Mexiko: Juárez findet Frieden

Die mexikanische Grenzstadt war einst der gefährlichste Ort der Welt, das Epizentrum der Drogenkriege. Dann wurde das kaputte Justizsystem reformiert – und Juárez kehrte zurück ins Leben.

Von Sam Quinones
bilder von Dominic Bracco II
Foto von Dominic Bracco II

Zusammenfassung: Lange galt die mexikanische Stadt Juárez als gefährlichster Ort der Welt. Drogenkriege, Morde, Erpressungen und Entführungen bestimmten den Alltag. Doch nachdem das Justiz- und Polizeisystem grundlegend reformiert wurde, zeigen sich erste Erfolge.

Als es Abend wird in Juárez, verschwinden ein paar aufgeregte Kinder in einem Lagerhaus. Drinnen hört man zwischen aufgestapelten Autoreifen seltsame Geräusche: ein Grunzen, ein Klatschen und dann – rumms! – ein dumpfer Aufschlag. Die Verursacher des Lärms sind einige Jungs, die zwischen gespannten Seilen auf einem viereckigen Mattenboden Lucha Libre üben, eine Art Catchen mit spektakulären Sprungelementen. Der aus Eisen und Kabeln vom Schrottplatz gebaute Wrestling-Ring gehört Inés Montenegro. Er hat ihn vor zwei Jahren hier im Stadtteil San Antonio, einem ehemaligen Slum, eröffnet.

Sein Sohn hatte ihn dazu angeregt. Der Junge fand, dass die Kinder zwischen Betonhäusern, holprigen Straßen und spärlich gepflanzten Bäumen einen Platz zum Spielen brauchten. Lucha Libre ist die mexikanische Form des Wrestlings, die Kämpfer tragen bunte Masken und zeigen anspruchsvolle Choreografien mit Haltegriffen und Würfen. Montenegros coole Ringkampfarena war sofort ein voller Erfolg.

An diesem Abend werfen sich vier Jungen zwischen elf und 15 Jahren in die Seile und lassen sich zurück in die Ringmitte schleudern. Omar, Alfonso, Eric und Antonio lernen klassische Bewegungsabfolgen wie den Tigersprung, bei dem sie theatralisch über die Matte hechten, oder die Beinschere, mit der sie sich am Hals des Gegners festklammern.

Bei meinem letzten Besuch in Juárez vor sechs Jahren wäre eine Szene wie diese unvorstellbar gewesen. Spielende Kinder waren aus dem öffentlichen Raum der größten Stadt des Bundesstaats Chihuahua verschwunden. Drogenkartelle lieferten sich Straßenkämpfe, um die Kontrolle über die Stadt an der Grenze zu den US-Bundesstaaten Texas und New Mexico und damit den Zugang zum lukrativen amerikanischen Drogenmarkt zu bekommen. Ich erlebte, wie Panzerfahrzeuge mit mexikanischen Soldaten anrollten, um die Straßen zurückzuerobern. Es war ein weiterer Versuch, der entsetzlichen Gewalt Einhalt zu gebieten, die Juárez weltweit in Verruf gebracht hatte.

NG-Video: Diego Montejano über seine Kindheit in Juárez. Er war Mitglied einer Gang und verpackte Drogen gegen Geld.

Zwischen 2008 und 2012 galt die 1,3 Millionen Einwohner zählende Stadt als gefährlichster Ort der Welt. Im schlimmsten Jahr wurden mehr als 3700 Morde verübt. Entführer und Erpresser kamen ungestraft davon. Ein Viertel aller in Mexiko gestohlenen Autos, war in Juárez geknackt worden. Tausende Geschäfte machten zu. Es herrschte Anarchie. Am gefährlichsten war es hier im Viertel, in San Antonio. Jeder der vier Jungen, die sich gerade im Wrestling-Ring austoben, hat Verwandte, die damals getötet wurden oder ins Gefängnis kamen. „Oft haben wir draußen gespielt, dann fielen Schüsse, und wir rannten nach Hause“, erinnert sich Antonio. Zwei seiner Onkel wurden ermordet. In den colonias, den Wohnvierteln, gibt es heute viele Hallen, in denen Hunderte angehende Lucha-Libre-Helden mit Kampfnamen wie „Aztekenfalke“ oder „Ex-Knastianer“ trainieren.

Die Straßen sind wieder bevölkert. In den Boutiquen und Eisläden rund um die Kathedrale floriert das Geschäft. Musiker spielen dort, es gibt ein neues Kindermuseum. Es ist auch für die 14.000 Waisen gedacht, die ihre Eltern während der Gewaltexzesse verloren haben. Sportvereine werden gegründet. Man trifft sich wieder in Parks. „Allmählich verlieren die Menschen die Angst“, sagt Montenegro.

Aber was ist passiert, dass Montenegro und andere sich nicht mehr vor den Gangs verstecken müssen? Mexiko hat – zumindest in Juárez – den politischen Willen aufgebracht, das Justizsystem zu stärken und in die Verwaltung zu investieren. Das machte vielen Mut. Im korrupten Polizeiapparat sorgten leitende Beamte dafür, dass ihre Einheiten professioneller arbeiten. Geschäftsleute zogen doch nicht fort. Regierungsvertreter brachen die verkrustete Bürokratie auf und leiteten Reformen ein.

Als ich 1996 zum ersten mal nach Juárez gereist war, glich die Stadt einem surrenden Rädchen in der Globalisierungsmaschinerie. Auf der Suche nach Arbeit strömten Rancheros und Bauern nach Juárez und bauten in zollfreien Fabriken, den maquiladoras, Stereoanlagen, Fernseher und Autoteile für den US-Markt. Viele Zuwanderer wollten eigentlich rüber nach Texas, in die Grenzstadt El Paso. Aber der Wirtschaftsboom in Juárez ermöglichte, was ihnen in den Heimatorten versagt geblieben war: ein festes Haus, einen Gebrauchtwagen, einen dauerhaften Arbeitsplatz. Schnell entstanden Familienbetriebe wie Lebensmittelgeschäfte, Schönheitssalons und Polstereien.

Montenegro kam in den Siebzigerjahren als Kind nach Juárez. Später kaufte er ein Grundstück in San Antonio und eröffnete den Reifenhandel, in dem heute seine Wrestling-Halle untergebracht ist. Weitere Filialen folgten. Juárez wuchs damals planlos. Wie in allen mexikanischen Städten flossen die Steuereinnahmen zunächst einmal nach Mexiko-Stadt, in die Hauptstadt. Nur ein Bruchteil kam zurück. Die Polizei musste Benzin und Munition rationieren. Die Infrastruktur – Straßen, Kanalisation, Parks – wurde vernachlässigt. „Unser ständiges Wachstum überdeckte die Löcher“, sagt Pastor Alfonso Murguía. Seine Kirche betreibt seit fast 30 Jahren Einrichtungen für Waisen und Drogenabhängige. „Geld und Arbeitsplätze waren vorhanden, aber die Stadt entwickelte sich nicht weiter.“ Aus Zuwanderern vom Land wurden Arbeitskräfte für die Industrie, Familien brachen auseinander. Mehrere Tausend Kinder wuchsen auf der Straße auf, sammelten sich in Hunderten Gangs. Das Juárez-Kartell entstand und kontrollierte die wichtigsten Drogenschmuggelwege. Juárez wurde zu einem gesetzlosen Ort.

Mich hatte damals eine Recherche über eine Mordserie an jungen Frauen in die Stadt geführt. Als „die toten Frauen von Juárez“ hatten die Opfer weltweit traurige Berühmtheit erlangt. Die meisten Fabrikarbeiter waren weiblich, sie waren ohne Verwandte nach Juárez gekommen und deshalb besonders gefährdet. Viele der Leichen wurden in die Wüste gebracht und von der Hitze bis zur Unkenntlichkeit mumifiziert. Die Täter hatten wenig zu befürchten. Als die USA im Jahr 2008 in eine Rezession stürzten, gingen in Juárez 90.000 Arbeitsplätze verloren. Ein Heer verzweifelter Arbeitsloser stand auf der Straße. Etwa zur gleichen Zeit kam das Sinaloa Kartell in die Stadt, um dem Juárez-Kartell die Kontrolle über die Schmuggelwege zu entreißen. Beide Syndikate benutzten Straßengangs für ihren Krieg. Fünf Jahre lang versank die Stadt in Gewalt.

Allein in Montenegros Straße wurden aus fünf Familien Angehörige entführt. Sein jüngster Sohn war eines der Opfer. Das Lösegeld musste Montenegro sich leihen. Als er den Kredit fast zurückgezahlt hatte, wurde der Junge erneut entführt. Sieben Jahre lang mühte sich Montenegro, Schulden in Höhe von etwa 50.000 Dollar zurückzuzahlen. Er ging fast pleite. Durch den Stress platzte eine Ader in einem Auge. Seitdem ist er teilweise blind. „Eine Entführung würde ich meinem schlimmsten Feind nicht wünschen“, sagt er.

Als ich dieses mal nach Juárez komme, bitte ich den Taxifahrer Jesús Amable, mich durch ein paar Viertel zu fahren. Der neue Frieden in der Stadt macht eine solche Tour überhaupt erst möglich. Viele Geschäfte stehen allerdings immer noch leer. Die Besitzer sind geflohen. Die Blumenhändlerin Claudia Saucido erzählt mir, dass sie ihren Laden eine Zeit lang allein führte. Ihr Mann musste eine andere Stelle annehmen, um das von den Banden verlangte Schutzgeld in Höhe von 100 Dollar – etwa der durchschnittliche Wochenlohn in Juárez – zahlen zu können. Amable sagt, er habe 20 Dollar pro Woche gezahlt, genau wie neun andere Fahrer an seinem Taxistand. „15-Jährige rauschten in funkelnagelneuen Autos an und kassierten“, erinnert er sich.

Die Behörden in Juárez schätzten, dass allein im Jahr 2010 etwa 8000 Unternehmen erpresst wurden. Ein Jahr später gründete der neue Justizminister von Chihuahua in der Polizei eine Spezialeinheit gegen Erpressung. Viele Straftaten waren nie verfolgt worden. „Es gab weder professionelle Ermittlungen noch schlecht geführte – es gab einfach gar keine“, sagt César Muñoz, erster Leiter der Einheit und heute Polizeichef von Juárez. „Wenn ein Verbrechen geschah, versteckten wir uns in unseren Büros.“ Die handverlesenen Mitglieder der Einheit, alles junge, gesetzestreue Beamte, besuchten in den ersten zwei Wochen Geschäftsinhaber in der Innenstadt und drängten sie, Erpresser anzuzeigen. Diese bürgernahe Polizeipräsenz war in Mexiko damals völlig unbekannt. „Niemand wollte reden. Viele hielten uns selbst für Erpresser“, erzählt Luis Hernández, inzwischen Leiter der Spezialeinheit.

Es dauerte zwei Wochen, bis im Büro der Einsatzgruppe zum ersten Mal das Telefon klingelte. Ein Bäcker berichtete, dass Erpresser 5000 Dollar Schutzgeld verlangten und drohten, sein Geschäft anzuzünden. Die Beamten hörten seine Telefonate ab und folgten dem Bäcker zur Geldübergabe. Dort schlugen sie zu und verhafteten die Erpresser. Es war die erste erfolgreiche Ermittlung in einem solchen Fall, seit die Gewalt über Juárez hereingebrochen war. Die Täter – eine Hausfrau, ein Fabrikarbeiter und zwei Reifenhändler – wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die Zahl der Anzeigen stiegen rapide.

Im Oktober 2011 observierten drei Polizisten ein kleines Lebensmittelgeschäft. Sie gerieten in einen Hinterhalt und wurden erschossen. Am Abend besuchte der für die Region Juárez zuständige Justizminister die Totenwachen. Der Vater eines der Ermordeten ging auf den Minister zu und mahnte: „Wenn Sie jetzt aufgeben, ist die Arbeit meines Sohnes umsonst gewesen.“ Die Tragödie wurde zum Wendepunkt. Die Spezialeinheit bekam Verstärkung und nahm José „El Junior“ Gómez Castañeda ins Visier. Er steckte hinter einem Schutzgeldring, der 400.000 Dollar pro Woche kassierte. Zehn Verdächtige wurden verhaftet. „El Junior“ war nicht darunter. Stattdessen rief er Muñoz, den Chef der Einheit, regelmäßig an und verhöhnte ihn. Die Beamten erwischten ihn schließlich 2013, als sie ein Haus mit Swimmingpool, Fitnessstudio, Videospielzimmer und Stripteasestange stürmten. „El Junior“ bekam lebenslänglich. Er erhängte sich in seiner Zelle.

Bei der Einrichtung ihrer Anti-Erpressungs-Einheit holte sich die Polizei von Juárez fachkundigen Rat von einem ehemaligen Oberstleutnant der Armee. Julián Leyzaola hatte die Landespolizei im Bundesstaat Baja California reformiert. Als Polizeichef von Tijuana konnte er dort innerhalb eines Jahres die Zahl der Gewaltdelikte deutlich reduzieren. In Mexiko kennt ihn jeder – bei manchen ist Leyzaola berüchtigt, für andere ist er ein Held. Er ist ein Hardliner. Viele Bürgerrechtler werfen ihm mangelnden Respekt vor Menschenrechten vor. „Es gab Konfrontationen und Verfolgungsjagden“, sagt der inzwischen pensionierte Polizist. „Manchmal hat ein Verdächtiger dabei auch Prügel bezogen. Das kommt vor.“

In Juárez, erzählt Leyzaola, sei er in eine Behörde mit Hunderten aviadores gekommen – Beamten, die nur zum Zahltag am Arbeitsplatz erschienen. „Von 2500 Polizisten haben nur etwa 300 wirklich gearbeitet“, sagt er. Er entließ die aviadores und schickte den Rest auf Streife. Er schaffte neue Wagen an, bessere Handfeuerwaffen, und er ersetzte die mausgrauen Monturen durch dunkelblaue. „Die Beamten sollten ihre Uniform mit Stolz tragen“, sagt er. Die Polizei eroberte die Stadt mit einer durchdachten militärischen Strategie zurück: „Wir haben die Verbrecher nicht in die Ecke gedrängt, sondern ihnen immer einen Fluchtweg offengehalten, damit sie einfach aus Juárez abhauen."

David Alamillo ist Restaurant- und Barbesitzer. Im Jahr 2008 lebte er in Europa. Auf einmal bekam er Anrufe von seinen Geschäftsführern aus Juárez, die von Raubüberfällen, Morden und verängstigten Angestellten berichteten. Er beschloss zurückzukehren, nur für ein halbes Jahr. Jedenfalls sagte er das seiner Frau. Alamillo, ein bulliger, redseliger Mann, war gerade erst eine Woche wieder da, als er Besuch von einem Mann in Begleitung von sechs Bewaffneten bekam. Sie verlangten 35.000 Dollar. Alamillo zahlte nicht. Eine Woche später brannte eine seiner Diskotheken ab. Mit der Zeit wurden die Erpresser raffinierter. „Sie beschimpften einen nicht mehr, sondern begegneten einem wie höfliche Geschäftspartner. Irgendwann denkt man, dass es vielleicht nicht so schlimm ist, wenn man zahlt“, sagt Alamillo. „Bei vielen Leuten änderte sich die Einstellung. Sie ignorierten Strom- und Wasserrechnungen und zahlten statt ihrer Steuern das Schutzgeld.“ Bei Alamillo waren es bald 2000 Dollar pro Woche. Ein Mann mit einem Basecap kam vorbei, bediente sich am Schnaps und nahm den Briefumschlag mit dem Geld mit. Empört über diese Zustände, tat sich Alamillo im Jahr 2010 mit anderen einflussreichen Leuten in der Stadt zusammen und gründete den Mesa de Seguridad, ein Komitee für öffentliche Sicherheit, das mit der Polizei zusammenarbeiten sollte.

Die Gruppe traf sich heimlich an Orten wie dem Flughafen von El Paso in Texas. Ihre Mitglieder hatten beste Verbindungen und damit die nötige Macht, Politiker zum Handeln zu bewegen. Auf ihr Drängen führten die Gesetzgeber im Bundesstaat lebenslange Gefängnisstrafen ein für Entführungen, Erpressungen sowie für Morde an Polizisten, Journalisten und drei oder mehr Menschen. Die Höchststrafe für Mord hatte zuvor bei 50 Jahren gelegen. In Mexiko war dieses Komitee etwas Revolutionäres. Jahrzehntelang hatte die autoritäre Bundesregierung Bürgerbeteiligung abgelehnt. Und die Reichen haben in Mexiko kaum Umgang mit Polizisten, weil die Beamten meist aus den ärmsten Familien stammen – so wie die narcos, die Drogenhändler. „Polizisten wurden von Kriminellen zu Partys eingeladen. Dort bekamen sie die Anerkennung, die ihnen die Gesellschaft verwehrte“, sagt Alamillo.

Das Komitee forderte daher nicht nur höhere Gehälter, eine bessere Ausbildung und neue Ausrüstung, sondern auch mehr Wertschätzung für die Polizisten. Mit Bundes- und Landesmitteln richtete die Stadt einen Country Club für Beamte und deren Familien ein – mit Swimmingpool, Fahrrädern, Picknickbereich und einer Gedenkstätte für Kollegen, die im Dienst ums Leben gekommen sind. Bei einer Besprechung des Komitees, das jeden Monat einen verdienstvollen Beamten ehrt, lerne ich Emilio Fernández kennen. Der Streifenpolizist sitzt auf einer Stuhlkante, neben sich seine Frau, zwei Söhne und eine Tochter. Fernández war einen unbefahrbaren Bergweg hinaufgestiegen und hatte von dort einen herzkranken alten Mann auf dem Rücken hinunter zum Krankenwagen getragen. „Das war heldenhaft. Wir sind Ihnen und Ihrer Familie dankbar“, sagt Alejandra de la Vega, die das Komitee organisiert.

Alle Anwesenden stehen auf und applaudieren. Fernández’ Lippe zittert. Seine Frau und seine Tochter haben Tränen in den Augen. Am folgenden Tag macht Alamillo mit mir eine Tour durch die Stadt. Wir fahren an Industrieparks mit schuhkartonartigen weißen Fabriken vorbei. Wir überqueren Kreuzungen mit kleinen Supermärkten und Tankstellen an jeder Ecke. Dann biegt Alamillo in das Wohnviertel Fraccionamiento Praderas del Sol mit Hunderten kleinen Fertighäusern ein. Sie stehen leer – alte Zeugen der Gewalt und des eingebrochenen Immobilienmarkts. Am frühen Nachmittag sind wir wieder in der Innenstadt und sehen uns seine neueste Investition an. Das „Restaurante Viva México“ mit Laufsteg, Bühne für den Sänger und einer Art Zirkusring in der Mitte, in dem Reiter ihre Lassokünste vorführen. Alamillo besitzt nun sieben Unternehmen und beschäftigt 300 Menschen. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt er. „Wir müssen dranbleiben.“

Bei meinem ersten Besuch in Juárez vor 20 Jahren war das Strafverfolgungssystem so gut wie funktionsunfähig. Es gab eine winzige, schmuddelige Leichenhalle und kein gerichtsmedizinisches Labor. Alejandro Cárdenas fing 2002 in Juárez an. Sein Arbeitsplatz war damals ein kleiner Raum an der medizinischen Hochschule mit einer Leichenkammer, die entsetzlich stank, weil die Kühlung oft kaputt war. Heute arbeitet der Zahnmediziner mit einem Team forensischer Anthropologen in einem modernen Gebäude inklusive DNA- und Genetiklabor. Eines Morgens besuche ich ihn dort. Seine Assistenten legen gerade einen mumifizierten älteren Mann in eine rechteckige Wanne. Cárdenas füllt sie mit einem Chemikalienbad. Innerhalb von drei Tagen sind Nase, Mund, Ohren und Wangen deutlicher zu erkennen. Schließlich lässt sich die Leiche identifizieren.

Die Rehydrierungslösung hat Cárdenas selbst entwickelt. Anfangs experimentierte er mit tierischem Gewebe und mit ausgetrockneten Fingern. Er legte sie in verschließbare Gläser mit verschiedenen Lösungen. Seine Kollegen belächelten ihn. Doch zwei Jahre und etwa 200 Finger später bekam er seinen ersten vollständig ausgeformten Zeigefinger. Cárdenas zeigt mir Dias von vielen rehydrierten Leichen. Die chemische Behandlung hat Gesichter, Tätowierungen, Leberflecken, Narben, Muttermale und sogar Bräunungsstreifen wieder zum Vorschein gebracht. Mithilfe seiner Erfindung sind den Ermittlern Mörder ins Netz gegangen, die sich darauf verlassen hatten, dass die Hitze der Wüste ihre Verbrechen für immer verbleichen lassen würde.

Die Veränderungen im Justizsystem sind auch im Gefängnis von Juárez spürbar. Es war einst eine der gefährlichsten Strafanstalten in Lateinamerika, weil in ihm in Wahrheit die Insassen das Sagen hatten. Der Bundesstaat übernahm es 2011 und schickte die gewalttätigsten Häftlinge in Bundesgefängnisse. Die Geschäfte und Restaurants, die die Inhaftierten betrieben hatten, wurden geschlossen, Technik zur Blockierung von Handytelefonaten installiert. Bei meinem Besuch bekam ich glänzende Fliesen, helle Beleuchtung und saubere Höfe zu sehen. Im Jahr 2014 gab es hier keine Morde, Ausbrüche oder Aufstände mehr.

Als sich die Gewalt im Land rapide ausbreitete, führte Mexiko auch Gerichtsverfahren nach amerikanischem Vorbild ein, bei denen Richter Aussagen vereidigter Zeugen in öffentlichen Gerichtssälen anhören. Bis dahin hatten sie hinter verschlossenen Türen über Schuld oder Unschuld entschieden. Manche Urteile ergingen erst nach Jahren. Chihuahua gehörte zu den ersten Bundesstaaten, die ein offenes Verfahrenssystem einführten, und Juárez übernahm es umgehend.

Als ich eines Tages einen Gerichtssaal besuche, sprechen dort drei Richter nach einem Monat öffentlicher Vernehmungen drei Angeklagte schuldig. Diese hatten bewaffnete Überfälle auf Privatwohnungen verübt, Frauen vergewaltigt und waren mit geraubten Computern und Fernsehern geflohen. Die Polizei hatte die Männer verhaftet und Zeugen gefunden. „Viele junge Männer haben derartige Verbrechen verübt“, erzählt mir die Staatsanwältin Josefina Soara. „Sie haben sich Waffen besorgt und Leute überfallen, die ihnen gerade in den Sinn kamen. Sie rechneten sich aus, dass sie angesichts der riesigen Gewaltwelle niemand beachten würde.“

Die Zahl der Morde in Juárez ist von 3766 im Jahr 2010 auf 256 im vergangenen Jahr zurückgegangen. Die Stadt zählt nicht länger zu den 50 gewalttätigsten der Welt. Seit mehr als zwei Jahren hat es keine Entführung oder Erpressung mehr gegeben. Dank des Aufschwungs in den USA sind in der ersten Jahreshälfte 2015 in Juárez 17.000 neue Arbeitsplätze entstanden, der größte Zuwachs seit fünf Jahren. Alamillo betont, dass Juárez als Vorbild für andere Regionen in Mexiko dienen kann. „Wenn Juárez es schafft, warum sollte es dann nicht auch woanders gehen? Es ist dasselbe Land.“

Ich würde ihm nur zu gern glauben. Aber Juárez liegt im Norden, näher am US-Markt, und es ist für neue Ideen oftmals aufgeschlossener als der Rest des Landes. Vieles von dem, was die Stadt ins Verderben geführt hat, gibt es immer noch: schlecht bezahlte Jobs ohne Aufstiegsmöglichkeiten, Straßenbanden und Drogensyndikate, mehr Plakatwände als Bäume sowie die Nähe zu einem Nachbarn mit unersättlichem Appetit auf Drogen und praktisch nicht existenten Schusswaffengesetzen. Der Kampf gegen Korruption und fehlendes Verantwortungsgefühl unter Politikern wurde bis heute nicht in Angriff genommen. Auch diese Untugenden hatten es ermöglicht, dass aus kleinen Drogenhändlern eine Bedrohung für die nationale Sicherheit werden konnte. Obwohl fast die Hälfte des Steueraufkommens von Chihuahua aus Juárez stammt, fließt nur ein kleiner Teil dorthin zurück. Noch immer gibt es zu viele Schlaglöcher, zu wenige Parks.

Dennoch scheint die Wende zum Guten geglückt. Manche führen sie allerdings eher auf ein Friedensabkommen zwischen dem Sinaloa- und dem Juárez-Kartell zurück. „Kann sein. Ich weiß es nicht“, sagt Alejandra de la Vega, die Managerin des Sicherheitskomitees. „Aber ich weiß, dass die Polizei heute viel besser funktioniert. Mörder sind im Gefängnis, Entführer sind im Gefängnis, Erpresser sind im Gefängnis.“

Ich treffe den ehemaligen Polizeichef Leyzaola zum gemeinsamen Frühstück. Er sagt, die Antwort sei immer in Juárez zu finden gewesen. „Die Leute glauben, dass jemand von außen kommt und das Problem löst. Sie hoffen auf einen Heilsbringer. Aber der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, das eigene Potenzial zu stärken.“ Zwei Monate nach unserem Gespräch wird Leyzaola in einem parkenden Auto von mehreren Schüssen getroffen – eine Mahnung, dass die Stadt weiter gefährlich ist. Er sitzt jetzt im Rollstuhl, ist wieder nach Tijuana gezogen und dort Bürgermeisterkandidat. War der Fortschritt in Juárez tatsächlich nur eine Illusion?

Nicht unbedingt. Zwei mutmaßliche Täter wurden bereits kurz nach den Schüssen festgenommen. Ihre Gerichtsverfahren werden öffentlich sein. Und wenn sie verurteilt werden, landen sie in Gefängnissen, die von Wärtern und nicht von den Häftlingen kontrolliert werden.

(NG, Heft 6 / 2016, Seite(n) 136 bis 153)

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