Einzigartige Gen-Datenbank: Wie Multiple Sklerose und Alzheimer nach Europa kamen

Schon unsere Vorfahren litten unter chronischen Erkrankungen – vor Tausenden von Jahren. Ein Forschungsprojekt zeigt, wo die Ursprünge der Krankheiten liegen und warum sie heute in bestimmten Regionen Europas verbreiteter sind als in anderen.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 19. Jan. 2024, 08:43 MEZ
Ein Bronzerelief der Jamnaja, auf der Menschen und Tiere beim Wandern dargestellt sind.

Woher kommen unsere genetisch vererbten Erkrankungen? Die Antwort darauf liegt Jahrtausende zurück – und hat ihren Ursprung in alten Kulturen wie dem Volk der Jamnaja. 

Foto von University of Cambridge, SayoStudio

Multiple Sklerose, Alzheimer, Depressionen: Wie anfällig wir für bestimmte Krankheiten sind, bestimmen größtenteils unsere Gene. Unsere DNA, die von unseren Vorfahren vererbt wird, enthält Informationen darüber, wie hoch unser jeweiliges Erkrankungsrisiko ist. Hatte also beispielsweise schon unsere Großmutter Alzheimer, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass wir früher oder später auch an Alzheimer erkranken werden. 

Doch wo liegt der Ursprung dieser vererbten Erkrankungen? Ein internationales Forschungsteam hat darauf nun im Rahmen eines mehrjährigen Projekts Antworten gefunden. Mithilfe einer neuen Gen-Datenbank, deren älteste DNA 34.000 Jahre alt ist, konnten die Wissenschaftler*innen zurückverfolgen, wo die Krankheiten zum ersten Mal auftauchten – und wie sie sich im Laufe der Zeit in Europa verbreiteten.

Die Ergebnisse ihrer vier Studien sind bahnbrechend für die Krankheitsforschung. Sie sind in der Zeitschrift Nature erschienen. 

Wanderung und Mobilität im Anthropozän
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von National Geographic CreativeWorks

Einzigartige Datenbank enthält Gene von der Steinzeit bis zum Mittelalter

Der erste Schritt des Projekts bestand im Aufbau einer einzigartigen Gen-Datenbank. Über fünf Jahre hinweg arbeitete das Team um Eske Willerslev, Populationsgenetiker an den Universitäten Cambridge und Kopenhagen, Thomas Werge, Experte für biologische Psychiatrie an der Universität Kopenhagen, und Rasmus Nielsen, Computerwissenschafter an der kalifornischen Universität Berkeley, gemeinsam mit diversen Museen daran. 

Es ist die weltweit erste DNA-Datenbank prähistorischer Menschen. Darin enthalten: sequenziertes Erbgut aus fossilen Knochen und Zähnen von fast 5.000 Menschen aus Westeuropa und Asien. „Das Alter der Proben reicht vom Mesolithikum und Neolithikum über die Bronzezeit, die Eisenzeit und die Wikingerzeit bis ins Mittelalter“, heißt es in einer Meldung der University of Cambridge. An der uralten DNA lassen sich verschiedene Dinge ablesen: von den Wanderungsbewegungen der Urmenschen bis hin zu der Wahrscheinlichkeit eines Individuums, eine Hirnkrankheit zu entwickeln.

Mithilfe eines Vergleichs der Genanalysen aus der Datenbank mit heutigen DNA-Daten war es dem Team möglich, die großen Wanderungsbewegungen der Steinzeit zu kartieren – und den Ursprung unserer heutigen Gene und chronischen Krankheiten nachzuweisen. 

Multiple Sklerose: Aus dem Osten nach Nordwesteuropa

Die erste Krankheit, die das Forschungsteam mithilfe der neuen Datenbank analysierte, war Multiple Sklerose (MS): eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die vor allem in Nordeuropa verbreitet ist. Obwohl bereits bekannt ist, dass MS einen genetischen Ursprung hat, konnte man bisher nicht ermitteln, wo und wann sie erstmals aufgetreten ist. Das konnten die Forschenden nun ändern.

BELIEBT

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    Mithilfe der Genanalysen aus der Datenbank und den heutigen DNA-Daten konnte das Team die Krankheit bis zu ihrem historischen Ursprung zurückverfolgen. Dieser liegt laut Studie in der pontischen Steppe – einer Region, die sich heute über Teile der Ukraine, Südwestrusslands und Westkasachstans erstreckt. Die 233 heutigen Genvarianten, die zu einem erhöhten MS-Risiko führen, konnten die Forschenden bereits in den Knochen und Zähnen der Jamnaja nachweisen – einem Reitervolk, das vor 5.000 Jahren über die pontische Steppe nach Nordwesteuropa wanderte. Mit im Gepäck auf ihrer Reise: die Gene, die das Risiko einer Person, an MS zu erkranken, erheblich erhöhen. 

    „Es muss einen entscheidenden Vorteil für die Jamnaja gehabt haben, mit den MS-Risikogenen zu leben“, sagt Projektleiter Willerslev. Die Forschenden gehen von einer Schutzfunktion aus: Die Risikogene könnten die Jamnaja davor bewahrt haben, Infektionskrankheiten von ihren Schafen und Rindern zu übernehmen. Bei unseren heutigen medizinischen und hygienischen Standards wird diese Schutzfunktion allerdings überflüssig. Was bleibt, ist das erhöhte Risiko, an MS zu erkranken. 

    Warum haben so viele Nordeuropäer Multiple Sklerose?

    Die Studienergebnisse erklären allerdings noch viel mehr: zum Beispiel das mysteriöse Nord-Süd-Gefälle der Krankheit. Seit Jahren rätseln Forschende, warum es in Nordeuropa mehr als doppelt so viele MS-Fälle gibt wie in Südeuropa. Der Grund dafür liegt auch in den Wanderungsbewegungen der Jamnaja. Sie zogen vor 5.000 Jahren hauptsächlich in den Norden. So gelangten auch die Risikogene größtenteils dorthin und verbreiteten sich in diesem Gebiet. 

    „Die Ergebnisse haben uns alle erstaunt. Sie bringen uns einen großen Schritt weiter in unserem Verständnis der Entwicklung von MS und anderen Autoimmunerkrankungen“, sagt William Barrie, Bioinformatiker und Erstautor der MS-Studie. „Wir können jetzt [...] versuchen, MS als das zu behandeln, was sie tatsächlich ist: das Ergebnis einer genetischen Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen, die schon in unserer Vorgeschichte auftraten“, sagt Co-Autor Lars Fugger, Professor and beratender Arzt am John Radcliffe Hospital der University of Oxford. 

    “Diese Ergebnisse haben uns alle erstaunt. Sie bringen uns einen großen Schritt weiter in unserem Verständnis der Entwicklung von MS und anderen Autoimmunerkrankungen. ”

    von William Barrie
    Bioinformatiker

    Wie Alzheimer und Diabetes nach Osteuropa kamen

    In einer weiteren Studie des Forschungsprojekts konnte das Team auch Krankheitsrisiken von Osteuropäer*innen und Südeuropäer*innen von der prähistorischen DNA ableiten. So sind Osteuropäer*innen beispielsweise anfälliger für Alzheimer und Diabetes Typ 2 als andere Bevölkerungsgruppen.Ihre DNA geht im Durchschnitt größtenteils auf Jäger-und-Sammler-Gruppen zurück, welche die Risikogenvariante vor 40.000 Jahren mit ihren Wanderungen gen Osten nach Osteuropa brachten. Unterdessen tragen Südeuropäer*innen hauptsächlich die DNA neolithischer Bauern in sich, die sich vor 10.000 Jahren im Süden niederließen. Ihr Erbgut erhöht das Risiko, an einer bipolaren Störung zu erkranken. 

    Für die künftige Krankheitsforschung sind die Ergebnisse wegweisend. In einem nächsten Schritt sollen nun noch andere neurologische Erkrankungen auf ihren Ursprung und ihre Verbreitung hin untersucht werden – darunter Parkinson, ADHS und Schizophrenie. 

     

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