Wie die Thüringer Bratwurst Vietnam eroberte
Thüringer Bratwurst in Vietnam? Richtig gelesen: Sie gehört zu den beliebtesten Snacks im Land. Die Geschichte eines deutsch-vietnamesischen Wirtschaftsmärchens.

Campionis Enkel Moritz und Emil besichtigen 2015 das Werk in Tân Lập – kurz bevor ihr Großvater seine Anteile an koreanische Investoren verkauft.
Es gibt wohl kaum zwei Küchen, die gegensätzlicher sind als die vietnamesische und die deutsche: Fischsauce statt Salz, Papayasalat statt Kartoffelsalat und Suppe zum Frühstück statt Brötchen mit Aufstrich.
Und doch hält sich ein deutscher Importschlager seit fast 20 Jahren hartnäckig an der Spitze der beliebtesten Snacks in Vietnam, vor allem bei Kindern und jungen Erwachsenen: die Thüringer Bratwurst. Xúc xích Đức (deutsche Wurst) wird sie hier genannt.
Ob auf dem Nachtmarkt oder an den zahllosen mobilen Grillständen in Hanois Altstadt: Bratwurstverkäufer*innen gehören zum Stadtbild wie knatternde Mopeds, hupende Autos und Blumenhändlerinnen, die ihre farbenprächtigen Bouquets auf dem Fahrrad anpreisen.
Wie die Bratwurst von Erfurt nach Hanoi kam
Schuld daran ist Michael Campioni, der das Rezept aus Deutschland einführte und zu Hochzeiten 500.000 Würste pro Tag produzierte. Heute, an einem warmen Frühlingstag, sitzt er in einem kleinen Eckcafé im Hanoier Bezirk Tây Hồ – ein waschechter Erfurter und damit so thüringisch wie die Bratwurst selbst. Der 77-Jährige ist mit seiner Frau Lilo gekommen. Michael Campioni trägt kurze Hose, Hemd und Trekking-Sandalen, seine Frau Lilo ein dunkelblaues Leinenkleid. Das Wetter lässt nichts anderes zu. Die Vietnamesen würden sagen, es ist warm. Für deutsche Verhältnisse fühlt es sich an wie Hochsommer. In dem kleinen Café, das mit zierlichen runden Holzhockern und schmalen Tischen ausgestattet ist, fällt Campioni auf. Der 1,90 Meter große Erfurter überragt alle. „Ein bisschen geschrumpft bin ich über die Jahre aber schon“, sagt er.
Die beiden sind für drei Wochen aus Deutschland zu Besuch. Mindestens einmal im Jahr zieht es sie nach Vietnam – zu ihrem Sohn, der hier heute mit seiner Familie lebt, zurück zu alten Freunden, in das Land, das ihre zweite Heimat geworden ist. Und dieses Jahr gibt es sogar Grund zum Feiern: „Wir haben gleich ein doppeltes Jubiläumsjahr“, sagt Campioni. Damit meint er nicht, dass Deutschland 50 Jahre diplomatische Beziehungen mit Vietnam feiert – sondern seinen Umzug aus der DDR in das ferne Land im gleichen Jahr, 1975. Und natürlich das Vierteljahrhundert Thüringer Bratwurst in Vietnam: Vor genau 25 Jahren verkauften Michael Campioni und sein Geschäftspartner Mai Huy Tân in der Altstadt von Hanoi die ersten Würste.


Einer von vielen Ausflügen, die die Campionis Mitte der 70er Jahre unternehmen, um Land und Leute kennenzulernen.
50 Jahre liegen zwischen diesen beiden Aufnahmen: In den 1970er-Jahren erkunden Lilo und Michael Campioni Vietnam – 2025 kehren sie zurück und feiern ihr persönliches Jubiläum in einem vertraut gewordenen Land.
„Vietnam und die DDR pflegten über viele Jahre enge Verbindungen, beide Länder betrachteten sich als sozialistische Bruderstaaten“, erzählt Campioni. Schon 1955 hatte Ostdeutschland eine Botschaft in Hanoi eingerichtet, 20 Jahre bevor die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen zur Sozialistischen Republik Vietnam aufnahm. Als die DDR Anfang der 1970er-Jahre Botschaftsposten in den sozialistischen Bruderländern vergibt, zögert Michael Campioni nicht lange. „Ich wollte raus – einfach mal was anderes sehen“, erzählt er. „Also bin ich ins Außenministerium nach Berlin gefahren, hab mich vorgestellt und gesagt: Ich heiße Campioni, ich will ins Ausland.“ Wenig später wird er gemeinsam mit seiner Frau nach Hanoi geschickt – als Hausmeister an die DDR-Botschaft. Ein Schritt, der sein Leben für immer verändern wird.
Zwei Jahre leben die Campionis in Hanoi. Als Lilo schwanger wird, kehren sie nach Deutschland zurück. Doch die Freundschaften und die Liebe zu Vietnam bleiben bestehen, und von da an reisen sie zwischen den Ländern hin und her.

Im Dienst der DDR-Botschaft: Michael Campioni und das Handwerkerteam in Hanoi, 1975.
Zurück in Erfurt versucht Campioni sich mit verschiedenen Geschäftsideen. Zunächst verkauft er Fischfutter, doch das Business überlebt die Wiedervereinigung nicht. Er entschließt sich, Fenster für den vietnamesischen Markt herzustellen. Der erhoffte Bauboom bleibt jedoch aus. „Immer mehr vietnamesische Freunde sagten zu mir: Du kommst doch aus Thüringen – warum bringst du keine Bratwurst mit?“
Lilo Campioni erinnert sich: „Ich habe damals zu Michael gesagt: Wie lange willst du noch in Vietnam rumfahren und Fenster verkaufen? Mach doch was mit der Bratwurst!“ Wie man sie herstellt, weiß Campioni zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
In Deutschland kauft er gebrauchte Maschinen aus insolventen Betrieben, lässt sich von einem thüringischen Fleischermeister in die Wurstherstellung einführen und engagiert diesen kurzerhand, um die vietnamesischen Mitarbeiter in Hanoi zu schulen. In Vietnam hat er mit seinem Bekannten Mai Huy Tân einen Geschäftspartner gefunden, der sich um die nötigen Genehmigungen, die Logistik und einen geeigneten Standort in Hanoi kümmert. Tân hat in Halle Wirtschaftsmathematik studiert und spricht Deutsch. Den Kontakt zwischen Campioni und ihm hat ein gemeinsamer Freund hergestellt.
Wurst am Spieß: Erste Erfolge in Vietnam
Nur ein Jahr später gründen sie ihre Firma: Duc Viet – Deutschland Vietnam –, ganz einfach. Die Bratwurst schlägt ein. Campioni erklärt: „Ich denke, das hing auch damit zusammen, dass viele Vietnamesen in Ostdeutschland waren. Sie haben dort ihre Schulausbildung gemacht oder studiert. Irgendwann kamen sie dabei auch mit deutschen Lebensmitteln in Berührung – und auf den Geschmack.“ Bis 1988 kommen rund 42.000 vietnamesische Studierende, zusätzlich über 12.000 Auszubildende und Praktikant*innen in die DDR. Die meisten kehren nach Abschluss ihrer Ausbildung nach Vietnam zurück.
Die ersten 2.000 Bratwürste verkaufen Campioni und Tân am Hoàn-Kiếm-See, Hanois legendärem Stadtsee, der als Herz der Altstadt und beliebter Treffpunkt für Einheimische und Tourist*innen gilt. Schnell merken sie: Die Leute lieben die Würste.
Die Rezeptur wird angepasst, mit weniger Salz als in Deutschland, und die Wurst steckt jetzt am Spieß. Letzteres entsteht zufällig, erzählt Campioni. „Uns sind damals am Verkaufsstand die Brötchen ausgegangen, also mussten wir improvisieren. Wir haben sie kurzerhand auf Stäbchen aufgespießt.“
Was einst als Notlösung beginnt, entwickelt sich zur gängigen Art des Würstchenverzehrs in Vietnam. Campioni selbst lernt über die Jahre noch viel über die vietnamesische Kultur. „Vor Baubeginn mussten wir damals an jeder Ecke einen Schnaps trinken – damit alles gut verläuft und funktioniert“, erinnert er sich. Und er lernte, dass er, mit seinen fast zwei Metern deutlich größer als die meisten Vietnames*innen, nicht im Stehen mit den Leuten sprechen sollte: „Es ist wichtig, den Menschen im wahrsten Sinne auf Augenhöhe zu begegnen. Ich habe mich bei Gesprächen immer hingesetzt, damit wir wirklich miteinander reden konnten, nicht von oben herab.“

Die Produktionsstätte in der Hanoier Innenstadt stößt an ihre Kapazitätsgrenzen. 2004 eröffnet Duc Viet eine größere Bratwurstfabrik in Tân Lập, rund 30 Kilometer südlich von Hanoi – das Bild zeigt die Feierlichkeiten zur Eröffnung.
2008 erfolgt der Wandel des Unternehmens zur Duc Viet Food Joint Stock Company, in eine Aktiengesellschaft mit norwegischer Beteiligung. Auf dem Höhepunkt der Produktion 2015 arbeiten rund 300 Mitarbeitende für das Unternehmen. Es gibt nicht nur Imbisse in den Straßen, es werden auch Supermärkte, Restaurants, Schulen und später sogar Vietnam Airlines, Bahn, Armee und Polizei mit Bratwürsten beliefert.
2016 ziehen sich beide Gründer aus dem operativen Geschäft zurück und verkaufen ihre Anteile an koreanische Investoren. Heute sind mehr als 530 deutsche Unternehmen in Vietnam aktiv, darunter Firmen wie Bosch, Siemens, B. Braun und adidas, die rund 49.000 Arbeitsplätze geschaffen haben und ein Investitionsvolumen von etwa 3,6 Milliarden US-Dollar in Branchen wie Maschinenbau, Textilien, Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung einbringen.
Am vergangenen Wochenende gab es ein großes Wiedersehen im engsten Kreis mit 25 ehemaligen Beteiligten aus der Firma in der Küstenstadt Ha Long. Viele kannte Campioni aus alten Zeiten. Wunderschön sei das gewesen, erzählt er. „Heute kann man sich mit den technischen Möglichkeiten der Übersetzung auch viel besser verständigen.“ Zum Essen gab es zwar keine Bratwurst, sondern Hummer mit gebratenem Reis, aber die Thüringer wird den Erfurter für immer mit Vietnam verbinden.

Ein Wiedersehen nach 25 Jahren: Die Campionis treffen sich mit den damaligen Shareholdern von Duc Viet – statt Thüringer Bratwurst gibt es diesmal Hummer und Pommes.
