Anne Bonny und Mary Read: Englands vergessene Piratinnen

Anfang des 18. Jahrhunderts machten sich zwei Frauen einen Namen in der britischen Piratenszene: Anne Bonny und Mary Read. Um die beiden ranken sich heute zahlreiche Geschichten – ein Blick in das Leben der berühmten „Piratenköniginnen“.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 30. Okt. 2023, 10:14 MEZ
Schwarz/Weißer Kupferstich von zwei Piratinnen mit Schiff im Hintergrund

Kupferstich der beiden Piratinnen Anne Bonny und Mary Read aus dem frühen 18. Jahrhundert. Die Gravur wurde im Buch A general history of Pyrates veröffentlicht.

Foto von Benjamin Cole, 1696-1766 / gemeinfrei

Im Jahr 1720 wurde in Jamaika gegen eine Gruppe britischer Piraten, die unter der Führung von Jack Rackham die Karibik unsicher machten, ein Prozess geführt. Er endete mit der Verurteilung der Gruppe zum Tode durch Erhängen. Unter ihnen waren auch zwei Frauen: die britischen Piratinnen Anne Bonny und Mary Read. Sie behaupteten nach Verkündung des Urteils, schwanger zu sein – und konnten so ihrem Schicksal entkommen.

Um Bonnys und Reads Leben vor dem Prozess ranken sich heute zahlreiche Geschichten. Sie sollen Piratenköniginnen gewesen sein, möglicherweise ein Paar und sich als Männer verkleidet unabhängig voneinander einen Platz in der Piratenwelt erkämpft haben. Was ist dran an den Geschichten?

Wer waren Anne Bonny und Mary Read?

Die Zeit zwischen 1650 und 1720, in der auch Bonny und Read aktiv waren, gilt heute als goldenes Zeitalter der Piraterie. Um die 5.000 Pirat*innen – meistens waren es Männer – sollen in dieser Zeit aktiv gewesen sein. Sie fokussierten sich zunächst vor allem auf spanische Handelsschiffe. Als dann britische und spanische Kolonien in der Karibik aufgebaut wurden, häuften sich auch die Überfälle in den dortigen Gewässern. Unter ihnen waren legendäre Piraten wie Henry Morgan, nach dem der Rum Captain Morgan benannt ist, sowie Blackbeard und Captain Jack Rackham. 

Historische Dokumente zeigen: Zur Crew von Jack Rackham gehörten mindestens eine Zeit lang zwei Frauen, die heute weitaus weniger bekannt sind als ihre männlichen Kollegen. Ein Zeitungsartikel der Boston Gazette vom 17. Oktober 1720 berichtet von dem Moment, in dem Rackham und seine Truppe beim Versuch, ein Boot in der Karibik zu entern gefangen wurden. In dem Schriftstück werden neben Jack Rackham fünf weitere männliche angeklagte Piraten aufgezählt – und „zwei Frauen, namentlich Ann Fulford alias Bonny, und Mary Read“.

Bekanntgabe von Woodes Rogers in der Boston Gazette. Der Text listet die Crew Jack Rackhams namentlich auf und verweist konkret auch auf Bonny und Read.

Foto von Gemeinfrei

Nach der Festnahme der Crew ernannte der Gouverneur Woodes Rogers, der die britischen Kolonien auf den Bahamas vor Piraten schützen wollte, die Gruppe zum „Feinde der britischen Krone“. Den Prozess gegen die Gruppe führte ein britischer Richter und Kolonialverwalter im Gericht der jamaikanischen Stadt Spanish Town. Die Piraten wurden allesamt zum Tode verurteilt. Nur Bonny und Read entkamen aufgrund ihrer – vermutlich tatsächlich bestehenden – Schwangerschaften.

Zwei Lebensgeschichten zwischen Realität und Mythos

Die meisten Informationen über das Leben von Rackham, Bonny und Read stammen aus einer umfassenden Chronik über die Piraten des 17. und 18. Jahrhunderts, die im Jahr 1724 erschien. A General History of the Pyrates, in Deutschland als Schauplatz der Englischen See-Räuber bekannt, enthält etliche Biografien bekannter englischer Piraten – darunter auch die von Anne Bonny und Mary Read. Veröffentlicht wurde das Buch unter dem Pseudonym Captain Charles Johnson, dessen wahre Identität bis heute nicht aufgedeckt werden konnte. Wohl auch deshalb wird der Wahrheitsgehalt der Berichte in A General History heute angezweifelt.

BELIEBT

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    Dieser Kupferstich von Anne Bonny stammt aus einer niederländischen Übersetzung von Captain Charles Johnsons Buch.

    Foto von Gemeinfrei

    Das scheint der Autor bereits vor 300 Jahren vorhergesehen zu haben. Seinen Bericht über die beiden Piratinnen beginnt er mit einem Disclaimer: „Die merkwürdigen Vorfälle [Bonnys und Reads] ausschweifenden Lebens sind so, dass einige versucht sein könnten, die ganze Geschichte für einen Roman oder eine Romanze zu halten; aber sie wird von vielen tausend Zeugen gestützt wird, nämlich von den Bewohnern Jamaikas, die bei den Anhörungen anwesend waren und die Geschichte ihres Lebens gehört haben.“ 

    Laut Buch lief diese Geschichte folgendermaßen ab: Anne Bonny wurde als außereheliche Tochter eines Anwalts geboren, der sie nach dem Tod ihrer Mutter bei sich aufnahm. Um zu vermeiden, dass seine Kollegen von der unehelichen Tochter erfuhren, kleidete er sie in Männerkleidung und stellte sie als jungen Angestellten in seiner Firma vor. Als sie älter wurde, hoffte ihr Vater, für sie einen guten Ehemann zu finden und war enttäuscht, als Anne einen Seefahrer heiratete, mit dem sie schließlich Richtung Amerika verschwand. Dort soll Bonny den Piraten Jack Rackham kennengelernt haben, für den sie ihren ersten Mann verließ und mit dem sie – wieder als Mann verkleidet – als Teil seiner Piratencrew in die Karibik ging.

    In diesem Kontext traf sie Mary Read, die laut dem Autor des Buches als Kind ebenfalls als Junge verkleidet wurde, um der Familie einen Skandal zu ersparen. Auch sie soll auf dem Schiff Rackhams zunächst als Mann verkleidet Teil der Crew geworden sein – bis sich Anne Bonny in sie verliebte und die Crew die wahre Identität der Piratin erfuhr.

    Illustration der Piratin Mary Read von dem französischen Maler Alexandre Debelle bei einem Kampf in der Karibik.

    Foto von Alexandre Debelle, 1805–1897 / gemeinfrei

    Zweifel an der Geschichte

    Bis heute ist es A General History, das die meisten Informationen über das Leben von Bonny und Read liefert. Der amerikanische Journalist Tony Bartelme schreibt er in einem Essay: „Es gibt zwei Geschichten über Anne Bonny, diese berühmte Piratin, eine echte, die auf Fakten beruht, und eine andere, die viele für wahr halten, die aber nicht stimmt“. A General History habe nicht nur Unwahrheiten über das Leben von Pirat*innen insgesamt verbreitet – darunter die Prävalenz von Holzbeinen, Augenklappen und den bis heute bekannten Ausdruck „Arrgh“ –, sondern auch über das Leben der Pirat*innen, von denen es handelt.

    Dass er so sehr an den Geschichten zweifelt, liegt an der dünnen Beweislage: Es gibt nur wenige historische Dokumente, die die Geschichte über Bonny und Read verifizieren. Unter ihnen die Verkündigung in der Boston Gazette, dass die Crew um Rackham gefangen wurde und Schriften aus dem Gerichtsprozess, die beide Anne Bonny und Mary Reads Namen nennen. Auch wenn die Schreibweise variiert. 

    „Der Wahrheitsgehalt von A General History of Pyrates ist bestenfalls wackelig und sollte weder als genaues Nachschlagewerk für die Piratenaktivitäten im achtzehnten Jahrhundert angesehen werden, noch für die Piraten von denen es behauptet, eine Biographie zu sein“, schreibt auch Alexandra G. Wisner von der Harding University in ihrem Artikel Pirates and Propaganda: The Condemnation of Piracy in the Early Modern Era. Vielmehr eigne sich das Werk als Zeitzeugnis darüber, wie Piraten zu jener Zeit gesehen wurden.

    Gemälde aus dem Jahr 1920: Der weltbekannte Pirat Blackbeard in einem Kampf mit einem Captain der Royal Navy. Kämpfe zwischen Pirat*innen und britischen Offizieren und Kolonialherrschern kamen im frühen 18. Jahrhundert häufig vor, denn die Piraterie war lukrativ.

    Foto von Jean Leon Gerome Ferris, 1863-1930

    Mary und Anne: ein frühes ikonisches Liebespaar?

    So auch im Fall von Anne und Mary. A General History zeigt, wie sehr die Geschichte der beiden die Menschen damals faszinierte. Dazu gehört auch die Liebesbeziehung, die Bonny und Read miteinander geführt haben sollen. Sie ist einer der Gründe, warum die beiden Frauen auch heute noch oft im Gespräch sind. Denn Überlieferungen von nicht-heterosexuellen Paaren gibt es wenige aus der dieser Zeit. Die britische Historikerin Kate Williams betont zusätzlich die Tatsache, dass Bonny und Read schon im 18. Jahrhundert Geschlechtergrenzen gesprengt haben – und das nachweislich.

    In Kultur und Kunst sorgen die beiden Frauen bis heute für Inspiration: 2020 fertigte die britische Künstlerin Amanda Cotton die Statue Inexorable (unaufhaltsam) an. Sie habe mit ihrem Kunstwerk zeigen wollen, „wie man authentisch leben und man selbst sein kann“, schreibt Cotton auf ihrer Website

    Leben nach dem Prozess

    Klar ist: Anne Bonny und Mary Read hat es gegeben. Auch, dass sie dem Todesurteil durch Schwangerschaften entgingen, ist belegt. Doch was geschah danach mit ihnen? Aus weiteren historischen Dokumenten geht hervor, dass Mary Read nur wenige Monate nach dem Gerichtsprozess starb. Eine Datenbank aus Bestattungen bestätigt, dass „Mary Read, Pirat“  im Jahr 1721 in Jamaika beerdigt wurde. Anne Bonny starb ganze 12 Jahre später am selben Ort. Was sie in der Zwischenzeit erlebte, ist unklar. Auch das Alter der Frauen zum Zeitpunkt ihres Todes ist unbekannt.

    Bonny und Read verschwinden heute meist im Schatten von Legenden wie Blackbeard oder Captain Morgan. Menschen wie die Künstlerin Cotton wollen das ändern. Ob die Geschichte nun so stimmt, wie sie heute überliefert wird, ist dabei wohl zweitrangig: Schließlich wurde auch über Blackbeard und Captain Morgan in A General History berichtet – und der Verlauf ihrer Leben wurde ohne Frage ähnlich ausgeschmückt wie der von Bonny und Read. 

    Keine Piratinnen, aber anders kriminell: In der sechsten Staffel „Schmugglern auf der Spur“ deckt National Geographic ab dem 04.11.2023 um 20:15 immer samstags die Machenschaften internationaler Banden auf.  National Geographic und National Geographic WILD empfangt ihr über unseren Partner Vodafone im GigaTV Paket.  

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