Die verbotenen Evangelien: Warum so wenig über Jesus’ Kindheit bekannt ist

In der Bibel gibt es nur eine Geschichte über den jungen Jesus. Wohl aus gutem Grund: Im Kindheitsevangelium nach Thomas erscheint der Sohn Gottes wenig christlich, sondern vor allem jähzornig. Über die verbotenen Geschichten einer Religion.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 8. Mai 2024, 08:39 MESZ
Zeichnung des jungen Jesus, der von anderen Kindern bei Erwachsenen angeklagt wird.

Kinder klagen Jesus bei Erwachsenen an. Im Kindheitsevangelium nach Thomas versetzt der junge Jesus Menschen in Angst und Schrecken.

Foto von Gemeinfrei / Klosterneuburger Evangelienwerk, fol. 27r.

Matthäus, Markus, Lukas und Johannes – die vier Evangelien sind die zentralen Texte des Neuen Testaments. Sie waren allerdings längst nicht die einzigen Anwärter für die heilige Schrift der Christen: Bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. gab es diverse Handschriften, die jeweils unterschiedliche Aspekte von Jesus’ Leben beleuchteten. Diese entstanden aus den verschiedenen christlichen Strömungen, die es zu dieser Zeit gab.

Aus dem Kanon der Bibel wurden die meisten dieser Texte jedoch gestrichen – unter anderem, weil sie nicht mit dem Alten Testament übereinstimmten oder die Nähe zu den Aposteln nicht gegeben war. Auffällig ist aber auch: Manche der nicht aufgenommenen Schriften enthalten kritische Aspekte über die Figur Jesus Christus. So auch ein Evangelium über Jesus’ Kindheit. Die Texte zeichnen ein kontroverses Bild vom Sohn Gottes und wurden – trotz ihrer Beliebtheit – mit abgeschlossener Kanonisierung der Bibel verboten.

Das Kindheitsevangelium nach Thomas

Im Neuen Testament gibt es Geschichten über die Geburt Jesu – und viele, die ihn als 30- bis 40-jährigen Mann porträtieren. Und dazwischen: lediglich eine Episode in einem Tempel in Jerusalem, wo der 12-jährige Jesus die Schriftgelehrten mit seinem Verständnis beeindruckt. Darüber hinaus erfährt man so gut wie gar nichts über die Kindheit und Jugend der religiösen Figur. 

Im Kindheitsevangelium nach Thomas sieht das anders aus. Die apokryphe Schrift – gemeint sind damit jüdische oder christliche Geschichten ungeklärter Herkunft, die es nicht in den biblischen Kanon geschafft haben – stammt von einem unbekannten Autor und ist vermutlich Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstanden. Sie enthält verschiedene Passagen über die Figur Jesus im Alter von fünf bis zwölf Jahren. Einige erzählen von frühen Wundern des Sohn Gottes, andere zeigen ihn überraschend jähzornig.

Jesus’ Kindheit: Geschichten über einen jähzornigen Jungen

Eine der ersten Geschichten handelt vom fünfjährigen Jesus, der während des Sabbat am Bach spielt und Tümpel anlegt. Im Folgenden vollbringt er zwei Wunder: Jesus reinigt das Wasser und erweckt zwölf aus Lehm geformte Spatzen zum Leben. Soweit passt die Beschreibung der Figur zu den biblischen Texten. Dann passiert das Unerwartete: Der Sohn eines Hohepriesters beobachtet Jesus bei seinen Taten, beschuldigt ihn, den Sabbat zu brechen und zerstört dessen Tümpel. Im Evangelium heißt es, dass Jesus daraufhin wütend wird, den Jungen verflucht und dieser „verdorrt“ – also vermutlich stirbt. 

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    Joseph und Maria bitten Jesus, einen von ihm getöteten Mann wieder zum Leben zu erwecken.

    Foto von Gemeinfrei / Klosterneuburger Evangelienwerk, fol. 27v.

    Nicht weniger dramatisch erscheint eine weitere Situation, in der Jesus einen Jungen, der ihn im Gehen anrempelt, mit dem Ausruf „Du sollst deinen Weg nicht fortsetzen!“ sterben lässt. Der junge Jesus scheint in der damaligen Gemeinschaft so berüchtigt zu sein, dass sogar der Unfall eines kleinen Jungen zunächst ihm zugeschrieben wird. Das lässt Jesus jedoch nicht auf sich sitzen und erweckt den Jungen kurzerhand wieder zum Leben – jedoch nur, damit dieser seinen Eltern bestätigen kann, dass sein Fall vom Dach ein Unfall war und Jesus nichts damit zu tun hat. Danach lässt Jesus ihn wieder „einschlafen“.

    Auch den Gelehrten widerspricht Jesus im Kindheitsevangelium nach Thomas und fordert sie heraus, ihre Intelligenz mit seiner zu messen. Als der Lehrer Zachäus die Geduld verliert und Jesus gegen den Kopf schlägt, lässt dieser ihn zu Boden stürzen und ohnmächtig werden.

    In den Geschichten des Kindheitsevangeliums versetzt der junge Jesus viele Menschen in Angst und Schrecken. So sehr, dass sogar seine Eltern das Gespräch mit ihm suchen. Einmal lässt Jesus danach alle erblinden, die gegen ihn geredet haben. Ein andermal weist Joseph Maria an, Jesus Hausarrest zu erteilen: „Dass du ihn ja nicht mehr vor die Tür lässt! Sonst müssen die, die ihn zornig machen, sterben.“

    Rezeption des Evangeliums in der Wissenschaft

    Neben den wenig christlich anmutenden Episoden enthält das Kindheitsevangelium nach Thomas aber auch verschiedene Wunder, die Jesus bereits in seinen jungen Jahren vollbringt. Darunter die Heilung eines Schlangenbisses und eines verletzten Fußes. Laut einem Artikel von Reidar Aasgaard, Professor für Ideengeschichte, im Bibellexikon der Deutschen Bibelgesellschaft sind die Geschichten trotz der Flüche Jesu ethisch wertvoll. „Im gesamten Text werden traditionelle Werte wie die Liebe Gleichaltrigen gegenüber, Respekt gegenüber der älteren Generation, Gehorsam, Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit gegenüber den Marginalisierten vorausgesetzt und beworben“, schreibt Aasgaard.

    Der Forscher sieht ebenfalls Verbindungen zu kanonischen Texten der Bibel – besonders zu den Evangelien von Lukas und Johannes. Denn auch dort spreche Jesus Flüche aus. „Der Jesus des Kindheitsevangelium nach Thomas ist somit nicht weniger göttlich als der des Neuen Testaments“, so Aasgaard, der die Menschlichkeit der bei Thomas porträtierten religiösen Figur in den Fokus stellt. Jesus sei in den Texten eben nicht nur eine göttliche Figur, sondern auch ein menschliches Kind, das mit seinen besonderen Fähigkeiten noch nicht umzugehen wisse.

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