Wild Ice Skating: Der Gesang des dünnen Eises

Ein schwedischer Mathematiker läuft auf besonders dünnem, glattem Eis Schlittschuh und erzeugt dabei seltsame Klänge – ohne einzubrechen.

Von Amy Rankin
Veröffentlicht am 14. Feb. 2018, 16:55 MEZ
Dünnes Eis erzeugt seltsam fremdartige Klänge
Dieser kleine See bei Stockholm in Schweden gibt seltsame Klänge von sich …

Die Redewendung „sich auf dünnes Eis begeben“ bedeutet, dass man gerade etwas tut, was auf die eine oder andere Art gefährlich sein kann und schlimme Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Allerdings ist es genau das, was die schwedischen Eisläufer Henrik Trygg und Mårten Ajne gerne tun.

Sie wagen sich auf das Eis, das sich gerade erst gebildet hat. Vollkommen glatt und gefährlich dünn liegt es auf dem Wasser eines Sees oder Teiches – das ist der ultimative Kick, den man sich beim „Wild Ice Skating“ holen kann. Trygg findet, es ist „der Heilige Gral“ des Eislaufens.

Der Fotograf und Filmemacher aus Stockholm hat eine wahre Kunstform daraus gemacht, das saubere, schwarze Erscheinungsbild des Eises und die Laser-Symphonie aus Klängen einzufangen, die entstehen, wenn ein Eisläufer darüber hinweggleitet. Ajne ist ein Mathematiker, der Bücher über die Kunst und Wissenschaft des Wild Ice Skating geschrieben hat, in denen auch Fotos von Trygg zu sehen sind. Die beiden Männer laufen seit Jahrzehnten Schlittschuh.

Für das Video in diesem Artikel hat Trygg Ajne dabei gefilmt, wie er auf 45 Millimeter dickem Eis auf dem See Kvarnsjön bei Stockholm in Schweden eislief.

Aber wie – und warum – kann man auf solch dünnem Eis überhaupt eislaufen? Ajne erklärt den Vorgang.

Eislaufen ist an sich ja kein seltenes Hobby. Aber warum machen Sie das auf so dünnem Eis?

Die einfache Erklärung dafür ist, dass es der effizienteste, nicht-maschinelle Weg ist, um sich fortzubewegen. Es ist im Gegensatz zum normalen Laufen ziemlich gemütlich. Aber ich glaube, in einem philosophischen Sinne treibt mich vor allem der Drang an, mir selbst etwas abzuverlangen, weil es eine Herausforderung ist.

Was ist der Unterschied zwischen Wild Ice Sakting und dem Eislaufen in Eishallen?

Beim Eiskunstlauf oder Hockey geht es immer um Beschleunigung und Bremsen. Wir machen das eher wie Eisschnellläufer, aber deutlich entspannter. Wir haben keine Eile.

An einem Tag legen wir große Entfernungen zurück. Im Schnitt sind das vielleicht 40 bis 50 Kilometer, aber auch 100 Kilometer wären nicht ungewöhnlich. Wenn man Rückenwind hat, kann man sogar noch mehr schaffen.

Wie sehen die Idealbedingungen für das Eis aus?

Das beste Eis ist jungfräuliches, glattes Eis, das entsteht, wenn der See seine erste Eisdecke bekommt und sie gerade dick genug ist, um einen zu tragen. Bei günstigen Wetterbedingungen tritt dieser Zustand etwa zwei Tage nach dem Überfrieren ein.

Fünf Zentimeter sind für gewöhnlich das Limit [dafür, wie dünn das Eis sein darf]. Wenn man nah am Ufer ist, kann es auch dünner sein, bevor es bricht – bis zu 3,5 Zentimeter. Das gilt für frisches, kaltes, glattes Eis. Brackeis, das Salz enthält, muss dicker sein und ist schwieriger einzuschätzen.

Warum bricht das Eis nicht, wenn Sie darauf eislaufen?

Man könnte vermuten, dass man sofort einbrechen würde, aber das passiert nicht, weil unter dem Eis Wasser ist.

Das ist wie bei einem altrömischen Bogen oder einer Kuppel – die Seiten tragen das Gewicht der Spitze. Genau so funktioniert das mit dem Eis. Es sei denn, das Eis wird zu dünn. Die Mathematik dahinter ist furchtbar, versuchen Sie‘s gar nicht erst.

Können Sie jemals wirklich wissen, ob es absolut sicher ist?

Mit mehr Erfahrung wird man darin besser und besser, aber sicher kann man sich nie sein. Hin und wieder kann man schon mal einbrechen.

Aber aus Sicherheitsgründen sind wir immer in Gruppen unterwegs. Das ist eigentlich eine sehr gesellige Sportart.

Wie ist so, wenn man einbricht?

Jedes Jahr brechen ein paar Hundert Leute im Eis ein. Meist fallen sie ins Wasser, klettern schnell wieder raus, gehen nach Hause und trocknen sich ab. Wenn man sich dabei aber verletzt oder allein ist und niemand einem helfen kann, kann das gefährlich sein. Aber das passiert nur selten.

Warum dann nicht einfach auf dickerem Eis laufen, das sicherer ist?

Dickes Eis ist ungefähr so spannend wie ein Fußweg. Wenn es zu dick ist, wird es unelastisch und verliert seine Stimme. Es hat oft Risse, durch die Wärmeausdehnung entstehen Unebenheiten und früher oder später wird die Freude des Eislaufens unter Schnee begraben. Natürlich ist das dicke Eis auch optisch weniger ansprechend.

Wie bereitet man sich auf eine Runde Wild Ice Skating vor?

Das ist nicht so, als würde man morgens aufwachen und sich sagen: „Hey, was für ein schöner Tag, gehen wir mal eislaufen.“ Es ist deutlich komplizierter.

Da ist eine Menge Mathematik involviert – Temperatur, Witterungsverhältnisse, eine Menge Sachen. Wie lange wird es dauern, bis sich der See abkühlt und gefriert? Wir sehen uns Satellitenbilder an und schauen, wie glatt die Oberfläche ist – alles, um herauszufinden, ob wir eislaufen gehen können.

Wer macht so was üblicherweise?

Ingenieure, Kartografen und Mathematiker wie ich sind ein bisschen überrepräsentiert. Auch eine Menge Ärzte.

Gibt es da auch einen Wettbewerbsfaktor?

Es gibt eine Art freundschaftlichen Wettbewerb, aber keine Meisterschaften oder Olympiaden. Jeder versucht, jedes Jahr der Erste auf dem Eis zu sein oder eine besonders schöne Stelle zu finden. Oder man will einfach nur wagemutig und abenteuerlustig sein.

Wir haben eine gemeinnützige Organisation mit einer Webseite, auf der wir Informationen anbieten: Skridsko.net. Das bedeutet „schlittschuhlaufen.net“. Da posten Leute Bilder, es ist also ein bisschen wie eine Social Media Plattform, aber dort gibt es auch eine Menge Informationen über das Eis. Es gibt Eisläufer aus den nördlichen Ländern, den Niederlanden und Nordamerika. Wir versuchen, es anderen Leuten zu ermöglichen, das auch zu tun – es ist ja schwer genug!

Warum eignet sich dieses dünne Eis so gut, um diese Laserklänge zu erzeugen?

Die Klänge in dem Video entstehen dadurch, dass ich auf dem Eis laufe. Es gibt einen charakteristischen sonoren Ton und die Geräusche des knackenden Eises.

Das dünne Eis zieht sich nicht zusammen und dehnt sich nicht aus, weil es durch das Wasser darunter warm bleibt, selbst wenn es draußen kalt ist. Der technische Begriff dafür wäre isotherm.

Der sonore Klang ist das Lied des Eises, das man am besten aus geringer Entfernung hören (und aufnehmen) kann. Eine laienhafte Erklärung dafür wäre, dass der Ton umgekehrt proportional zur Dicke des Eises ist. Je dünner das Eis, desto höher der Ton. Spannenderweise ist das Eis beim hohen C kurz vor dem Einbrechen, der angeblich höchsten Note einer Sopranistin in der Oper, die zum Beispiel in Puccinis Turandot vorkommt.

Macht normales, dickeres Eis nicht auch Geräusche, ohne dass jemand darauf eisläuft?

Ja, wenn es sich durch Temperaturänderungen zusammenzieht. Für gewöhnlich zieht es sich nachts zusammen und dehnt sich dann wieder aus, wenn die Sonne aufgeht. Wenn es dick wird, kann es so richtig Krach machen – besonders im Frühling. Das sind sehr tiefe Töne, wie Donner.

Warum macht Wild Ice Skating süchtig?

Es geht darum, geeignete Stellen ausfindig zu machen und ihre Muster zu entdecken – man nimmt sich einen bestimmten See vor und wertet dann die verschiedenen Aspekte aus.

Das ist eine sehr befriedigende Herausforderung. Wenn es nicht funktioniert, lernt man aus seinen Fehlern und versucht es noch mal.

Das Interview wurde redigiert und gekürzt.

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