Ohne Luftverschmutzung kein Impressionismus?

Die Industrialisierung veränderte die Umwelt in nie da gewesenem Maß. Eine Studie zeigt: Das hinterließ auch Spuren in der Kunst.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 17. Feb. 2023, 06:59 MEZ
Die Skyline Londons in verwischten Blautönen.

Immer wieder zog es den französischen Maler Claude Monet nach London, wo er typische Stadtansichten auf Leinwand brachte – so zum Beispiel das House of Parliament, von dem er diese neblige Version zwischen 1900 und 1903 malte.

Foto von Art Institute of Chicago / Wikicommons

Für Klimawissenschaftler ist die Industrialisierung ein wichtiger Referenzpunkt, denn sie markiert den Beginn der anthropogenen – also menschengemachten – Klimaveränderungen. Um den Beitrag der Menschen zur Erderwärmung zu berechnen, werden heutige Emissionswerte mit denen aus der Vor- oder Anfangszeit der Industrialisierung verglichen. Das Problem: Zu Zeiten der Industriellen Revolution, die Mitte des 18. Jahrhunderts begann, wurden keine flächendeckenden Messungen durchgeführt.

Aussagekräftige Daten über die damaligen Umweltbedingungen müssen also auf andere Weise ermittelt werden, etwa anhand von Jahresringen von Bäumen oder Eisbohrkernen. Die Klimaphysikerin Anna Lea Albright von der Sorbonne in Paris und der Klimawissenschaftler Peter Huybers von der Harvard University haben nun eine weitere, überraschende Datenquelle ausgemacht: die Malerei.

„Wir wollten herausfinden, ob es einen Zusammenhang zwischen den Veränderungen der atmosphärischen Bedingungen während der Industrialisierung und den Veränderungen im Malstil gibt“, heißt es in ihrer Studie, die in der Zeitschrift PNAS erschienen ist. Um dieses Ziel zu erreichen, analysierten Albright und Huybers Werke des französischen Malers Claude Monet und des Engländers William Turner – mit interessanten Ergebnissen. „Die Industrialisierung veränderte den Umweltkontext, in dem Turner und Monet malten“, so Albright. Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass sie die zunehmende Verschmutzung der Atmosphäre auf ihren Gemälden erfassten.

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Aerosole und ihr Effekt auf das Licht

Im Zuge der Industriellen Revolution nahm die Luftverschmutzung in nie gekanntem Ausmaß zu. Um die Dampfmaschinen in den Fabriken anzutreiben, wurde massenweise Kohle verbrannt und dabei enorme Mengen Schwefeldioxid freigesetzt. Nirgendwo auf der Welt wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts so viel von dem giftigen Gas ausgestoßen wie in der englischen Hauptstadt London, die darum den Beinamen „Big Smoke“ trug.

Aerosole in der Luft beeinflussen unter anderem die Intensität und Streuung des natürlichen Lichts: Dieses erscheint intensiver und heller, der Kontrast zwischen ansonsten klar erkennbaren Objekten wird verringert. Effekte, die auf impressionistischen Gemälden aus der Zeit der Industrialisierung oft zu sehen sind.

Für Ihre Studie konzentrierten sich Albright und Huybers auf Werke von Turner und Monet, weil beide Künstler bestimmte Landschaften und Stadtansichten wiederholt auf Leinwand gebannt hatten. Dadurch war ein Vergleich der atmosphärischen Bedingungen zu verschiedenen Zeiten möglich.

Bevor Albright und Huybers sich allerdings der Kunst zuwandten, suchten sie nach aktuellen Fotos der auf den ausgewählten Gemälden abgebildeten Motive und verglichen den Kontrast an klaren Tagen und solchen mit hoher Smogbelastung. Mithilfe der so ermittelten Daten entwickelten sie einen Algorithmus, der auf jeder Art von Abbildung – egal ob Foto oder Gemälde – die Menge der Aerosole bestimmen kann, die das Bild trüben.

Insgesamt wandten sie den Algorithmus auf 60 Werke von Turner und 36 von Monet an. Dabei zeigte sich, dass der Grad der Luftverschmutzung, der laut der Analyse auf den Gemälden herrschte, dem entsprach, der für den jeweiligen Entstehungszeitpunkt des Werks mithilfe anderer Modelle geschätzt worden war.

Stilmittel oder Abbild einer schmutzigen Realität?

Vor allem in Turners Werken, die zwischen den Jahren 1796 und 1850 entstanden, ist der Einfluss der steigenden Emissionen deutlich zu erkennen. Im Vergleich zu seinen frühen Bildern sind die Konturen auf späteren Arbeiten sehr viel unschärfer. Malte er zu Beginn noch mit gesättigten Farben, kamen im Laufe der Zeit immer mehr Pastelltöne zum Einsatz.

BELIEBT

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    William Turner schuf sein Gemälde The Thames above Waterloo Bridge im Jahr 1830, als die Industrielle Revolution in London bereits seit Jahrzehnten im vollen Gange war.

    Foto von Tate, London, 2011 / Wikicommons

    Die lebensechte Darstellung von Licht und atmosphärischen Bedingungen ist einer der Schwerpunkte des Impressionismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam. „Monet und Turner gehören zu den produktivsten und bekanntesten Künstlern, deren Werke das Industriezeitalter umspannen“, heißt es in der Studie. „Aber auch Gemälde anderer Künstler, die Stadtlandschaften und atmosphärische Phänomene darstellen, stimmen mit unserem vorgeschlagenen Modell überein“. Die Studienautoren werfen darum die Frage auf, ob die für den Impressionismus charakteristischen, verschwommenen Umrisse und helle, ungesättigte Farben mehr als nur ein Stilmittel waren.

    Dafür, dass die Vertreter des Impressionismus ihre Umgebung realistisch wiedergaben, spricht, dass nicht alle Gemälde dieser Kunstepoche nebelig und konturarm sind. Das Motiv macht hierbei den Unterschied: Künstler, die dem Smog der Städte entflohen und auf dem Land malten, schufen Bilder, die weitaus kontrastreicher und in der Farbwahl satter waren, als die von William Turner. 

    Zusammenspiel von Umwelt und Kunst

    Ein weiteres Merkmal des Impressionismus ist die unmittelbare Darstellung von Momenten. Impressionisten malten, was sie sahen. Auch das spricht dafür, dass die Smogbelastung der damaligen Zeit auf den Gemälden von Monet und Turner lebensecht dargestellt ist und sich für die Analyse der damaligen Luftverschmutzung eignet. Albright und Huybers räumen jedoch ein, dass die Ableitung von Umwelttrends vergangener Zeiten auf Basis von zeitgenössischen Kunstwerken nicht weniger komplex ist, als die aus Baumringen oder Fossilien – zumal im Fall der Studie auch die künstlerische Interpretation ein Faktor ist.

    In jedem Fall zeige die Studie den starken Zusammenhang zwischen Umwelt und Kunst. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Umweltveränderungen einen kreativen Impuls lieferten“, heißt es zum Abschluss der Studie. „Und sie deuten darauf hin, dass Veränderungen der atmosphärischen Eigenschaften auch die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, beeinflussen – sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn.“

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