Exklusiv: Vermutlich Überreste von Andrew „Sandy“ Irvine auf dem Everest gefunden

Genau 100 Jahre nach dem Verschwinden der Bergsteiger Sandy Irvine und George Mallory hat ein Team von National Geographic eine historische Entdeckung gemacht. Sie könnte neue Hinweise auf eines der größten ungelösten Bergrätsel aller Zeiten liefern.

Von Grayson Schaffer
Veröffentlicht am 11. Okt. 2024, 15:52 MESZ
Historischer Fund: Chin vermutet, dass der Stiefel, der vermutlich zu Irvine gehörte, im Eis des Gletschers ...

Historischer Fund: Chin vermutet, dass der Stiefel, der vermutlich zu Irvine gehörte, im Eis des Gletschers eingeschlossen war, bevor das Team ihn fand. „Er muss eine Woche bevor wir kamen aus dem Eis heraus geschmolzen sein“, sagt er.

Foto von Jimmy Chin

Es war ein Stiefel, den sie gefunden hatten. Das war sofort klar. Dass er aus einer lange vergangenen Ära des Bergsteigens stammen musste, zeigte sich erst bei genauerem Hinsehen: Aus dem schmelzenden Eis schaute das brüchige, abgetragene Leder. Die Sohle war mit stählernen Schuhnägeln beschlagen und eingefasst. 

Die zunächst banal erscheinende Entdeckung machte ein Team von National Geographic in den Weiten des Rongpu-Gletschers unterhalb der Nordwand des Mount Everest. Mit dabei: Fotograf und Filmemacher Jimmy Chin sowie die Kletterer und Filmemacher Erich Roepke und Mark Fisher. Bei näherer Untersuchung des Stiefels stellten sie fest: In ihm steckte noch ein Fuß – und eine Socke, die den Fund historisch machen sollte.

Im September hat ein kleines Team von National Geographic um Fotograf und Filmemacher Jimmy Chin am ...

Im September hat ein kleines Team von National Geographic um Fotograf und Filmemacher Jimmy Chin am Mount Everest einen Stiefel und eine Socke mit der Aufschrift „A.C. Irvine“ entdeckt. Vermutlich gehörten die Gegenstände dem verschollenen Bergsteiger Andrew Comyn Irvine.

Foto von National Geographic, Erich Roepke

„Ich zog die Socke hoch und sah ein rotes Etikett, in das die Buchstaben A.C. IRVINE eingestickt waren“, sagt Jimmy Chin. Dem gesamten Team sei die Tragweite dieser Entdeckung sofort bewusst gewesen. „Wir sind nur noch im Kreis gerannt und haben F*** gerufen.“ Denn: Die Überreste mussten zu Andrew Comyn Irvine – genannt Sandy – gehören, einem britischen Bergsteiger. Er war gemeinsam mit seinem berühmten Kollegen und Landsmann George Mallory genau hundert Jahre zuvor am Mount Everest verschollen.

Irvine und Mallory wurden zuletzt am 8. Juni 1924 lebend gesehen. An diesem Tag brachen sie auf, um als erste Menschen den höchsten Gipfel der Welt zu erklimmen. Ob es ihnen gelang, ist eines der größten Rätsel der Bergsteiger-Geschichte. Sollten sie Erfolg gehabt haben, hätten sie den Mount Everest 29 Jahre vor Tenzing Norgay und Edmund Hillary bezwungen.

Mallorys Überreste wurden bereits im Jahr 1999 gefunden, doch von Irvine fehlte weiterhin jede Spur. „Dies ist der erste echte Hinweis darauf, wo Sandy sein Ende gefunden haben könnte“, sagt Chin. „Darüber gab es bisher schon so viele Theorien.“ Chin hofft, dass die Entdeckung dabei helfen wird, ans Licht zu bringen, was im Jahr 1924 auf dem Berg geschah – und dadurch auch Irvines Verwandten die Möglichkeit geben wird, mit der Geschichte abzuschließen. „Wenn jemand einfach so verschwindet, ohne dass man weiß, was passiert ist, ist das für die Angehörigen schrecklich. Und auch für die Kletterszene ist ein konkreter Beleg dafür, wohin es Sandy am Schluss verschlagen haben könnte, wichtig.“

BELIEBT

    mehr anzeigen
    Die Socke mit Irvines Namen wurde zusammen mit seinem Stiefel und einem Fuß auf dem Rongpu-Gletscher ...

    Die Socke mit Irvines Namen wurde zusammen mit seinem Stiefel und einem Fuß auf dem Rongpu-Gletscher gefunden.

    Foto von Jimmy Chin

    Eine der ersten Personen, die Chin anrief, um die Neuigkeit mit ihr zu teilen, war Irvines 64-jährige Großnichte Julie Summers. Sie hatte im Jahr 2001 eine Biografie ihres Großonkels veröffentlicht und darin seine Verdienste um das Bergsteigen niedergeschrieben. Sie war dankbar für die neuen Informationen: „Die Gegenstände haben ihm gehört und enthalten einen Teil von ihm. Sie erzählen, was wahrscheinlich passiert ist.“ Summers Vermutung ist, dass die Fundstücke von Lawinen den Berg hinuntergetragen und vom Gletscher zerdrückt wurden. „Für mich ist das eine Art von Abschluss“, sagt sie. Mitglieder der Familie haben sich schon bereit erklärt, DNA-Proben abzugeben, damit diese mit den Überresten abgeglichen werden können und damit bestätigt werden kann, ob sie wirklich zu Sandy Irvine gehören.

    Die Entdeckung erinnert Summers an das Jahr 1999, als der Bergsteiger Conrad Anker im Rahmen der Mallory and Irvine Research Expedition auf die Leiche von Mallory stieß. Ziel der Expedition war es gewesen, herauszufinden, ob die beiden den Gipfel wirklich erreicht hatten. Bei der Untersuchung der Überreste wurden an Mallorys Taille tiefe Seilspuren festgestellt, die vermuten lassen, dass er angeseilt in einen Sturz verwickelt war. Anker geht davon aus, dass Mallory und Irvine sich in den letzten Momenten ihres Lebens gemeinsam abseilten. „Ich war mir sofort sicher, dass er durch ein Seil mit seinem Partner verbunden gewesen war und es dann zu einem tiefen Sturz kam“, schreibt Anker in dem Buch The Lost Explorer. Mallorys rechtes Bein war gebrochen, sein unverletztes linkes Bein lag darüber, was darauf hindeutet, dass er nicht sofort tot war, als er auf dem Boden aufschlug. Seine Schneebrille befand sich in seiner Tasche, was nahelegt, dass der Sturz sich in den Abendstunden ereignete, als Mallory und Irivine sich auf dem Abstieg befanden. Das Foto seiner Frau, das Mallory nach seiner Ankunft auf dem Mount Everest auf dem Gipfel zurücklassen wollte, hatte er nicht mehr bei sich.

    Durch den Fund von Mallorys Leiche konnten einige Fragen zum Schicksal der beiden Männer beantwortet werden. Die beiden größten blieben jedoch ungeklärt: Wo war Irvine? Und hatten die beiden wirklich den Gipfel erreicht? Bergsteiger und Historiker waren lange der Meinung, dass die Antwort auf die erste Frage Hinweise ergeben würde, die die zweite beantworten. Schließlich war es Irvine gewesen, der sich in Besitz der Kodak Kamera befand, die er und Mallory sich von dem Expeditionsmitglied Howard Somervell geliehen hatten. Der noch nicht entwickelte Film in ihrem Inneren, so glaubten viele, könnte den schlagenden Beweis beinhalten, dass sie den Gipfel erfolgreich bestiegen hatten. Aus diesem Grund hatte man mehr Interesse, den Körper von Irvine zu finden.

    Die letzte Aufnahme: Die Bergsteiger George Mallory (links) und Sandy Irvine, bereiten sich im Juni 1924 ...

    Die letzte Aufnahme: Die Bergsteiger George Mallory (links) und Sandy Irvine, bereiten sich im Juni 1924 darauf vor, den Nordsattel des Mount Everest zu verlassen.

    Foto von Noel E. Odell, Royal Geographical Society via Getty Images

    Einige Tage bevor sie auf den Stiefel stießen, fand das Team am Rongpu-Gletscher Chin zufolge ein anderes Artefakt, das seine Neugier weckte. „Wir entdeckten eine Sauerstofflasche, die mit der Zahl 1933 markiert war“, sagt er. Neun Jahre nach dem Verschwinden von Mallory und Irvine hatte die 1933 British Mount Everest Expedition einen vierten Versuch gestartet, den Gipfel zu erklimmen. Sie scheiterte, doch ihre Mitglieder entdeckten an der Northeast Ridge, unterhalb der Stelle, an der später die Leiche von Mallory gefunden wurde, einen Eispickel, der Sandy Irvine gehört hatte.

    Der Fund der 1933-Sauerstofflasche brachten Chin und das Team ins Grübeln. „Falls Sandy von der Nordseite abgestürzt ist, könnten seine Überreste sich dort in der Nähe befinden“, sagt er. Man fragte sich, ob eine Sauerstoffflasche vom Berg heruntergefallen sein könnte. In diesem Fall wäre sie laut Chin „vermutlich weiter abgestürzt als der Körper – ähnlich eines Geschosses.“

    Chin vermutete, dass Irvines Überreste sich in der Nähe befinden könnten. „Sandy könnte möglicherweise ein paar hundert Meter von hier aus den Gletscher hinauf in Richtung Berg liegen“, sagte er zu Erich Roepke kurz nach dem Fund. In den folgenden Tagen nahmen Chin und das Team einen Umweg über die Falten und Spalten des Gletschers. „Erich war derjenige, der etwas entdeckte und sagte: ‚Hey, was ist das?‘“, so Chin. Es war der Stiefel, der aus dem Eis ragte. „Ich glaube, der Gletscher hat ihn wirklich erst eine Woche, bevor wir ihn fanden, freigegeben.“

    In dem Buch über ihren Großonkel beschreibt Julie Summers Irvine als „einen schönen jungen Mann, der im Rausch der Jugend starb“. Mit 22 Jahren war Irvine das jüngste Mitglied der Expedition von 1924 – einer Mission, die auf zwei frühere britische Besteigungen folgte. Bei der ersten im Jahr 1921 sollten mögliche Kletterrouten erkundet werden, die zweite im Jahr 1922 war der erste ernsthafte Versuch einer Besteigung des Mount Everest. Der Aufstieg dauerte damals einen Monat oder länger, die Seile waren aus Naturfasern, die Oberbekleidung aus Wolle und Gabardine, die Stiefel aus Leder – gekauft für fünf Pfund und drei Schilling bei James J. Carter, einem Londoner Stiefelhersteller.

    Andrew „Sandy” Irvine war 22 Jahre alt, als er gemeinsam mit Mallory spurlos verschwand. Der Oxford-Student ...

    Andrew „Sandy” Irvine war 22 Jahre alt, als er gemeinsam mit Mallory spurlos verschwand. Der Oxford-Student war das jüngste Mitglied der Expedition von 1924.

    Foto von Mount Everest Foundation, Royal Geographical Society via Getty Images

    Irvine stammte aus einer Familie der oberen Mittelschicht in Cheshire, England. Er war gutaussehend und sportlich, ein Ruder-Star in Oxford. Doch nicht alles war perfekt: Er wurde für seinen Mangel an technischem Bergsteigerwissen kritisiert, bevor er 1924 auf den Mount Everest stieg. Berichten zufolge litt er wahrscheinlich an einer Lernschwäche wie Legasthenie, die ihn beim Lesen behinderte. In Mathematik, Technik und Mechanik war er jedoch äußerst begabt. Als er sich der Expedition anschloss, wurde er zum Sauerstoffoffizier berufen und half dabei, die Konstruktion der Sauerstoffflaschen zu verbessern. Seinen Platz im Gipfelteam verdiente er sich mit seinem eisernen Willen und seinen sportlichen Fähigkeiten. „Irvine“, schrieb der Expeditionsleiter E.F. Norton in The Fight For Everest, „war groß und kräftig mit feinen Schultern und vergleichsweise leichten Beinen“. Summers sagt, dass Mallory wahrscheinlich vor allem Irvines Respekt ihm gegenüber zu schätzen wusste. Ihr zufolge war Irvine Mallory gegenüber zu hundert Prozent loyal.

    Am frühen Morgen des 8. Juni 1924 machten sich die beiden Männer auf den Weg zum Gipfel. Das Wetter war, wie Mallory es beschrieben haben soll, „perfekt für die Aufgabe“, die vor ihnen lag. Am Nachmittag dieses Tages wurden sie das letzte Mal von ihrem Teammitglied Noel Odell gesehen: Er berichtete, dass er zwei winzige Gestalten während eines kurzen Wolkenbruchs nahe des Second Step gesichtet hätte. Dann waren sie verschwunden.

    Im Laufe der Jahre haben sich verschiedene Theorien dazu entwickelt, warum Irvine nie gefunden wurde. Eine von ihnen stammt von Mark Synnott, einem Autor, Bergsteiger und Mitarbeiter von National Geographic: In seinem Buch The Third Pole: Mystery, Obsession, and Death stellt er die Theorie auf, dass chinesische Bergsteiger die Leiche und die Kamera schon vor langer Zeit gefunden haben könnten – und es verschwiegen haben. Summers ist der Meinung, dass die Entdeckung des Stiefels diese Vermutung widerlegt. 

    Eine noch ältere Theorie besagt, dass ein chinesischer Bergsteiger im Jahr 1975 direkt unterhalb des Nordostgrats auf einen Leichnam in alter Kleidung gestoßen sei. Die Sichtung wurde zur Grundlage für die Zielzone der Suchexpedition nach Mallory und Irvine im Jahr 1999. Wenn sie in diesem Bereich einen Leichnam finden würden, so dachten die Teammitglieder der damaligen Expedition, dann wäre es Irvines. Dieser könnte sie dann womöglich zu Mallorys Überresten führen. Dann entdeckte Anker jedoch Mallorys Überreste, woraufhin das Team eine Beerdigung auf dem Berg durchführte. „Conrad Anker sagte zu mir, er habe nach der Schatzkarte gesucht und schließlich den Schatz gefunden“, erinnert sich Summers. 

    Einige Tage, nachdem Chin und sein Team den Stiefel entdeckt hatten, bemerkten sie, dass sich Raben an ihm zu schaffen machten. Daraufhin habe er bei der China-Tibet Mountaineering Association (CTMA) angefragt, ob das Team die Überreste vom Berg bringen könne. Chin trug den Stiefel und den Fuß in einer Kühlbox vom Everest und übergab sie der CTMA. Sein Team entnahm auch eine DNA-Probe, die in Zusammenarbeit mit dem britischen Konsulat zur weiteren Identifizierung verwendet wird. Doch Chin ist sicher, dass die Analyse nichts anderes ergeben wird: Das Etikett spreche für sich. 

    Der Fotograf und Filmemacher will nicht genauer darauf eingehen, wo die Überreste gefunden wurden, denn er will Trophäenjäger abschrecken. Aber er ist zuversichtlich, dass sich weitere Artefakte – und vielleicht sogar die Kamera – in der Nähe befinden.

    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2025 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved