Neuseeland: Wo der Grünstein wächst

Im Südwesten Neuseelands, dem Land der Jade, sind vier Nationalparks ausgewiesen. Hier gibt es die höchsten Berge, die längsten Gletscher und die mächtigsten Wälder. Die Maori nennen die Region Te Wahipounamu – „Grünsteinland“.

Von Kennedy Warne
Foto von Michael Melford

Jeff Mahuika bückt sich. Zwischen vielen tausend Flußkieseln zu unseren Füßen hat er etwas entdeckt. Vorsichtig zieht er einen einzelnen Stein aus dem Kies. Es ist ein fingerlanger Splitter aus pounamu – „Grünstein“. So nennt man hier die Jade. Er hält den Fund gegen das Licht, der Stein schimmert in einem kühlen Graugrün. Dann gibt er ihn mir.

Ich streiche über die vom Wasser polierte Oberfläche. «In unserem Volk besagt eine Tradition, dass man den ersten Fund nicht behalten soll», erklärt er. «Ich schenke ihn dir.» Mahuika, das weiß ich, ist ein meisterlicher Jadeschnitzer:
«Bohrst du mir ein Loch hinein?», frage ich. «Dann werde ich diesen pounamu an einem Band um den Hals tragen. Als Zeichen meiner Verbundenheit mit diesem Ort.»

Te Wahipounamu – „Grünsteinland“. Seit 1990 gehört der Südwesten von Neuseeland mit seinen vier Nationalparks und miteinander verbundenen Naturschutzgebieten zum Weltnaturerbe. Es gibt viele Wildnisgebiete in meiner Heimat, aber hierher komme ich am häufigsten. Ich atme die Bergluft, wate in den Flüssen, wandere in den Wäldern und nehme seinen Geist in mich auf. Heute sind Mahuika und ich auf einer Tour im Cascade Valley. Hinter uns leuchten die Red Hills dunkelrot in der Nachmittagssonne. Das Wasser hat die Jade aus dieser Bergkette hier angespült.

Wie Watvögel gehen wir mit gebeugtem Kopf am Flussufer entlang. Wir versuchen zu sehen, ohne hinzuschauen. Die Maori glauben, dass man pounamu nicht findet. Er gebe sich zu erkennen. Mag sein, aber es gibt hier viele grüne Steine, die keine echten Grünsteine sind – Nephrite, wie Geologen die Jade nennen.

Anscheinend bin ich Spezialist im Entdecken dieser Doppelgänger – des Katzengolds im Jadegeschäft. Immer wieder bücke ich mich nach einem hübschen grünen Kiesel. «Was ist mit dem hier, Jeff? Ein Nephrit?»

«Nö, ein Lassmalit», sagt er. Soll heißen: «Lass den mal lieber liegen.»

Als die Maori noch das Land beherrschten, gab es keinen wertvolleren Rohstoff als pounamu. Das lag zum Teil an den zahllosen Stunden, die nötig sind, um Werkzeuge oder Schmuck daraus herzustellen. Jade ist härter als Stahl. Bei der wochen- oder monatelangen Arbeit an diesem Stein soll angeblich der Geist seines Besitzers auf ihn übergehen. Eine Tradition verlangt, dass die kostbaren pounamu-Stücke eines verstorbenen Maori zusammen mit dem Toten begraben werden. Später holt man sie wieder heraus und übergibt sie den Nachkommen. So überwindet die Jade – egal ob als Meißel, Ohranhänger oder Keule – sogar die Zeit und verbindet die Generationen in einer heiligen Kette.

Die Maori nehmen aber nicht nur den Geist des Schnitzers wahr, sondern auch die Geschichte des Steins selbst. In ihrer Welt erzählen Dinge von ihrer Herkunft: der Walknochen vom Wal, das Holz vom Baum, ein pounamu von seinem Ursprung – von Berg und Fluss.

Wasser und Eis holen den Stein aus dem Fels. Flüsse tragen ihn zum Meer. «Der Stein ist immer in Bewegung», erzählt Mahuika. «Er ist auf einer Reise, genau wie wir Menschen.»

Wir durchqueren das Wasser des Cascade River. Es reicht uns bis zu den Hüften. Mit ausgebreiteten Armen balancieren wir in der Strömung. Es ist Frühling. Fingerlange Jungfische der Gattung Galaxias – Hechtlinge genannt – strömen in Massen vom Meer in die Flüsse stromaufwärts. In den Bächen der kühlen Wälder wachsen sie zur Geschlechtsreife heran. Falls sie nicht vorher in der Pfanne enden.

Das Fangen der Hechtlinge ist für die Bewohner der Westküste eine leidenschaftliche Sache.

Wenn Saison ist, waten sie vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung mit langen Netzen durch die Flussmündungen. Auch wir sitzen später am Ufer und braten über einem Lagerfeuer eine Mischung aus Fisch und Ei in zerlassener Butter. Köstlich.

In unserem Rücken ragt eine Gebirgskette empor, die Südlichen Alpen. Ihre Berge stemmen sich gegen den stürmischen Westwind, der dieser Region zwischen dem 40. und 50. Breitengrad den Namen Roaring Forties („Brüllende Vierziger“) eingetragen hat. Die an den Hängen aufsteigenden Wolken regnen hier ab, die Gegend ist so nass, dass auf wenig befahrenen Straßen Moos auf dem Asphalt wächst.

Nach der letzten Eiszeit hinterließen Gletscher auf ihrem Rückzug von der Küste zahllose Seen, Schluchten und Fjorde. In höheren Lagen prägen die Gletscher nach wie vor die Umwelt, die beiden berühmtesten, der Fox­ und der Franz­Josef­Gletscher, recken ihre Finger bis hinab in die Regenwälder entlang der Küste.

Ein Spaziergang durch diese Wälder ist wie eine Zeitreise auf den Urkontinent Gondwana, der vor mehr als hundert Millionen Jahren in die Landmassen der südlichen Erdhalbkugel zerfiel. Vor 80 Millionen Jahren spaltete sich Neuseeland von Australien ab und wurde ökologisch isoliert. Das ist der Grund, warum hier bis heute Tier­ und Pflanzenarten aus Gondwana­Zeiten überlebt haben – eine wahre Urwelt.

In der pflegen auch die Abkömmlinge der ersten hiesigen Menschen, die Maori, ihre Geschichte. Im Jahr 2005 wurde erstmals nach 140 Jahren wieder ein Versammlungshaus mit traditionellen Schnitzereien eröffnet – ein Symbol für Beständigkeit und Hoffnung, aber auch eine Mahnung an die menschliche Vergänglichkeit. Ein Sprichwort der Maori lautet: Menschen kommen und gehen, das Land bleibt bestehen.

NG-Video: Brian Skerry taucht mit Walen vor Neuseeland:

NG-Video: Neuseeland für Abenteurer:

(NG, Heft 4 / 2014, Seite(n) 140 bis 151)

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