Spätmittelalterliche Graffiti: Pilger kritzelten an die Wände des Abendmahlsaals
Wallfahrten waren für Pilgernde eine Chance, die Welt und religiöse Stätten zu sehen. Manchen fehlte aber offenbar die Ehrfurcht vor der Heiligkeit. Das zeigen Inschriften aus dem Spätmittelalter, die im Abendmahlsaal entdeckt wurden.

Auf diesem digital überarbeiteten Schwarz-Weiß-Multispektralbild aus dem Abendmahlssaal ist links das Wappen der Freiherren von Teuffenbach aus der Steiermark zu erkennen. Direkt darunter:der Beginn einer halb gelöschten Datierung, beginnend mit der Zahl 14.
Laut christlichen Überlieferungen soll Jesus Christus einen Tag vor seiner Kreuzigung mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl eingenommen haben – auf dem Berg Zion, außerhalb der Altstadtmauer Jerusalems. An dieser Stelle erbauten Kreuzritter im 12. Jahrhundert eine Kirche, die im Jahr 1219 zerstört, später aber von den Franziskanern restauriert wurde. Denn in ihr befand sich im zweiten Stock ein besonderer Raum: das Coenaculum, auch Abendmahlsaal genannt.
In diesen oberen Raum zieht es, obwohl das wahre Abendmahl dort nicht stattgefunden haben kann, seit jeher Pilger*innen aus der ganzen Welt – und Forschende, die seine Geschichte untersuchen. Zu ihnen gehört auch ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Mithilfe von multispektraler Fotografie und Reflectance Transformation Imaging (RTI) ist es ihm im Rahmen eines langjährigen Projekts gelungen, rund 40 historische Graffitielemente an den Wänden des Coenaculums sichtbar zu machen. Die Ergebnisse der Arbeit, die in einem Fachartikel in der Zeitschrift Liber Anuus veröffentlicht wurden, geben einen interessanten Einblick in die Pilgerwelt vergangener Zeiten.


Der Abendmahlssaal auf dem Berg Zion vor den Altstadtmauern Jerusalems.
Darstellung des letzten Abendmahls auf dem Klosterneuburger Altar. Er wurde im Jahr 1811 von Meister Nikolaus von Verdun fertiggestellt – im selben Jahrhundert, in dem das heutige Coenaculum seine Gestalt annahm.
Kritzeleien in heiligen Stätten – ein altes Problem
Der größte Teil der mit bloßem Auge kaum mehr zu erkennenden Inschriften stammt aus dem Spätmittelalter. Zu dieser Zeit war der Abendmahlsaal Teil eines franziskanischen Klosters, für dessen Besuchende eigentlich klare Regeln galten. Laut dem Dominikaner und Schriftsteller Felix Fabri, der Ende des 15. Jahrhunderts zwei Wallfahrten nach Palästina unternahm und darüber den Bericht Evagatorium verfasste, wurden alle westlichen Pilger*innen bei ihrer Ankunft darüber informiert, dass Graffiti streng verboten seien.
Zu seinem Entsetzen hielten sich aber nicht alle daran. In seinem Reisebericht empört Fabri sich über eitle Adlige, die ihre Namen und Wappen an den heiligen Stätten hinterließen. Nicht einmal das Grab Christi war ihm zufolge vor dem Vandalismus sicher. Besonders ärgerte sich Fabri darüber, dass die Übeltäter, während sie ihre Graffiti ritzten, meißelten oder kratzten, so taten, als beteten sie.
Ilya Berkovich und Samvel Grigoryan, Historiker von der ÖAW, die die Graffiti entziffert und anhand von paläographischen und historischen Aufzeichnungen geschichtlich eingeordnet haben, konnten einigen der Schmierfinken nachträglich auf die Spur kommen. So identifizierten sie Elemente des Wappens der Freiherren von Teuffenbach-Mairhofen und als seinen Urheber Tristram von Teuffenbach. Dieser begleitete im Jahr 1436 als einer von 100 österreichischen Adligen den späteren Kaiser Friedrich von Habsburg auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem – und verewigte sich im Abendmahlsaal.

Wappen der Freiherren von Teuffenbach-Mairhofen von 1563, von dem Elemente an den Wänden des Abendmahlsaals gefunden wurden.
Wer pilgerte nach Jerusalem?
Auch vom Pilger Johannes Poloner aus Regensburg, der einen Bericht über seine Wallfahrt im Jahr 1421/22 verfasste, fand das Forschungsteam eine Signatur im Abendmahlsaal, ebenso wie eine Kohlezeichnung des Wappens der berühmten Patrizierfamilie von Rümlingen aus Bern. Außerdem wurde die Stätte wohl auch von dem Mitglied einer Ritterfamilie aus der Region von Altbach in Baden-Württemberg besucht – zu erkennen an einem Wappen, das mit dem heutigen Gemeindewappen nahezu identisch ist.

Das Wappen mit der Unterschrift „Altbach“ ist nahezu identisch mit dem Wappen der gleichnamigen modernen Stadt in Süddeutschland. Die über dem Wappen eingekratzten Bilder beziehen sich auf das letzte Abendmahl: Kelch, Platte und ein rundes Stück Brot. Das Loch im Brot erinnert an den berühmten Jerusalem-Bagel – ka'ak al-quds – der in der Stadt bis heute beliebt ist.
Ins Coenaculums kamen aber bei Weitem nicht nur Personen aus dem Westen: Entdeckt wurden auch Spuren von Menschen aus Armenien, Syrien, Serbien, Tschechien und arabischsprachigen Ostchrist*innen. „Diese Graffiti werfen ein neues Licht auf die geografische Vielfalt und die internationale Pilgerbewegung nach Jerusalem im Mittelalter – weit über die westlich geprägte Forschungsperspektive hinaus“, sagt Berkovich.
Als besonders bedeutend ordnet das Team ein arabisches Inschriftenfragment ein. Es lautet „...ya al-Ḥalabīya“, weist also zweimal die weibliche Endung ya auf. Die Forschenden vermuten, dass die Worte von einer christlichen Pilgerin aus dem syrischen Aleppo hinterlassen wurden. Aus der vormodernen Pilgerwelt existieren nur wenige solcher Hinweise auf die Präsenz von Frauen.

Das Graffito einer Pilgerin aus Aleppo. Ihre Inschrift (rot) kreuzt ein weiteres arabisches Graffito (blau), das bislang nicht entziffert werden konnte.
Ehrenkodex unter Graffiti-Schreibern
Bei den meisten nun dokumentierten Graffiti handelt es sich um Kritzeleien aus Kohle oder mit Messern in den Stein geritzte Inschriften, die wohl in großer Eile an die Wand gebracht wurden, während gerade niemand hinsah. Es gibt aber auch einige wenige Graffiti, die so groß, kunstfertig und exponiert platziert sind, dass sie nicht heimlich entstanden sein können. Das könnte bedeuten, dass in Ausnahmefällen das Hinterlassen von Inschriften in der heiligen Stätte genehmigt wurde. „Die einzige Chance, dass solche Arbeiten eigenmächtig durchgeführt werden konnten, bestand in einer Zeit, in der das Coenaculum keinen eindeutigen Besitzer hatte“, sagt Shai Halevi, der leitende Fotograf des Forschungsprojekts.
Auch wenn den kritzelnden Pilger*innen der Respekt vor der heiligen Stätte zu fehlen schien, so respektierten sie sich doch gegenseitig. Das ist daran zu erkennen, dass sich kaum ein Graffiti mit einem anderen überschneidet – was in gewisser Weise dem Codex moderner Graffiti-Künstler entspricht. „Außerdem gibt es Fälle, in denen einzelne Inschriften und Bilder über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren sorgfältig aufeinander abgestimmt sind“, so Halevi. „Solche Gruppen bieten uns eine Art Stratigraphie, die es uns ermöglicht, die erste Inschrift zu bestimmen, auch wenn keine Daten angegeben sind.“
In der Osterzeit werden wieder viele Pilger*innen nach Jerusalem kommen und auch den Abendmahlsaal besuchen, der inzwischen Teil eines Museums ist. Die Chance, neue Graffiti zu hinterlassen, werden sie aber nicht bekommen – das Betreten ist nur im Rahmen geführter Touren möglich.
