Der letzte Honigjäger von Nepal

Tollkühn erntet Mauli Dhan einen Honig, der von den größten Honigbienen der Welt bewacht wird – und von launischen Geistern.

Von Mark Synnott
bilder von Renan Ozturk
Veröffentlicht am 3. Nov. 2017, 13:20 MEZ
Kliffhänger: Mauli Dhan klettert eine dreißig Meter lange Strickleiter hinauf, um seine Beute zu erreichen – ...
Kliffhänger: Mauli Dhan klettert eine dreißig Meter lange Strickleiter hinauf, um seine Beute zu erreichen – ein Bienennest voller „Tollhonig“. Dabei muss er Ruhe bewahren. Bevor er das Sicherheitsseil neben sich zu fassen bekommt, könnte jeder Fehler tödlich sein.
Foto von Renan Ozturk

Mauli Dhan hängt neunzig Meter über dem Erdboden an einer Bambusstrickleiter und begutachtet den Felsabschnitt, den er erklimmen muss, um sein großes Ziel zu erreichen: eine pulsierende Masse aus Tausenden von Kliffhonigbienen. Wie ein Teppich bedecken die Tiere den halbkreisförmigen Bienenstock, der unterhalb eines Felsvorsprungs fast zwei Meter hinab reicht.

Die Bienen bewachen etliche Kilo einer klebrigen, rötlichen Flüssigkeit, die halluzinogene Kräfte besitzt und als Tollhonig bekannt ist. Auf dem asiatischen Schwarzmarkt bringt die Substanz 30 bis 40 Dollar pro Kilo ein – etwa sechsmal so viel wie gewöhnlicher nepalesischer Honig.

Für Mauli aus dem Dorf unten im Hongu-Tal ist das Honigsammeln die einzige Möglichkeit, genügend Geld zu verdienen, um die wenigen Grundnahrungsmittel zu kaufen, die er nicht selbst produzieren kann, Salz etwa oder Speiseöl. Allerdings glaubt er, dass es an der Zeit ist, sich zurückzuziehen. Mit seinen 57 Jahren ist er eigentlich zu alt für die gefährliche Honigernte. Schwingt die Leiter über dem Abgrund hin und her, werden seine Arme schnell müde. Die Bienen stechen ihm ins Gesicht, in den Hals, die Hände, die nackten Füße und durch die Kleider.

Doch jetzt drängt er solche Gedanken beiseite. Er schwingt ein Bein zur Felswand und tritt auf einen kleinen Vorsprung, schmaler als ein Ziegelstein. Er lässt die Strickleiter los und schiebt sich zentimeterweise seitwärts, um seinem Assistenten Asdhan Kulung Platz zu machen. Dann stehen die Männer auf dem schmalen Vorsprung. Weit unter ihnen rauscht der vom Monsunregen angeschwollene Fluss Hongu durch das enge Tal.

Je näher Mauli dem Bienenstock kommt, umso kleiner und weiter voneinander entfernt sind die Vorsprünge und Kerben, auf die er seine Füße setzen und an denen er sich festhalten kann. Er bewegt sich langsam, aber selbstsicher, bis ihn nur noch gut drei Meter von seinem Ziel trennen. An diesem letzten Abschnitt aus lockerem, feuchtem Gestein sind die Griffe und Tritte nur wenige Zentimeter groß. Hier den Halt zu verlieren, wäre Maulis sicherer Tod. Noch dazu trägt er einen fast acht Meter langen Bambusstab über der Schulter und hält ein schwelendes Grasbüschel zwischen den Fingern seiner rechten Hand, aus dem dichte Rauchwolken aufsteigen. Spielen die Luftströmungen mit, wird der Rauch die Bienen einhüllen und sie benommen machen, während Mauli sich ihnen nähert.

Das Bienennest pulsiert wie ein Basslautsprecher, und jeder Ton schleudert Wellen wütender Insekten in die Luft. Sie umschwärmen den Honigjäger, doch er zuckt mit keiner Wimper. Stattdessen murmelt Mauli ein Kulung-Mantra, das die Bienen und Geister, die diese Felswand bewohnen, besänftigen soll: „Ihr seid Rangkemi. Ihr gehört den Bienengeistern an. Wir sind keine Diebe. Wir sind keine Räuber. Wir gehorchen unseren Vorfahren. Bitte fliegt. Bitte verschwindet.“

Rangkemi, der Schutzgeist der Bienen und der gefährlichen Orte, hat bisher immer seine Hand über Mauli gehalten, und es gibt deshalb keinen Grund zu glauben, dass er ihn jetzt im Stich lassen wird. Mit diesem Wissen im Herzen zeigt der Honigjäger keine Angst, als er die Schlüsselstelle, den heikelsten Teil des Anstiegs, angeht. 

Es ist 42 Jahre her, dass Mauli jenen Traum hatte, der ihn auf seinen Weg führte. Er war 15 Jahre alt und hatte seinem Vater am Tag zuvor zum ersten Mal bei der Honigernte geholfen. „Ich sah zwei wunderschöne Frauen“, erinnert er sich. „Und im nächsten Moment war ich in einem Spinnennetz an einer Felswand gefangen. Ich versuchte, mich zu befreien, als ich über mir einen großen, weißen Affen sah. Er ließ seinen Schwanz zu mir herunter, und die Frauen halfen mir, ihn zu packen. Dann zog der Affe mich hoch, und ich war frei.“

Die Älteren, darunter sein Vater, erklärten ihm damals, der Affe sei Rangkemi, der Schutzgeist der Bienen und Affen – eine bisweilen zornige Energieform, die gefährlichen Orten innewohne, zu denen sich nur wenige Menschen vorwagen. Sie versicherten ihm, dass er die Felsen nun gefahrlos erklimmen könne und sich der Geist nicht an ihm oder seiner Familie rächen werde, wenn er den kostbaren Honig an sich nehme.

An jenem Tag schulterte Mauli die exklusive und schwere Bürde des Honigjägers und hat seither in jedem Frühling sein Leben riskiert, um die süße, bewusstseinsverändernde Substanz von den Klippen zu holen, die zuvor sein Vater eine Generation lang abgeerntet hatte.

„Ich bin müde und möchte keinen Honig mehr sammeln“, sagt Mauli. „Ich mache nur weiter, weil ich arm bin und niemand sonst die Aufgabe übernimmt.“ Seine Söhne hält er von der Honigernte fern. „Menschen, die Felswände hochklettern, sind Dummköpfe“, sagt er. „Meine Kinder gehen zur Schule, damit sie meine Arbeit nicht zu tun brauchen.“ 

Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 7/2017 von National Geographic. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen. 

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