Die Inka auf dem Gipfel der Macht

Vor 600 Jahren beherrschten die Inka einen Staat, der Großes leistete.

Von Heather Pringle
bilder von Robert Clark
Foto von Robert Clark

Taquile liegt mitten im Titicacasee. Auf der Plaza der Insel stehen Hunderte von Menschen und lauschen dem Gebet ihres katholischen Priesters. Viele von ihnen stammen von Kolonisatoren ab, die vor mehr als 500 Jahren von den Königen der Inka hierher geschickt wurden. Noch heute sprechen sie die Sprache ihres Volkes, weben Stoffe nach alter Tradition und bestellen ihre Felder, wie es seit Jahrhunderten der Brauch ist. Und an Festtagen tanzen sie zu den Klängen von Flöten und Trommeln.

An einem schönen Sommernachmittag stehe ich auf der Plaza und sehe zu, wie die Menschen das Festival de Apóstol Santiago, des Apostels Jakob, feiern. Vier schwarz gekleidete Männer folgen dem Priester in einer kleinen Prozession. Gegen Ende der Gebete heben sie eine hölzerne Sänfte mit einer bemalten Statue des Apostels in die Höhe. Alle sollen den Heiligen sehen. Ge­nauso hatten es ihre Vorfahren mit den Mumien der von ihnen verehrten Könige getan.

Die Namen der alten Herrscher klingen noch immer nach stolz behaupteter Macht. Viracocha Inca, der „Schöpfergott“. Huáscar Inca, der „Herrscher der goldenen Kette“. Pachacútec Inca Yupanqui, der „Gott, der die Welt verändert“. Die Welt verändern – das taten sie wirklich: Aus dem geheimnisvollen Cusco-Tal in Peru er­stand im 13. Jahrhundert n. Chr. eine mächtige Dynastie: die der Inka. Sie umwarben oder besta­chen ihre Widersacher, schüchterten sie ein oder unterwarfen sie und gründeten so das größte prä­kolumbische Reich der Neuen Welt. Weniges aus dem Leben dieser Könige ist überliefert, abgese­hen von den Legenden, die Inka-Adlige selbst erzählten, nachdem spanische Konquistadoren das Land erobert hatten. Die Inka hatten keine Hieroglyphenschrift wie die Maya , und was im­mer es an Darstellungen ihrer Herrscher gegeben haben mag, ging verloren. Die Paläste der Haupt­stadt Cusco fielen den Eindringlingen in die Hän­de, auf den Ruinen entstand eine neue spanische Kolonialstadt – und begrub das Erbe der Inka.

In den achtziger Jahren behinderten Unruhen die Erforschung der großen Vergangenheit. Erst in jüngerer Zeit wagen sich Archäologen wieder in das Herzland der Inka, durchkämmen die zer­furchten Berghänge bei Cusco, entdecken unbe­kannte Zeugnisse der Epoche und gewinnen Einblick in die Herkunft der Dynastie. Sie werten Dokumente der Kolonialzeit aus, spüren verlo­rene Anwesen von Inka-Herrschern auf und un­tersuchen das komplexe Beziehungsgefüge der königlichen Haushalte. Stück für Stück setzen sie so das Bild einer dramatischen Zeit zusammen – von Kriegen und diplomatischen Schachzügen, mit denen die Könige der Inka Dutzende Stämme zu einem Reich vereinten. Es stecke eine Bot­schaft in dieser außergewöhnlichen Fähigkeit, auf dem Schlachtfeld zu triumphieren und dann Stein auf Stein eine neue Zivilisation aufzubauen, meint der Archäologe Dennis Ogburn von der Universität von North Carolina in Charlotte: «Ich glaube, sie haben damit sagen wollen: ‹Wir sind das mächtigste Volk der Erde. Kommt ja nicht auf die Idee, euch mit uns anzulegen.›»

An einem strahlend sonnigen Julinachmittag steht Brian Bauer, ein Archäologe der Universi­tät von Illinois in Chicago, auf der Plaza von Maukallacta, einer weiträumigen Kultstätte der Inka südlich von Cusco. Er zeigt ostwärts auf einen hochragenden Felsen, in dessen zerklüfIteten Gipfel gewaltige Stufen eingehauen sind: Sie gehören zu einem Schrein der Inka. Vor etwa 500 Jahren, so Bauer, seien Pilger hierhergekom­men, um an dem Felsen zu beten. Einst galt er als eine der heiligsten Stätten des Reichs – als Geburtsort der Inka-Dynastie.

Bauer, ein drahtiger 54-Jähriger, kam Anfang der achtziger Jahre nach Maukallacta, um nach den Wurzeln des Inka-Reichs zu suchen. Damals war die Wissenschaft überzeugt, dass der junge Pachacútec, eine Art andiner Alexander der Große, Anfang des 15. Jahrhunderts der erste Inka-König wurde und in nur einer Generation eine kleine Ansammlung von Lehmhütten in ein mächtiges Reich verwandelte. Der Forscher sah das anders. Er war sicher, dass die Wurzeln der Inka viel tiefer reichen. Zu seinem Erstaunen brachten zwei ausgiebige Gra­bungen in Maukallacta indes keine Spur eines frühen Inka-Reichs zutage.

Also wandte sich Bauer nach Norden ins Tal von Cusco. Mit einem Team von Forschern un­tersuchte er systematisch die steilen Berghänge, dokumentierte jede Keramikscherbe, jede um­gestürzte Steinmauer – und die Hartnäckigkeit machte sich bezahlt: Bauer und seine Kollegen konnten Tausende von zuvor unbekannten Stät­ten ausfindig machen. Und erstmals ließ sich erkennen, dass schon zwischen 1200 und 1300 ein Inka-Staat entstanden sein musste. Die alten Herrscher der Region, die von einer Hauptstadt nahe der heutigen Stadt Ayacucho aus regierten, waren um das Jahr 1100 nach ei­ner langen Dürrezeit untergegangen. Im Hoch­land entbrannten Kämpfe um Wasser und Nah­rung, Plünderer überfielen ihre Nachbarn, und Scharen von Flüchtlingen suchten Schutz in kal­ten, windgepeitschten Höhen über 4000 Meter.

Doch im fruchtbaren, mit Wasser gut versorgten Tal um Cusco hielten Inka-Bauern die Stellung. Anstatt einander zu bekämpfen, taten sich ihre Dörfer zusammen und waren so in der Lage, eine organisierte Ver­teidigung auf die Beine zu stellen. Als es wärmer wurde in den Anden, zwischen 1150 und 1300, hatten die Inka der Gegend um Cusco den Nut­zen davon. Die Bauern zogen weiter nach oben, 250 bis 300 Meter die Hänge hinauf, legten Terrassen­felder an, bewässerten ihre Äcker und fuhren Rekordernten an Mais ein. «Dieser Überschuss», sagt der Klimaforscher Alex Chepstow-Lusty vom französischen Institut für Andenstudien in Lima, habe es den Inka ermöglicht, «viele Men­schen für andere Aufgaben freizustellen, ob für den Straßenbau oder für den Unterhalt einer großen Armee».

Mit diesem Trumpf in der Hand begannen die Inka-Könige, ein Auge auf fremdes Land und fremde Reichtümer zu werfen. Sie knüpften Bündnisse mit benachbarten Adligen, nahmen deren Töchter zu Frauen und verteilten großzügige Geschenke an neue Verbündete. Wies ein Rivale ihre Avancen ab oder stiftete Unruhe, drohten sie mit Waffengewalt. Einer nach dem anderen unterlagen die Häuptlinge aus den um­liegenden Tälern, bis es nur noch einen Staat und eine Hauptstadt gab: Cusco. Alsbald ließen die Inka-Könige ihren Blick in die Ferne schwei­fen und nahmen die fruchtbaren Gebiete um den Titicacasee ins Visier. Schließlich, nach 1400, begann der Herrscher Pachacútec Inca Yupanqui, Pläne für die Eroberung des Südens zu schmieden. Für ein eigenes Imperium.

Es war Mitte des 15. Jahrhunderts, als sich eine bis an die Zähne bewaffnete Armee vom Volk der Colla im Norden des Sees sammelte, um die vorstoßenden Inka zum Kampf zu fordern. Die Herren der Titicacaregion waren stolze Männer, sie geboten über 400000 Men­schen in Königreichen rund um den See. Es war ein reiches, verlockendes Land. Adern von Silber und Gold durchzogen die Berge, Alpaka- und Lamaherden grasten auf üppigen Weiden.

In den Anden hing militärischer Erfolg von solchen Viehbeständen ab. Ein Lama, das ein­zige Zugtier auf dem Kontinent, kann 30 Kilo Ausrüstung auf dem Rücken tragen. Lamas und Alpakas geben auch Fleisch, Leder und Wolle für Kleidung. Sollte Parachútec die Herren am Titicaca, denen diese Herden gehörten, nicht besiegen, würde er fortan Angst davor haben müssen, dass eines Tages sie kommen und ihn entmachten würden.

Von seiner prächtigen Sänfte aus gab der Inka-König den Befehl zum Angriff. Seine Sol­daten marschierten auf das Heer der Colla zu, spielten auf Panflöten, die aus den Knochen von Feinden geschnitzt, und Kriegstrommeln, die mit der abgezogenen Haut getöteter Widersacher bezogen waren – eine Mauer des Grau­ens. Als das Schlachtgetümmel verebbte, war die Landschaft übersät mit Leichen der Colla. In den folgenden Jahren unterwarfen Pachacútec und seine Nachfolger alle Herrscher des Südens. Doch solche Siege waren nur erste Schritte im langfristig angelegten Plan der Inka zum Aufbau ihres Reichs. Bald gingen Beamte daran, das zivile Leben zu organisieren. Wenn Provinzen Widerstand leisteten, mischten die Fürsten der Inka ihre Bevölkerung neu, deportierten wider­spenstige Einwohner in eigenes Gebiet und er­setzten sie durch treue Untertanen. Einwohner entlegener Dörfer wurden in Städte umgesiedelt – sie waren an den Straßen entstanden, auf de­nen auch Truppen schnell bewegt werden konn­ten. Beamte der Herrscher ließen Lagerhäuser entlang der Straßen errichten und von benach­barten Gemeinden mit Proviant für die Truppen füllen. Für den Archäologen Charles Stanish von der Universität von Kalifornien in Los Angeles steht fest: «Die Inka waren die Organisations­genies des amerikanischen Kontinents.»

Unter den Inka erblühte die Zivilisation in den Anden wie nie zuvor. Ingenieure verknüpf­ten Wege zu einem Netz von Fernstraßen. Bau­ern kultivierten etwa 70 einheimische Pflanzen­arten. In riesigen Lagerhäusern sammelten sie Vorräte für drei bis sieben Jahre. Königliche Be­amte behielten mit Hilfe eines Codes aus farbi­gen, geknoteten Schnüren – genannt Quipu – den Überblick über die Bestände im ganzen Reich. Und Baumeister schrieben sich mit architektonischen Meisterwerken wie der Stadtanlage Machu Picchu in die Ewigkeit ein. 1493, als König Huayna Cápac an die Macht kam, schien für die Inka kaum ein Ziel zu hoch.

Um seiner neuen Hauptstadt im heutigen Ecuador Glanz zu verleihen, verurteilte der Herr­scher 4500 rebellische Untertanen dazu, riesige Steinblöcke aus Cusco herbeizuschleppen – 1600 Kilometer weit über schwindelerregende Bergpässe. Zum Bau eines königlichen Anwe­sens für Huayna Cápac mussten Arbeiter den Fluss Urubamba auf die Südseite des Tals verle­gen. Sie trugen Hügel ab und legten Marschland trocken, pflanzten Mais und Baumwolle, Erd­nüsse und Chilis aus entlegenen Gebieten des Reichs, schufen gewaltige Terrassenfelder an den Berghängen und verlegten Steine und Ziegel für den königlichen Landsitz Quispiguanca.

(NG, Heft 04 / 2011, Seite(n) 38)

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