbrecherduo einen Passanten ausraubte und anschließend ermordete. Oder auch ein Fall aus London, in dem ein Mann von seiner Geliebten brutal mit einem Tranchiermesser erstochen wurde. Von der Frau fehlte daraufhin jede Spur.

Wie eine Studentenstadt zur Mordhauptstadt wurde

Besonders gewaltvoll ging es in Oxford zu. Hier kam es im 14. Jahrhundert massenhaft zu tödlichen Auseinandersetzungen. Die Mordrate lag damals bei 60 bis 75 pro 100.000 Einwohner*innen – und war damit vier- bis fünfmal höher als in den anderen Städten. Warum gab es gerade dort so viele Morde?

BELIEBT

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    Eine Erklärung dafür sehen die Forschenden darin, dass Oxford schon vor 700 Jahren eine bedeutende Universitätsstadt war. Unter den rund 7.000 Einwohnenden waren damals 1.500 Studenten. Und diese waren überproportional häufig in Gewalttaten verwickelt: Drei Viertel aller Tatpersonen hatten den historischen Berichten zufolge einen „klerikalen“ Hintergrund – waren also demnach Studenten. Dasselbe galt für 72 Prozent aller Opfer, wie das Team berichtet.

    „In einer mittelalterlichen Universitätsstadt wie Oxford gab es damals einen tödlichen Mix“, sagt Professor Manuel Eisner, Direktor des Kriminologischen Instituts von Cambridge und beteiligter Forschender an der „Murder Map“. „Die Oxford Studenten waren alle männlich und typischerweise zwischen 14 und 21 Jahren alt – dem Höhepunkt der Gewalt- und Risikobereitschaft. Diese jungen Männer waren frei von den starken Kontrollen durch die Familie oder die Gemeinde und hatten einfachen Zugang zu Waffen, Schankwirtschaften und Sexarbeiterinnen.“ Diese fatale Kombination aus Alkohol, Sex und männlicher Gewaltbereitschaft sei oft in tödlichen Streitigkeiten geendet. 

    Wie wurden Gewalttaten im Mittelalter aufgeklärt?

    Fand man im spätmittelalterlichen England ein mutmaßliches Mordopfer, musste man laut werden. Bürger*innen machten mit Lärm auf das Verbrechen aufmerksam, sodass der Gerichtsmediziner und der Sheriff informiert wurden. Außerdem stellte der örtliche Landvogt eine Jury zusammen, die mit der Untersuchung des Falls betraut wurde. 

    Mittelalterliche Anklageschrift aus dem 14. Jahrhundert. 

    Foto von Palmer, Elspeth Rosbrook, and Susanne Brand, The Anglo-American Legal Tradition

    „Eine typische Jury bestand aus Männern mit hohem sozialen Ansehen. Ihre Aufgabe war es, den Tathergang zu ermitteln, indem sie Zeugen anhörten, alle Beweise bewerteten und dann einen Verdächtigen benannten. Die Anklageschriften wurden vom Schreiber des Gerichtsmediziners zusammengefasst“, erklärt Eisner. Diese Berichte resultieren aus einer Kombination von Detektivarbeit und Gerüchten, so die Forschenden. Einige Geschworene konstruierten dabei strategisch Erzählungen, um Urteile zu beeinflussen. 

    „Das Leben in den urbanen Zentren des Mittelalters war hart, aber keineswegs gesetzlos“, so Eisner. „Die Menschen kannten ihre Rechte und beriefen sich auf das Gesetz, wenn Konflikte aufkamen.“ Für viele Opfer kam die Hilfe damals allerdings zu spät. 

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