Die vergessenen „Wolfskinder” Ostpreußens

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten Tausende Kinder in Ostpreußen ohne ihre Eltern überleben – zeitweise in Wäldern. Was wurde aus ihnen?

Von Gail Fletcher
bilder von Lukas Kreibig
Veröffentlicht am 11. Sept. 2023, 15:15 MESZ

Für Gisela Unterspann ist das Trauma des Krieges ein ständiger Begleiter. Sie musste als Kind ohne Eltern aufwachsen und litt sehr darunter, dass ihre schmerzhaften Erinnerungen lange ignoriert wurden.

Foto von Lukas Kreibig

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten sich viele Kinder ohne die Hilfe ihrer Eltern im Chaos zurechtfinden. Das traf insbesondere auf die Kinder in Ostpreußen zu, die in den letzten Zügen des Krieges von ihren Familien getrennt wurden oder verwaisten. In ihrer Not schlossen sich viele von ihnen zusammen und durchstreiften hungrig und vom Rest der Gesellschaft isoliert die Wälder, um zu überleben. Sie wurden später als „Wolfskinder“ bekannt.

Gisela wurde während des Einmarsches der Roten Armee in Königsberg, Ostpreußen, von ihrer Familie getrennt. Heute lebt Gisela auf demselben Land in Lazdijai, Litauen, das sie während der sowjetischen Besetzung Litauens bewirtschaftete.

Foto von Lukas Kreibig

Dass in Ostpreußen besonders viele Kinder plötzlich alleine waren, erklärt Dr. Michelle Mouton, Geschichtsprofessorin an der Universität von Wisconsin, mit geopolitischen Entscheidungen am Ende des Weltkriegs: In einer Erklärung der britischen Labor Party aus dem Jahr 1944 schrieb die Partei, dass sie in der Zeit nach dem Krieg mit „einem tiefen Hass gegen Deutsche in besetzten Gebieten“ rechnete. Sie glaubte, dass den Deutschen nur die Wahl zwischen „Migration und Massaker“ blieb. Mouton zufolge wollten die Alliierten zumindest offiziell ein Massaker vermeiden. „Deshalb genehmigten sie die Migration.“

Im Chaos der gesetzlich genehmigten und inoffiziellen Vertreibung der Deutschen war es für viele Familien schwer, wieder zueinanderzufinden. Besonders das Schicksal der ostpreußischen Kinder war davon betroffen. Einige wurden in sowjetische Kinderheime geschickt, andere flohen nach Litauen, wieder andere in das neue und geteilte Deutschland. In zahlreichen Fällen war der Rest ihrer Kindheit und Jugend von dem Druck geprägt, sich in eine neue Umgebung einzufügen, die ihnen nicht vertraut und oft auch nicht wohlgesonnen war.

BELIEBT

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    Reinhard Bundt verließ Ostpreußen und ging nach Litauen, nachdem sein Haus bombardiert worden war. Von all den Wolfskindern, die Fotograf Kreibig während seiner Zeit in Litauen traf, konnte sich nur Reinhard an genügend Deutsch erinnern, um sich zu unterhalten. „Mein Herz ist deutsch, aber ich bin Litauer“, sagt er. Hier sitzt er in seinem Schlafzimmer zu Hause in Vilnius.

    Foto von Lukas Kreibig

    Reinhard wurde 1936 geboren und war drei Jahre alt, als der Krieg begann.

    Foto von Lukas Kreibig

    Viele der deutschen Wolfskinder, die nach Litauen flohen, haben eine sehr ähnliche Lebensgeschichte. Ihre Sprache, ihre Familie und ihre Heimat – einige der wichtigsten Faktoren, die unsere Identität formen – wurden ihnen in einem Alter genommen, das für ihre weitere Entwicklung enorm prägend war. Was sie stattdessen bekamen, war ein Leben, in dem sie unter schwersten Bedingungen arbeiten mussten – oft nur mit einer minimalen Bildung ausgestattet und immer auf der Hut, um nicht entdeckt zu werden.

    Jegliche Unterstützung, die sie von ihren litauischen Nachbarn erfuhren, konnte jederzeit unvermittelt enden. Sie lebten in einem Land, das von der UdSSR besetzt war und sich der sowjetischen Politik unterwarf, deren Ziel es war, den Einfluss der Nationalsozialisten in Politik und Gesellschaft zu zerstören. Letzten Endes waren sie Kinder, die unter dem Zusammenbruch eines Systems litten, von dem sie hätten profitieren sollen.

    Elfriede Müller, geboren 1934, wurde im Alter von 11 Jahren zum Flüchtling. Elfriede ist hier im Haus ihrer Freundin Margot in Kaunas, Litauen, fotografiert worden. Auch Margot war ein Wolfskind.

    Foto von Lukas Kreibig

    Im Alter von elf Jahren wurde Elfriede von ihrer Mutter und ihrem Bruder getrennt, nachdem sie von der sowjetischen Armee entdeckt worden waren. Sie wurden in ein Arbeitslager in Sibirien geschickt.

    Foto von Lukas Kreibig

    Der Fotograf Lukas Kreibig kann sich nicht erinnern, wann genau er zum ersten Mal von den Erfahrungen der Wolfskinder gelesen hatte. Aber ihre Geschichten ließen ihn nicht mehr los. Als Student der Dänischen Schule für Medien und Journalismus machte er sich daran, das Schicksal der Kinder Ostpreußens besser zu verstehen, und begann 2017 zu diesem Zweck mit einem Foto-Projekt. Bei seiner Recherche stieß er auf die Arbeit von Claudia Heinermann, die ein Buch über die Wolfskinder veröffentlicht hatte. 

    Sowohl Heinerman als auch Kreibig sprachen mit derselben Frau, Luise. Luise war selbst eines der sogenannten Wolfskinder und stellte Heinermann und Kreibig jenen Menschen vor, die die beiden später für ihre Projekte fotografierten. Als Kreibig von den beiden Projekten sprach, sagte er, „es ist gut, dass [die Geschichten der Wolfskinder] auf vielerlei Arten erzählt werden“, damit ihr Leben und ihre Erlebnisse sichtbarer werden.

    Kreibig erkannte, dass er einige der letzten Augenzeugen eines brutalen Krieges festhalten konnte. Er wollte intime Porträts erschaffen, die die alternden Gesichter jener Menschen zeigten, die in den Schatten der Geschichte sich selbst überlassen wurden.

    Das Fotoprojekt Wolfskinder

    In einer abgelegenen und idyllischen Kleinstadt im Süden Litauens traf Kreibig zum ersten Mal Gisela. Mit 14 Jahren war sie einem sowjetischen Todesmarsch entkommen, nachdem sie mit angesehen hatte, wie ihre Großmutter 1945 verhungerte. Nach einer kurzen Rückkehr nach Königsberg reiste Gisela nach Litauen, wo sie sich ein Leben mit mehr Möglichkeiten versprach. Sie lernte Litauisch und landete schließlich auf einer sowjetischen Kolchose – einem genossenschaftlich organisierten, landwirtschaftlichen Großbetrieb. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann kennen und gebar ihre zwei gemeinsamen Kinder. Sie erinnert sich, wie schwierig es war, dort zu leben und zu arbeiten. Auf Litauisch erklärt sie, dass sie diese Zeit gern vergessen würde, es aber nicht kann. „Das bleibt immer da, wie eine Narbe.“

    Natürlich gab es auch Momente der Hoffnung, beispielsweise als das Deutsche Rote Kreuz Gisela darüber informierte, dass ihre Mutter und ihr Bruder noch am Leben waren. Zu diesem Zeitpunkt waren 20 Jahre vergangen, seit sie die beiden das letzte Mal gesehen hatte. 1961 schrieb ihre Mutter ihr auf Deutsch: „Giselchen, ich bin so froh, dass ich weiß, dass du noch lebst und dass ich deine Adresse habe, um dir zu schreiben. Wir haben schon lange nichts mehr voneinander gehört. Dein Bruder Dieter und ich sind gesund.“

    Doch die Angst, von der Regierung angezeigt zu werden, ließ sie nicht los. Sie konnte ihre deutsche Herkunft nur den Menschen offenbaren, die ihr am nächsten standen.

    Kreibig gewährt auch Einblicke in das Leben von Erna, Reinhard und Elfriede – anderen Kindern aus dem ehemaligen Ostpreußen. Er lichtete alte und aktuelle Familienfotos und Dokumente ab, die ihre Lebensgeschichte widerspiegeln und zeigen, wer sie einst waren und heute sind. Die meisten der Menschen, die er getroffen hat, berichteten von dem Gefühl, ihre deutsche und litauische Identität nicht wirklich voneinander trennen zu können – auch, weil bis vor Kurzem keiner der beiden Orte ihren Platz in der Gesellschaft wirklich anerkannt hat.

    Lange keine staatliche Anerkennung

    Litauen stellt mittlerweile eine kleine Rente für Wolfskinder bereit. Auch in Deutschland gibt es für diese Menschen heutzutage etwas staatliche Unterstützung – wenngleich die bürokratischen Hürden etwas höher sind – und politische Repräsentation.

    Erna Schneider, Jahrgang 1936, floh aus einem fensterlosen Viehwaggon, der ostpreußische Kinder nach Russland transportierte, in den Wald. 1946 ging sie mit ihrem Bruder und ihrer Schwester nach Litauen. Dort wurde sie von Einheimischen aufgenommen und versorgt. Erna wünscht sich, dass die deutsche Regierung den Geschichten der Wolfskinder mehr Aufmerksamkeit schenkt. Hier geht Erna an seinem See in der Nähe ihres Zuhauses in Litauen spazieren.

    Foto von Lukas Kreibig

    Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte Erna das Gefühl, dass sie offen über ihre Vergangenheit und ihre Wurzeln sprechen konnte.

    Foto von Lukas Kreibig

    Die Tendenz, Aussagen von Kindern bei der Geschichtsschreibung zu übergehen, verdeutlicht, warum Gisela und unzählige weitere Menschen wie sie in den historischen Berichten so lange nicht auftauchten. Eine Untersuchung der sich verändernden Erinnerungspolitik in Deutschland und ihres Einflusses auf ehemalige Gebiete der UdSSR zeigt ebenfalls, warum die Kinder im Diskurs der Nachkriegszeit vernachlässigt wurden und wie es schlussendlich dazu kam, dass sie doch noch ihren Platz im historischen Narrativ des heutigen Europa fanden.

    Erna Schneider lebt in Litauen in der Nähe des Orijasees, der auf diesem Bild im Licht des Sonnenuntergangs glitzert.

    Foto von Lukas Kreibig

    Schon direkt nach Kriegsende waren einige Menschen in Deutschland darum bemüht, sich von ihrer Verantwortung für die Gräueltaten des Krieges freizusprechen und ein deutsches Opfernarrativ zu konstruieren – oder alternativ ein Narrativ der wichtigen Rolle Russlands bei der Bekämpfung des Faschismus. Die Erinnerungen und das Erinnern an jene Zeit waren enorm selektiv. Man kann sich heute kaum noch eine Zeit vorstellen, in der die schrecklichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust selten, wenn überhaupt thematisiert wurden.

    Dr. Jenny Wüstenberg, Gastprofessorin an der York University, erklärt, dass man im sowjetisch besetzten Ostdeutschland „nicht wirklich über die Gräueltaten der Sowjets sprach, weil sie als Befreier dargestellt wurden“. In Westdeutschland hingegen war der Diskurs über das Leid der Deutschen „ein zentraler Bestandteil der Erinnerungen an den Krieg“.

    Späte Thematisierung der Wolfskinder

    Später ermöglichten das Aufkommen studentischer Bewegungen und die Lockerung der staatlichen Kontrolle über die Erinnerungspolitik aber auch die Entstehung neuer Blickwinkel auf den Krieg – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Besonders in Westdeutschland galt es zuvor gemeinhin nicht als angemessen, in zu großem Detail darüber zu sprechen, was mit den Deutschen nach dem Krieg geschah – das hätte die Taten des Nazi-Regimes heruntergespielt oder eine falsche Gleichsetzung mit dem Leid der Kriegsopfer bedeutet, so fand man.

    Auch die Thematisierung der Wolfskinder beschränkte sich deshalb hauptsächlich auf rechtsextreme Kreise, in denen Kinder als Instrumente benutzt wurden, um das Nazi-Regime zu rechtfertigen und den Fokus darauf zu lenken, dass auch Deutsche sehr unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten hatten.

    Der Fall der Berliner Mauer 1989 und der anschließende Zerfall der Sowjetunion erlaubte es vielen Gemeinden laut Wüstenberg, sich offener und intensiver mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Auch Kreibig hat den Eindruck, dass in seinem Heimatland mittlerweile mehr Menschen die Geschichten der ostpreußischen Wolfskinder kennen.

    Zeitzeugnis der Kriegskinder Ostpreußens

    Das Trauma des Krieges ist noch immer tief in den Gesellschaften Europas verwurzelt und zieht sich durch mehrere Generationen. Aber wie bei jedem anderen schmerzhaften Erbe ermöglicht es der Lauf der Zeit früher oder später, sich mit den vergessenen Menschen und Ereignissen der Geschichte auseinanderzusetzen. Für Lukas Kreibig war es wichtig, sich an „die Geschichten und den Tod und den Schmerz dieses Krieges“ zu erinnern. Sein Projekt über die Kriegskinder Ostpreußens lädt dazu ein, über die beträchtlichen Folgen eines Krieges für die Kleinsten zu reflektieren – und über die komplexen Prozesse, die an der Bildung persönlicher Identitäten und gesellschaftlicher Geschichtsschreibung mitwirken.

    Kreibigs Projekt ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass Bilder die Macht haben, unsere historischen Aufzeichnungen auf wertvolle Weise zu ergänzen, Meinungen zu bilden oder zu verändern und uns dazu zu bringen, die kollektive Vergangenheit kritischer zu betrachten.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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