Wie die „Boatpeople“ aus Vietnam nach Deutschland kamen
Acht Tage trieben diese 35 Menschen auf dem offenen Meer, bevor sie gerettet wurden. Das Bild entstand am 15. Mai 1984.
Die Flucht beginnt in der Dunkelheit. In einer Nacht im Juni 1979 steigt der Teenager Chí Dũng Ngô mit 241 anderen Vietnames*innen in ein Fischerboot. Es ist knapp 20 Meter lang und fünfeinhalb Meter breit. Tagelang haben er und seine Geschwister in Cà Mau, der südlichsten Provinz Vietnams, auf die Überfahrt gewartet. Nach Malaysia oder Thailand sollte es gehen. Am Ende wird er zunächst in Indonesien landen.
Seine Eltern haben die Flucht für ihn und seine Geschwister organisiert, haben Behörden bestochen und Gold bezahlt, in der Hoffnung, den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Bevor das Boot ins Südchinesische Meer sticht, kommen sie zur Verabschiedung. „Der Abschied fiel mir nicht schwer. Die Vorstellung von einer Zukunft, die ich selbst gestalten konnte, und die Freude, wieder zur Schule gehen zu können, waren zu groß“, erinnert sich der heute 60-Jährige. „Ich habe meine Mutter fest umarmt, ein letztes Mal ihren warmen, vertrauten Duft eingeatmet. Ich sollte sie erst als junger Mann wiedersehen.“
Das Ende des Vietnamkriegs und seine Folgen
So wie Chí Dũng Ngô ziehen nach Ende des Vietnamkrieges fast zwei Millionen Menschen die Ungewissheit dem Leben ihrer Heimat vor. Denn das kommunistische Regime macht ihnen das Überleben immer schwerer. Der Sieg des kommunistischen Nordens über den Süden am 30. April 1975 und der Fall Saigons markieren eine Zäsur im Leben vieler Südvietnames*innen. Während der Norden die Wiedervereinigung des Landes als militärische Befreiung ansieht, ändert sich das Leben im Süden grundlegend. Hunderttausende politische Gegner*innen sowie ehemalige Mitarbeiter*innen der früheren südvietnamesischen Regierung und Armee werden interniert, gefoltert, hingerichtet oder müssen Zwangsarbeit leisten und politische Umerziehung über sich ergehen lassen. Zehntausende sterben in den Umerziehungslagern.
Die ersten südvietnamesischen Flüchtenden nutzen ihre privaten Ressourcen, um Vietnam auf dem Landweg zu verlassen. Als Antwort darauf riegelt die kommunistische Regierung damals die Grenzen ab. So bleibt den Menschen nur das Südchinesische Meer als Ausweg. Sie werden als vietnamesische „Boatpeople“ in die Geschichte eingehen.
Dieses Bild ist das einzige, das Chí Dũng Ngô von seiner Zeit auf der Flucht hat. Es wurde im Flüchtlingslager in Indonesien aufgenommen.
Wenig Perspektive und noch mehr Krieg
Zwischen 1975 und 1976 flüchten zunächst nur wenige Tausend aus dem Land. Die Zahl steigt mit zunehmenden wirtschaftlichen Repressionen und politischen Geschehnissen. Zu den ohnehin schwierigen Lebensbedingungen kommt der Einmarsch Vietnams in Kambodscha im Dezember 1978, um das Terrorregime der Roten Khmer zu beenden. Da die Roten Khmer von China unterstützt werden, besetzt China Grenzstädte in Vietnam. Nach heftigen Kämpfen zieht sich China wieder zurück. Viele Menschen in Vietnam sind damals chinesisch-stämmig. Sie verlassen das Land aus Furcht, nach Chinas Intervention noch stärker rassistisch und ökonomisch diskriminiert zu werden. Viele junge Vietnamesen*innen wollen unterdessen nicht in weitere Kriegshandlungen verwickelt werden. Eltern sehen keine Perspektive für ihre Kinder im Heimatland.
So auch die Eltern von Chí Dũng. „Mein Vater hatte als Bauunternehmer für die südvietnamesische Regierung gearbeitet. Wir gehörten zu den unerwünschten Elementen“, erzählt er heute. Dem Vater werden Land und Haus genommen, Chí Dũng der Zugang zur höheren Schule verwehrt. „Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als aus Vietnam rauszukommen“, erinnert er sich.
Im Juni 1979 kauert er schließlich im Rumpf eines Bootes. Sieben Tage lang, Schulter an Schulter, Knie an Knie mit 241 anderen. „Fast jeder übergab sich. Dann drehte man sich um und tat, als wäre nichts geschehen“, erzählt Chí Dũng. Der Bootsführer, der ihn und die anderen Menschen aufs offene Meer manövrierte, war kein erfahrener Seefahrer, sondern ein Fischer. „Er hatte die Orientierung verloren und zu allem Überfluss auch noch die Schiffsschraube. „Zum ersten Mal während der Fahrt dachte ich an den Tod: Wie ist es zu sterben? Was tun mit den Wünschen, die zu Lebzeiten unerfüllt geblieben sind? Trotzdem verspürte ich keine Angst.“
Thị Mai Vũ und Hữu Hùng Hoàng bei einer Schifffahrt auf dem Rhein. Auf ihrer Flucht aus Vietnam wurden sie im September 1979 vom deutschen Hilfsschiff „Cap Anamur“ gerettet. Ihre Flucht endete in Deutschland, heute leben sie in Troisdorf.
Am siebten Tag stößt das Boot auf einen Öltanker, der die Menschen an Bord auf die winzige indonesische Insel Siantan bringt. Von dort aus geht es weiter ins Flüchtlingslager Galang auf der gleichnamigen indonesischen Insel. Vier lange Monate vergehen. „Die Ungewissheit war schwer zu ertragen“, sagt Chí Dũng. Sein großes Ziel ist damals Amerika. „Aber die Amerikaner wollten keine Leute mehr aufnehmen. "Ohne Verwandte oder andere Verbindungen war es aussichtslos." Deutschland gehört nicht zu seinen favorisierten Ländern. „Von Amerika und Australien hatte ich eine Vorstellung, aber Deutschland? Das war fremd“, sagt er. Doch über Bekannte der Familie, die bereits in Deutschland wohnen, kann er dort einen Asylantrag stellen. Er wird bewilligt. Die Geschwister können nach Deutschland einreisen.
Nicht alle hatten damals so viel Glück. Mehr als 500.000 Menschen sterben auf der Flucht oder verschwinden. Piraten rauben Boote aus, Frauen werden teilweise Opfer von sexualisierter Gewalt.
Erstmals „humanitäre Flüchtlinge“ in Deutschland
Etwa 1,6 Millionen „Bootsflüchtlinge“ werden zwischen 1975 und 1997 in Drittländer umgesiedelt. Die Bundesrepublik Deutschland reagiert anfangs zögerlich auf die Aufnahme von Indochina-Geflüchteten. Bis November 1978 werden nur 1.300 Menschen aufgenommen. Frankreich und die USA gewähren zu diesem Zeitpunkt bereits 43.000 beziehungsweise 164.000 Menschen Asyl. Die spätere Erhöhung der Kontingente und die Einflugaktion Zehntausender Geflüchteter nach Deutschland wird durch das Drängen verschiedener Akteure vorangetrieben: Medien, zivilgesellschaftliche Gruppen, politische Opposition und internationale Bündnispartner.
1980 wird in Deutschland die Kategorie der „humanitären Flüchtlinge“ eingeführt, um den Vietnamesen lange Asylverfahren zu ersparen. Dadurch erhalten sie sofortigen Flüchtlingsstatus und staatsbürgerliche Rechte, ohne das langwierige Asylanerkennungsverfahren durchlaufen zu müssen. Die vietnamesischen „Boat People“ sind die erste größere Gruppe außereuropäischer Geflüchteter, die nach Deutschland kommt. Bis Ende der 1980er Jahre investiert die Bundesrepublik geschätzte 52 Millionen D-Mark in Rettungsaktionen, Sprachkurse, Arbeitsvermittlung und Wohnungssuche für südostasiatische Geflüchtete.
Gründung der Hilfsorganisation Cap Anamur
Die Bilder und Berichte über den Vietnamkrieg und die Menschen, die nach Kriegsende in den „Nussschalen“ über das Südchinesische Meer fliehen, flimmern Ende der 1970er Jahre fast täglich auf den Bildschirmen in die Wohnzimmer der Fernsehzuschauer*innen und berühren Millionen. Der Vietnamkrieg wird als erster „Fernsehkrieg“ oder „Living Room War“ bezeichnet. Auch der Journalist Rupert Neudeck ist betroffen von dem Schicksal der Südvietnames*innen – seine eigene Kindheit ist geprägt durch die Fluchterfahrung seiner Familie. Zusammen mit seiner Frau Christel gründet er 1979 die Hilfsorganisation Cap Anamur. Zwischen 1979 und 1987 sind drei Schiffe unter dem Namen Cap Anamur I, II und III unterwegs, die rund 11.000 vietnamesische Geflüchtete aus Seenot retten. Mehr als 35.000 Menschen werden nach Angaben der Organisation in diesem Zeitraum an Bord medizinisch versorgt.
Zu den ersten gehören Hữu Hùng Hoàng und seine Frau Thị Mai Vũ. Sie werden im September 1979 von der Cap Anamur I aus dem Meer gerettet. Das Paar ist aus seinem Heimatort Vũng Tàu geflohen, einem Fischerdorf an der Küste des Südchinesischen Meeres – dort, wo der Mekong in den Ozean mündet. Die Angst vor Verfolgung und Internierung ist größer als die Angst vor dem offenen Wasser. „Wir wussten von Anfang an, dass die Flucht auf dem Boot gefährlich ist“, erzählt Hữu Hùng heute. „Aber wir waren jung, hatten gerade geheiratet und sahen unsere gemeinsame Zukunft nicht in Vietnam.“ Genauso wie Chí Dũng haben sie keine Angst, als sie in das völlig überladene Fischerboot steigen.
174 Menschen auf einem Boot, vereint in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Drei Tage lang sind sie unterwegs. Schon in der ersten Nacht geraten sie in einen schweren Sturm. Hữu Hùng erinnert sich: „Vor uns war alles dunkel und schwarz wie die Nacht, obwohl es erst 16 Uhr war. Dann begann der Sturm heftig zu toben. Wir alle waren sicher, es sei das Ende gekommen.“
Doch sie kentern nicht, sondern werden am dritten Tag von einem deutschen Frachtschiff gerettet. „Der Seegang war so hoch, dass unser Fischerboot an der Wand des Frachtschiffes zu zerschellen drohte. Mit einem Seil wurden zuerst die Kinder und Älteren, dann wir auf den Frachter gezogen. Unser erstes Gefühl der Erleichterung wich einem Schreckensmoment: Das deutsche Frachtschiff war auf dem Weg nach Vũng Tàu – dem Ort, aus dem wir geflohen waren.“ Doch sie haben Glück. Der Kapitän kontaktiert das Hilfsschiff Cap Anamur, das zu diesem Zeitpunkt bereits im Südchinesischen Meer kreuzt.
Chí Dũng Ngô mit seinem Hund in Schwetzingen. Er floh 1979 mit 241 anderen Vietnames*innen in einem Fischerboot übers Meer. Seine Flucht endete am Stuttgarter Flughafen. Heute lebt er in Schwetzingen.
Ankunft in Deutschland
Nach einer Woche auf der Cap Anamur werden Hữu Hùng und Thị Mai zum Flughafen in Singapur gebracht. Sie fliegen nach Indien und von dort aus weiter nach Düsseldorf. Ihre vorletzte Station ist ein Flüchtlingslager in Unna, in dem sie sieben Tage bleiben, bis sie schließlich in kleinen Gruppen auf verschiedene Bundesländer verteilt werden. Für das Ehepaar wird es Troisdorf, eine Stadt bei Bonn, in der sie bis heute leben.
Mittlerweile ist Deutschland ihre Heimat geworden. Ihre vier Kinder sind hier geboren. Hữu Hùng arbeitet bis zum Eintritt in den Ruhestand in der Stahlindustrie, während sich Thị Mai um die Kinder kümmert. Das hindert sie jedoch nicht daran, verschiedene Nebentätigkeiten anzunehmen, darunter Positionen als Reinigungskraft, Näherin in einer Hutfabrik und Verkäuferin in einem Textilwarengeschäft.
45 Jahre sind seit der Flucht aus Vietnam und der Ankunft in Deutschland von Hữu Hùng und Thị Mai vergangen. Doch obwohl sie damals nicht bleiben wollten: Das Gefühl der Verbundenheit zu Vietnam ist geblieben.
Hữu Hùng ist dankbar für die Hilfe, die er und seine Familie in Deutschland erhalten haben und über die Seenotrettung. „Die Hoffnung auf eine sichere Zukunft war das Einzige, was wir damals auf dem Boot hatten.” Für ihn und seine Frau ist diese Hoffnung Realität geworden.
Im Winter 1979 endet auch Chí Dũngs Odyssee in Deutschland – am Stuttgarter Flughafen. Seine neue Heimat ist vor allem kalt. Die ersten Jahre sind hart. Er und seine Geschwister kommen in ein Heim der Caritas in Freiburg. Vier Stunden täglich für acht Monate lernen sie Deutsch. Dann kommt Chí Dũng ins Internat. Er schafft den Sprung aufs Gymnasium, studiert Germanistik. In Deutschland hat er endlich die Perspektive, die ihm in Vietnam gefehlt hat.
Heute lebt er mit seiner Familie in Schwetzingen und führt dort ein Übersetzungsbüro. Er sagt: „Ich habe ein Leben mit allem, was dazugehört. Darunter auch eine Vergangenheit, die mich nicht immer glücklich stimmt. Aber sie gehört eben zu mir.“ Die Geringschätzung, mit der heute über Geflüchtete gesprochen wird, macht ihn traurig. „Wenn dir alles weggenommen wird und du keine Möglichkeit hast, dich weiterzuentwickeln, würdest du dann nicht auch gehen?“
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