Hexenjagd-Tourismus: Zwischen Kommerz und Gedenken
Was in Europa und Amerika ein tragisches Kapitel der Geschichte ist, ist in vielen Ländern noch heute Realität: Hexenverfolgung. Wie kann ein touristisches Gedenken gelingen?
Die norwegische Gedenkstätte Steilneset an der Küste der Barentssee erinnert an die 91 Frauen und Männer, die dort im 17. Jahrhundert wegen Hexerei hingerichtet wurden.
Auch Jahrhunderte nach der Hexenpanik, die über Europa und Teile Amerikas hinweggefegt ist, schlagen uns Hexen immer noch in ihren Bann. Ihnen werden erstaunliche Kräfte zugeschrieben, sie werden romantisiert und erstehen alljährlich als Halloween-Dekoration wieder auf. Sie spielen im Film, auf der Bühne und im Fernsehen die Hauptrolle, oft als „böse“ Figuren. Manchmal werden sie hingegen auch als gut und sogar liebenswert dargestellt.
In Wirklichkeit waren Hexen und all jene, die der Anwendung magischer Praktiken bezichtigt wurden, ganz normale Menschen. Ihre Geschichten werden bis heute erzählt – und verschaffen jenen Orten Einnahmen, die mit dem Okkulten in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören beispielsweise das berüchtigte Salem im US-Bundesstaat Massachusetts und Zugarramurdi, das „Salem von Spanien“.
Weniger bewusst dürfte den meisten sein, dass Menschen – zumeist Frauen – auch heute noch wegen Hexerei auf der ganzen Welt verfolgt werden. Damit wächst auch das Unbehagen darüber, wie an die Männer, Frauen und Kinder erinnert wird, die bei der Hexenjagd in den heutigen Touristenstädten ums Leben kamen. Die Frage lautet also: Wie schaffen wir es, auf dem schmalen Grat zwischen Gedenken und Kommerzialisierung zu wandeln? Die Antwort ist nicht einfach.
Hexenkitsch und Folter
Jedes Jahr zu Halloween tauchen sie wieder auf: Die Frauen mit den Hakennasen und den spitzen Hüten – vielleicht nirgendwo mehr als in Salem.
Vor der Pandemie brachten der Stadt jährlich fast eine Million Touristen 140 Millionen Dollar ein. Salem ist heute gleichbedeutend mit den Hexenprozessen von 1692, bei denen 19 Menschen wegen Hexerei hingerichtet wurden. Die einmonatige Halloween-Feier ist der größte Anziehungspunkt für Besucher und lockt mehr als 30 Prozent der jährlichen Touristen der Stadt. Sie kommen in Kostümen, machen Fotos von Polizisten mit Aufnähern in Form spitzer Hüte und shoppen Schnapsgläser, die mit Hexen verziert sind.
Einheimische in Hexenkostümen marschieren 2018 in Salems jährlicher „Haunted Happenings Grand Parade“ mit. Die Parade ist eines der Hauptevents der berühmten einmonatigen Halloween-Feier der Stadt.
Ein ähnliches Schauspiel ereignet sich das ganze Jahr über in Zugarramurdi in Nordspanien, wo während der baskischen Hexenprozesse Anfang des 16. Jahrhunderts um die 7.000 Menschen der Hexerei angeklagt wurden. Die Besucher können eine nahe gelegene Höhle besichtigen, in der sich Beschwörer mit dem Teufel (in Ziegengestalt) tummeln sollen, ein Museum zur Geschichte der Hexenverfolgung besuchen und den obligatorischen Hexen-Nippes kaufen.
Auch wenn Hexentourismus Spaß machen mag, befürchten einige Gelehrte, dass diese Stereotypen mehr schaden als nützen. Der Verkauf von Puppen in Souvenirläden wie denen in Spanien „festigt die Vorstellung, dass die sogenannten Hexen [...] nicht Opfer einer schrecklichen Verfolgung waren, sondern fiktive Figuren“, sagt Silvia Federici, Autorin von „Caliban and the Witch“. „Ich glaube nicht, dass den Touristen, die diese Puppen kaufen, klar ist, dass das Frauen waren, die wegen erfundener Verbrechen angeklagt und dann schrecklich gefoltert und meistens lebendig verbrannt wurden.“
Hexenjagd im 21. Jahrhundert
Vom späten 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts verbreitete sich die Angst vor Hexerei im Europa der frühen Neuzeit. Zu jener Zeit wurden Menschen wegen vielerlei Dinge der Hexerei beschuldigt – Landstreitigkeiten oder unerklärliche Krankheiten gehörten dazu. Auch Frauen, die zu mächtig wurden oder sich den gesellschaftlichen Regeln nicht unterwarfen, waren ein häufiges Ziel. Zehntausende unschuldiger Menschen wurden im Rahmen von Hexenprozessen getötet.
Hexerei lässt sich nur schwer definieren. Die Encyclopædia Britannica kategorisiert sie als religiöse Überzeugung und definiert sie als „die Ausübung oder Anrufung angeblich übernatürlicher Kräfte zur Kontrolle von Menschen oder Ereignissen, wobei es sich bei den Praktiken typischerweise um Zauberei oder Magie handelt“. Doch Hexerei umfasst ein breites Spektrum kultureller und regionaler Überzeugungen, vom Schamanismus über metaphysische Vorstellungen bis hin zu vorchristlichen folkloristischen Traditionen, die früher mit Ablehnung betrachtet wurden.
In diesem Holzschnitt ist Schottlands König James dargestellt, der den Vorsitz im Prozess gegen die Hexen von North Berwick führt. Der Prozess fand 1591 in East Lothian statt, einer Grafschaft knapp 30 Kilometer von Edinburgh entfernt.
Hunderte von Jahren später kursieren immer noch falsche Vorstellungen über Hexerei. Auch deshalb ist die Hexenjagd in vielen Teilen der Welt auch heute noch Realität, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, Indien und Papua-Neuguinea.
Während die Behörden in den meisten Ländern einfach ein Auge zudrücken, sanktionieren einige Rechtssysteme diese Verfolgung. Saudi-Arabien verfügt nicht nur über Gesetze gegen Hexerei (ein Verbrechen, das mit einem Tod bestraft wird), sondern richtete 2009 auch eine Anti-Hexerei-Einheit innerhalb der Religionspolizei des Landes ein.
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Warum die Hexenjagd in einigen Teilen der Welt eskalierte, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Neben denselben Konflikten, die im frühneuzeitlichen Europa vorherrschten, kann Hexerei als bequemer Deckmantel für das zunehmende Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt dienen. „Die Gewalt gegen Frauen hat in den letzten Jahren stark zugenommen“, sagt Federici, „aus Gründen, die meiner Meinung nach in einem gewissen Zusammenhang mit jener Gewalt stehen, die Frauen früher durch die Hexenjagden angetan wurde.“
Ein weiterer Faktor könnte das mangelnde Gedenken an die Hexenjagden sein. „In keinem europäischen Kalender gibt es irgendeinen ‚Gedenktag‘“, schrieb Federici 2018 in der Einleitung zu ihrer Essaysammlung „Witches, Witch-Hunting, and Women“. Die Geschichte der Opfer kann nicht „unter dem Deckmantel des Schweigens begraben werden, sofern wir nicht wollen, dass sich ihr Schicksal wiederholt, wie es bereits in vielen Teilen der Welt geschieht.“
Moderne Denkmäler als Wegweiser
Auf der ganzen Welt gibt es mittlerweile Bestrebungen, das Klischee der alten Weiber auf Besenstilen zu überwinden und dieses dunkle Kapitel der Geschichte realistisch zu betrachten. Die „Proctor’s Ledge“ in Salem ist eine schlicht gestaltete Landschaft, in der die Angeklagten 1692 gehängt wurden. Im englischen Essex listet eine kleine Gedenktafel die Namen der 33 Opfer auf, die im Castle Park festgehalten wurden.
In Schottland erinnert eine Steintafel auf den Orkney-Inseln an die 80 Menschen, die bei Gallow Ha’ getötet wurden. Entlang des Fife Coastal Path erinnern drei Tafeln an die 380 Personen, die der Hexerei beschuldigt werden. Ebenfalls in Fife schlugen Regierungsbeamte 2019 den Neubau eines 200 Jahre alten Leuchtturms vor. Er soll dem berühmtesten Opfer der Grafschaft, Lilias Adie (die 1704 im Gefängnis starb, während sie auf ihren Prozess wartete), und allen anderen Opfern der Hexenpanik des Landes gewidmet werden. Die Kampagne konnte jedoch keine Mehrheit finden.
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Aber keines dieser Denkmäler kann sich mit der norwegischen Gedenkstätte Steilneset messen. Das 2011 errichtete Bauwerk beschreibt das Leben der 77 Frauen und 14 Männer, die im 17. Jahrhundert in den Hexenprozessen der Finnmark hingerichtet wurden. Besucher erreichen die Stätte am Ende der norwegischen Landschaftsroute Varanger, direkt am Rande der Barentssee, in die die angeklagten Hexen geworfen wurden. Wenn sie oben schwammen, galten sie als schuldig.
Der Architekt Peter Zumthor entwarf einen langen Pavillon, der zu einem Kasten aus Stahl und Rauchglas führt. Im Inneren des Kastens steht eine Skulptur der Künstlerin Louise Bourgeois, die den Namen „die Verdammten, die Besessenen und die Geliebten“ trägt. Kernstück ist ein brennender Stuhl, der von Spiegeln umgeben ist.
Die norwegische Gedenkstätte Steilneset wurde von der Künstlerin Louise Bourgeois und dem Architekten Peter Zumthor zum Gedenken an die Opfer der Hexenprozesse in der Finnmark entworfen.
Neben jedem der 91 Stahlrahmenfenster des Pavillons (eines für jedes Opfer) befindet sich ein von der Historikerin Liv Helene Willumsen auf Seide gedruckter Text. Er basiert auf Gerichtsakten und nennt die Namen der Opfer, die gegen sie erhobenen Anklagen und ihr Urteil. Unter den Erinnerten: die samische Frau Karen Edisdatter, die die erste von 13 Frauen war, die für einen Schiffbruch im Jahr 1617 verantwortlich gemacht wurden; und Marette, die nur als „Torstens Frau“ bekannt ist. Sie wurde 1645 auf dem Scheiterhaufen verbrannt und ließ „nur eine blaue Hose und einen alten Pullover“ zurück.
„Ich war mir der Gefahr einer Romantisierung der Hexenprozesse sehr bewusst“, sagt Willumsen. „Ich versuchte, mit dem historischen Material respektvoll umzugehen, nicht zu dramatisieren. Ich möchte den Opfern ihre Würde zurückgeben – eine Würde, die sie in ihrem eigenen Leben nie bekommen haben. Ich möchte zeigen, dass sie Menschen waren mit einem Namen und einer Stimme. Dass sie in den Dörfern der Finnmark gelebt haben.“
Zuerst töten wir die Hexen. Dann feiern wir sie.
Steilneset ist zu einem Vorbild für Aktivisten in Schottland geworden, wo die Geschichte der Hexenverfolgung besonders grausam ist. Die Einheimischen drängen auf eine breitere gesellschaftliche Anerkennung der Gräueltaten des Landes. Es ist eine besonders aktuelle Thematik, angeheizt durch europäische und amerikanische Proteste gegen Denkmäler, die ein ungenaues oder verzerrtes Bild der Geschichte widerspiegeln.
Die Menschen legen Wert darauf, „Geschichte korrekt wiederzugeben“, insbesondere „Frauen, die in der Gesellschaft immer noch nicht gleichberechtigt sind“, sagt Claire Mitchell. Die in Edinburgh ansässige Strafverteidigerin startete eine Kampagne dafür, dass als Hexen verurteilte Frauen vom Parlament posthum begnadigt werden, eine offizielle Entschuldigung erhalten und mit einem Denkmal geehrt werden.
Mitchell erkennt das Potenzial einer solchen Gedenkstätte, ein empfindliches Gleichgewicht zwischen der Ehrung der Opfer und der Monetarisierung ihrer Geschichten herzustellen. „Was ich mir für Schottland wünsche, ist nicht nur eine touristische Attraktion zu schaffen, sondern das Erbe und das Geschehene begreifbar zu machen“, sagt sie. Deshalb müsse die Gedenkstätte „auf die richtige Art und Weise gestaltet werden“.
„Es ist nicht leicht, einer Gräueltat zu gedenken“, schreibt die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autorin Stacy Schiff in ihrem Essay „First, Kill the Witches. Then, Celebrate Them“ über die Hexentourismus-Industrie in Salem. Darüber, wie die Stadt mit Hilfe ihrer düsteren Vergangenheit touristische Einnahmen generiert, schreibt sie: „Die Stadt verwandelte ihre geheime Schande in ihre große Rettung.“
Trotz all seines Hexenkitsches ist Salem aber einer der wenigen Orte, der seine Geschichte richtig aufgearbeitet hat. In den Jahrzehnten nach den Hexenprozessen entschuldigten sich die Ankläger offiziell für die Ereignisse von 1692. Dreihundert Jahre später errichtete Salem ein Denkmal für die Opfer, und bis 2002 hatte Massachusetts alle Angeklagten nachträglich freigesprochen. Auch das Tourismusgeschäft änderte sich: Heute leiten moderne Hexen Führungen, klären über die tatsächliche Geschichte auf und räumen mit Stereotypen auf.
Dieser Widerspruch ist Kristen J. Sollee nur zu gut bekannt. In ihrem Buch „Witch Hunt“ erzählt sie von ihren Erfahrungen an Orten, die im Zusammenhang mit Hexenprozessen stehen oder für moderne Hexen wie sie selbst von Interesse sind. „Nach jahrelanger Forschung“, schreibt sie, sei sie „mit dem ewigen Konflikt bestens vertraut, den der Hexentourismus befeuert“.
Ein Kapitel beschreibt ihren Besuch im italienischen Triora, wo „wie in Salem die kommerzielle Seite [...] abschreckend ist“. Obwohl sie die Stadt als „vom Kommerz geplagt“ empfand, „gab es dort gleichzeitig schöne Rituale und echte Anstrengungen der Gemeinschaft, der Hexenjagd ein Denkmal zu setzen“, so Sollee. „Es ist also genau wie in Salem [...] es schwankt zwischen dem Ernsten und dem Obszönen.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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