Cancel Culture: Kann man Werk und Künstler voneinander trennen?

Immer wieder geraten Kunstschaffende durch kontroverse Handlungen oder Aussagen in Verruf. Ein Berliner Studienteam hat nun untersucht, welchen Einfluss negatives Wissen über Künstler*innen auf die Wahrnehmung ihrer Werke hat.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 23. Mai 2024, 10:33 MESZ
Besucher des Museum of Modern Art betrachten ein Gemälde von Pablo Picasso

Besuchende des Museum of Modern Art in New York betrachten das Picasso-Gemälde Les Demoiselles D’Avignon. Der spanische Maler und Grafiker Pablo Picasso steht für seinen Umgang mit Frauen posthum in der Kritik. 

Foto von Bumble Dee / adobe Stock

Unter dem Begriff Cancel Culture versteht man die öffentliche Ächtung oder den Ausschluss von Personen, denen diskriminierende, rassistische, antisemitische, frauenfeindliche oder trans- oder homophobe Handlungen oder Aussagen vorgeworfen werden. Besonders große Aufmerksamkeit erlangen Fälle, in denen Prominente im Mittelpunkt der Debatte stehen.

Social Media wirkt dabei wie ein Brandbeschleuniger, denn durch sie werden nicht nur die Vorwürfe tatsächlicher und vermuteter Vergehen schneller und weiter verbreitet, sondern auch Boykottaufrufe. Gleichzeitig entsteht so eine stärkere Sensibilisierung dafür, welche Taten und Äußerungen sozial akzeptabel oder inakzeptabel sind. Dadurch erklärt sich, warum in den vergangenen Jahren immer öfter Personen des öffentlichen Lebens in den Fokus der Cancel Culture geraten sind.

Handelt es sich bei diesen Personen um Kunstschaffende, bringt das Fans ihrer Werke in eine schwierige Position: Darf man die Harry Potter-Bücher noch mögen, obwohl die Autorin J. K. Rowling mehrfach mit transphoben Äußerungen Schlagzeilen gemacht hat? Sollte man Filme von Woody Allen boykottieren, Musik von R. Kelly aus seiner Playlist verbannen und sich nie wieder einen Picasso ansehen? Ist es erlaubt, Urheber*in und Werk losgelöst voneinander zu betrachten – und geht das überhaupt?

Psychologisches Experiment mit Kunstwerken

Letztere Frage haben sich auch Forschende des Instituts für Psychologie der Humboldt Universität zu Berlin (HU) gestellt. Im Rahmen einer neurokognitiven Studie, die in der Zeitschrift Scientific Report erschienen ist, untersuchten sie, ob negatives Wissen über Künstler*innen einen Einfluss darauf hat, wie ihre Werke wahrgenommen werden.

Im Zuge eines Experiments ließ das Forschungsteam Studienteilnehmende zunächst eine Reihe von Gemälden bewerten, um die neutrale Wahrnehmung zu testen. Abgefragt wurde das subjektive Gefallen, Einschätzungen zur Qualität der Werke und das Maß der Erregung, das sie in den Betrachtenden auslösen.

Im nächsten Schritt erhielten die Teilnehmenden Informationen zu den – teils bekannten, teils unbekannten – Künstler*innen. Anschließend warfen sie, ausgestattet mit diesem neuen Wissen, einen zweiten Blick auf die Gemälde, Währenddessen wurde ihre Gehirnaktivität mithilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) aufgezeichnet, das es ermöglicht, schnelle, unwillkürliche Reaktionen des Gehirns von langsameren, kontrollierten zu unterscheiden.

BELIEBT

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    Negatives Wissen führt zu schlechter Bewertung

    Das Ergebnis: Hatten Teilnehmende zuvor negatives Wissen über eine Künstlerin oder einen Künstler erlangt und schauten sich deren Werke an, zeigte das EEG beim ersten Blick eine erhöhte emotionale Erregung. Bei der später auftretenden kontrollierten kognitiven Verarbeitung des Sinneseindrucks war hingegen kein starker Ausschlag zu erkennen.

    Bei der anschließenden Befragung wurden die Bilder von kontroversen Künstler*innen von den Teilnehmenden weniger positiv bewertet und als qualitativ schlechter eingeschätzt. Sie riefen außerdem eine größere innere Erregung hervor. Der Grad der Bekanntheit der Künstler*innen hatte dabei keinen Einfluss.

    „Die untersuchten Veränderungen im Gehirn deuten darauf hin, dass das Bild nicht nur anders bewertet, sondern auch anders wahrgenommen wird“, so Rasha Abdel Rahman, Professorin für Neurokognitive Psychologie von der Humboldt-Universität zu Berlin.

    Eine Frage der Moral

    Die Studie zeigt: Werk und Künstler*in lassen sich nicht voneinander trennen – ist negatives Wissen über Kunstschaffende bekannt, fließt dieses in die Wahrnehmung ihrer Kunst ein. Das Dilemma, in dem sich Fans bestimmter Werke nach dem Bekanntwerden der Verfehlungen ihrer Urheber*innen wiederfinden, löst ihr Gehirn aber zumindest teilweise für sie, indem es die Werke automatisch schlechter beurteilt.

    Keine Antwort können die Berliner Forschenden auf die Frage geben, ob man Künstler*innen, die in Verruf geraten sind, weiterhin unterstützen soll oder darf. Diese moralische Entscheidung muss weiterhin jeder und jede für sich persönlich treffen.

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