Zum Mount Everest bitte hinten anstellen

Immer mehr Menschen wollen auf den höchsten Berg der Welt, und immer mehr verwirklichen diesen Traum. Das führt zu gefährlichen Staus auf dem Gipfel. Doch die sind nicht das einzige Problem.

Von Freddie Wilkinson
Veröffentlicht am 18. Juni 2020, 13:15 MESZ
Khumbu-Eisfall-Schlange

Wer hier lang will, muss sich in die Schlange einreihen und warten: Der Khumbu-Eisfall ist einer der gefährlichsten Abschnitte auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest.

Foto von Mark Fisher, National Geographic

KATHMANDU, NEPAL | Es ist Montag, als Christopher Kulish, ein 62-jähriger Anwalt aus Boulder im US-Staat Colorado, stirbt. Er ließ sein Leben auf rund 8.000 Metern Höhe, im Camp 4 auf der Südroute, nachdem er vom Gipfel des Mount Everest zurückgekehrt war. Laut Kulishs Bruder deuteten Untersuchungen darauf hin, dass er an einem Herzstillstand gestorben ist, nicht an der Höhenkrankheit.

Mit Kulish war die Zahl der Todesopfer auf dem Mount Everest in der Frühjahrssaison 2019 auf elf gestiegen. Insgesamt starben in dieser Zeit auf allen 8.000-Meter-Gipfeln des Himalaya 21 Menschen.

Ein Foto, das vom nepalesischen Bergsteiger Nirmal Purja Magar aufgenommen wurde, zeigt eine fast lückenlose Schlange von Hunderten von Kletterern, die auf dem Gipfelkamm des Mount Everest sprichwörtlich im Stau stehen – alle hatten versucht, einen kurzen Zeitraum mit gutem Wetter für ihren Aufstieg zu nutzen. Das Bild ging viral und löste eine Debatte darüber aus, ob der Berg zu voll mit Menschen ist. Und es befeuerte auch die schwierige, wenn auch vertraute Diskussion darüber, ob die hohe Zahl der Todesopfer am Berg auf die Menschenmassen dort zurückzuführen ist.

Die meisten Personen, die auf dem Bild zu sehen sind, ob Bergführer oder Kletterer, teilten nach ihrer Rückkehr vom Berg ihre Version der Geschichte. Dabei waren die Sichtweisen kontrovers.

Der nepalesische Kletterer Nirmal Purja Magar veröffentlichte dieses Foto von Menschenmengen auf dem Mount Everest auf Instagram. Es ging schnell viral und löste eine Debatte darüber aus, ob die Besucherzahlen am Berg das Ertragbare übersteigen.

Foto von @nimsdai Project Possible

Auf der einen Seite waren da Menschen wie Elia Saikaly, ein Kameramann aus Kanada, der auf Instagram postete: „Ich kann nicht glauben, was ich da oben gesehen habe. Tod. Gemetzel. Chaos. Stau. Leichen auf der Route und in den Zelten im Camp 4. Menschen, die umkehren wollten und die am Ende starben. Leute, die runtergezogen wurden und über Leichen stiegen. Alles, was Sie in den Schlagzeilen gelesen haben, hat sich bei unserem Aufstieg zum Gipfel genauso abgespielt.“ Dieser Text wurde inzwischen gelöscht.

Andere schilderten die Situation auf dem Berg nüchterner „Es war, als würde man an einem Wochenende mit Hochbetrieb in einem Skigebiet am Lift stehen“, sagt Dirk Collins, ein Filmemacher aus Wyoming, der mit der National Geographic Society zusammenarbeitet. „Frustrierend, aber vor allem sehr langweilig. Und das ist auch irgendwie das letzte, was man beim Aufstieg auf den Mount Everest erwartet: Schlange stehen zu müssen.“ Das Team der National Geographic Society hatte den Aufstieg für diesen Tag geplant, drehte aber auf Grund der vielen Menschen um.

Einige erfahrene Bergführer wehren sich vehement gegen die Behauptungen, dass die große Menge an Menschen auf dem Berg Leben kostet. Ihrer Meinung nach ist der Stau ein Symptom größerer Probleme und keine direkte Ursache für Todesfälle.

Dieser Ansicht ist auch der Amerikaner Ben Jones, Bergführer bei der Agentur Alpine Ascents International: „Diese Geschichte ist einfach falsch“, sagt er. „Ich habe von keinem einzigen Menschen gehört, der gestorben ist, weil er anstehen musste... Meist sind daran eher falsche Entscheidungen beim Aufstieg schuld.“

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    Das Problem ist jedoch nicht auf einen Tag beschränkt. Jones führte sein Team am 23. Mai, dem Tag nach der Aufnahme des besagten Fotos, zum Gipfel. „Zwei einzelne Leute hielten die 50 hinter ihnen auf. Sie waren das einzige Problem, das wir hatten“, sagt er. „Sie sind nicht zur Seite gegangen, um uns andere vorbei zu lassen.“ Jones schätzt, dass alleine diese Schlange ihn und die anderen rund zwei Stunden kostete.

    „Es ging nicht vor und zurück, und alle warteten nur darauf, dass diese Zwei zur Seite gehen, was sie jedoch nicht taten“, so Jones weiter. In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag berechnete der renommierte Everest-Blogger Alan Arnette, dass fünf der elf Todesfälle in dieser Saison auf dem Mount Everest möglicherweise mit der Überfüllung auf den Routen zusammenhingen.

    „Wenn man den Aufstieg zum Gipfel ohne genügend Sauerstoff für den Rückweg fortsetzt, ist das ganz einfach eine schlechte Entscheidung“, sagt auch Eric Murphy, ebenfalls Bergführer bei Alpine Ascents. „Wenn wir in eine solche Schlange geraten und darauf warten müssen, dass es vor uns weitergeht, senken wir die Sauerstoffzufuhr, um sicherzustellen, dass sie uns nicht ausgeht“, erklärt Murphy den Umgang seines Teams mit den Sauerstoffreserven für den höchsten Teil des Berges.

    Murphys Ansicht nach sind die Staus auf dem Berg – genau wie alles andere – ein von den Bergführern gemachtes Problem: „Wenn die langsamen Kletterer einen Sherpa bei sich haben, sollte er eigentlich dafür sorgen, dass sie aus dem Weg gehen, etwas ausruhen und die Leute hinter sich passieren lassen“, sagt er und ergänzt: „Für viele Sherpas ist das jedoch zu viel Verantwortung.“ Ein weiterer Knackpunkt sind für Murphy die verschiedenen Klettertechniken, die den Verkehr auf dem Berg teilweise verlangsamten. „Einige Leute klippen sich mit Steigklemmen in jedes Seil ein, auch in flachem Gelände“, sagte er. Mit dem Einhängen der Steigklemmen in die befestigten Seile kann man  verhindern, dass ein Kletterer zurückrutscht. Wenn das Gelände flach ist, ist ein normaler Karabiner jedoch schneller und nicht viel weniger sicher. Durch das Anbringen und Entfernen einer Steigklemme jedoch kommen pro Vorgang 10 bis 15 Sekunden dazu. Da ein Everest-Kletterer sich pro Aufstieg ungefähr 500-600 einhängen muss, entspricht das zwei Stunden oder mehr, die mit dem einfacheren Verfahren eingespart werden könnten. „Sich nur mit einem Karabiner in das Seil zu klippen, geht einfach viel schneller.“

    „Die Menschenmenge ist eine gute Schlagzeile. Aber das Problem ist der Mangel an Erfahrung vieler Menschen am Berg “, sagt Mark Fisher, ein erfahrener Bergführer und Mitglied eines von der National Geography Society entsendeten Wissenschaftsteams. „Viele Leute schienen keinen Schimmer zu haben, wie man dort oben auf sich aufpasst, effizient klettert und sich richtig auf die Begebenheiten der Natur vorbereitet.“

    Ein Faktor, der sich massiv auf die Anzahl der Kletterer auf dem Berg auswirkt, ist die Wettervorhersage. Am Mount Everest gibt es im Mai durchschnittlich zehn bis 15 Tage mit geeignetem Wetter für den Aufstieg zum Gipfel. 2019 erreichten die Ausläufer des Zyklons Fani in der ersten Maiwoche den Himalaya. Sie verzögerten den Aufstieg eines Sherpa-Teams, das eine Reihe fester Seile auf der Route installierte, um einige Tage. Nachdem die Route zum Gipfel am 14. Mai geöffnet worden war, blieb das Wetter jedoch schwierig. Der Wind war stürmisch und lag im Schnitt zwischen 65 und fast 100 Kilometer pro Stunde (ungefährliche Geschwindigkeiten liegen unter 50 km/h) und an vielen Tagen des ohnehin kleinen Zeitfensters waren die Temperaturen zu niedrig. Dann, um den 19. Mai herum, drehte sich das Wetter plötzlich komplett. Eigentlich sollte der 24. Mai der beste Tag werden, nun machten die Vorhersagen ihn zum schlechtesten: Die drohende Windgeschwindigkeit von über 95 km/h veranlasste viele Teams dazu, ihren Aufstieg vorzuziehen – auf den 22. oder 23. Mai.

    Expeditionsteams begeben sich auf dem als „Balcony“ bekannten Teil der Route zum Gipfel des Mount Everest. Im Jahr 2019 erteilte Nepal eine Rekordzahl von 381 Klettergenehmigungen, dazu eine ähnlich hohe Zahl an Genehmigungen für Bergführer und Sherpas. Das führte zu großen Menschenmengen auf dem Berg.

    Foto von Mark Fisher, Fisher Creative, National Geographic

    Bloß nicht zur Rush Hour!

    Die endgültigen offiziellen Zahlen für die Mount Everest-Saison 2019 standen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht fest. Es ist aber wahrscheinlich, dass 2019 in Bezug auf die Besucherzahlen eine Rekordsaison war. Die nepalesische Regierung erteilte 381 Genehmigungen zum Aufstieg – so viel wie noch nie. Zur gleichen Zeit versuchten weitere 140 Kletterer, den Gipfel von Tibet aus zu erreichen (professionelle Sherpas, die am Berg arbeiten und Besucher zum Gipfel führen, sind in diesen Zahlen nicht mit eingerechnet). Alan Arnette meldete eine inoffizielle Zahl von mehr als 700 Personen, die 2019 den Gipfel bestiegen, Sherpas inklusive. Damit läge der Rekord weiter im Jahr 2018, wo 802 den Gipfel erklommen.

    Das Problem der großen Menschenanstürme auf den Mount Everest versucht China zu lösen, in dem die Regierung deutlich weniger Genehmigungen erteilt. Viele Agenturen starten ihre Expeditionen von dort aus.

    Das Problem sind jedoch nicht nur die hohen Besucherzahlen, sondern auch die Qualität einiger Reiseleiter, die den Ansturm von Kletterern auf nepalesischer Seite auffangen. „Die Leute werden das nicht gerne hören, aber das größte Problem am Mount Everest sind meiner Meinung nach die lokalen Anbieter, die unerfahrene, inkompetente Leute mitnehmen und sie um jeden Preis auf den Gipfel bringen wollen“, sagt Jones.

    15 der 21 Kletterer, die 2019 auf den 8.000er-Gipfeln in Nepal starben, waren mit lokalen Unternehmen unterwegs. Neben ihnen gibt es eine Reihe an internationalen Anbietern, die mit lokalen Ausrüstern zusammenarbeiten. So auch die US-amerikanische Agentur, in der Jones arbeitet:

    „Wir entwickeln ständig Strategien, um den Menschenmassen auszuweichen“, erklärt Jones. „Wenn man das Lager einige Stunden früher oder später verlässt, kann das den Tag komplett verändern. Das ist eine der vielen wichtigen Ebenen der Entscheidungsfindung am Everest ... Die westlichen Anbieter kommunizieren miteinander, die anderen eher selten.“

    Das Thema, das er anspricht, ist heikel. Das lukrative Geschäft mit dem Klettern war in Nepal lange in westlicher Hand. Erst im letzten Jahrzehnt haben nepalesische Unternehmen begonnen, sich ein deutlich größeres Stück vom Umsatzkuchen zu erkämpfen – vor allem mit niedrigeren Preisen als die der Mitbewerber aus dem Ausland. Somit bedienen die nepalesischen Anbieter vor allem den unteren Teil des Marktes der wachsenden Gruppe an Menschen, die auf den höchsten Gipfel der Welt geführt werden wollen.

    Wenn auch die Überfüllung des Berges vielleicht nicht direkt dafür verantwortlich ist, dass Menschen am Mount Everest sterben, so beeinflusst sie eines doch gewiss: Sie erhöht das Risiko des Aufstiegs, indem sie die erforderliche Zeit verlängert – und damit verändert sie unweigerlich die komplette Dynamik des Kletterns am Mount Everest.

    Einer der wenigen Elite-Kletterer auf der nepalesischen Seite des Mount Everest war in dieser Saison der deutsche Alpinist David Göttler. Er wollte den Berg ohne zusätzlichen Sauerstoff besteigen. Diese Art des Bergsteigens nennt sich Alpinstil und wird von Puristen bevorzugt. Sie erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit von Erfrierungen und Höhenkrankheiten und erfordert perfekte äußere Bedingungen. Ihm machten die Massen am Gipfel einen Strich durch die Rechnung: Er war gezwungen, seinen Aufstieg 200 Meter vor der Spitze abzubrechen. Das Risiko war aufgrund des Staus auf der Route zu hoch.

    „Selbst wenn ich sage, ich möchte jetzt absteigen, bleibe ich plötzlich in einer Schlange mit all den anderen Leuten stecken, und ich kann mich nicht schnell genug bewegen, um warm zu bleiben“, erklärt Göttler. „Es war ein Risiko, das ich nicht eingehen wollte, denn es hätte schnell zu einer Katastrophe führen können.“

    Expeditions-Teams können sich im Camp 3 in Zelten ausruhen, bevor es weitergeht – weiter auf der Route zur nächsten Etappe, dem Camp 4, und dann zum großen Ziel, dem Gipfel.

    Foto von National Geographic

    „Das (Erlebnis) war so, wie ich es mir vorgestellt hatte“, so Göttler weiter. „Ich finde es ein bisschen heuchlerisch, zum Mount Everest zu gehen und sich dann über die Menschenmengen und ihre Kletterfähigkeiten zu beschweren. Das liest sich natürlich gut in den Medien, aber am Matterhorn oder am Mont Blanc ist es das Gleiche. Wir Profis erzählen ja der ganzen Welt, wie schön es ist, diese Orte zu erkunden. Natürlich wollen dann auch immer mehr Menschen das selbst live erleben.“

    Sowohl Ben Jones als auch Eric Murphy beklagen die negativen Schlagzeilen, die weltweit über den Mount Everest geschrieben werden. Beide haben Kunden, mit denen sie seit über einem Jahrzehnt klettern. „Die Kameradschaft, die man über die Jahre aufbaut, um dieses Ziel zu erreichen, ist etwas sehr Besonderes“, sagt Murphy.

    „Wenn wir nach Hause kommen, fragen uns Freunde und Familie, was dort oben los ist. Sie lesen alle nur diese negativen Artikel, Jahr für Jahr. Meiner Meinung nach entspricht das, was dort geschrieben wird, aber einfach nicht der Realität“, sagt Jones. „Beim Bergsteigen ist es nie eine einzelne Entscheidung, die zu einem negativen Ergebnis führt. Es ist immer eine Reihe von Fehlentscheidungen.“

    Hinter der Geschichte: 2019 hat die National Geographic Society in Zusammenarbeit mit der nepalesischen Tribhuvan University und der Marke Rolex ein Team von Wissenschaftlern auf den Mount Everest entsandt. Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projektes umgesetzt und finanziert.

     

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