Nigeria: Lagos legt los

Afrikas größte Stadt hat Lust auf Reichtum. Das macht die nigerianische Metropole zum Ort unbegrenzter Möglichkeiten.

Von Robert Draper
Foto von Robin Hammond

Als er fünfzehn wurde, arbeitete David Adeoti in einem Internetcafé im Arbeiterviertel Satellite Town. Von dort kann man schon fast die schimmernden Türme auf Lagos Island sehen, die 16 Kilometer weiter östlich aufragen. Für Adeoti war Satellite Town bereits ganz weit oben. Geboren wurde er in Orile, einem elenden Dorf im Norden mit verschlammten Gassen und verfallenden Häusern. Technologie war seine Chance gewesen, dort herauszukommen. Ein Banker, der das Internetcafé nebenbei betrieb, hatte erkannt, dass der Junge gut mit Computern umgehen konnte. Adeoti durfte den Laden leiten und bekam dafür umgerechnet etwas mehr als 160 Euro im Monat, das Geld investierte er in Fortbildungskurse. Der Job im Internetcafé sollte für ihn nicht das Ende der Fahnenstange sein.

Eines Tages im Jahr 2010 betrat ein vorher nie gesehener Mann den Laden. Jason Njoku, ein 30-Jähriger aus London, der eine Brille trug und mit einem gepflegten britischen Akzent sprach. Er war nach Nigeria, der Heimat seiner Vorfahren, zurückgekehrt. Njoku bat Adeoti, ihm einige Unterlagen zu scannen. Während Adeoti den Auftrag ausführte, erwähnte der vornehme Kunde, dass er auf der Suche nach Investoren für ein neues Unternehmen sei, und er fragte Adeoti, ob sein Job als Manager des Internetcafés ihm Freude mache. Sie tauschten ihre Handynummern aus.

Ein paar Monate später fragte Adeoti bei Njoku nach einem Job und wurde prompt in dessen Apartment eingeladen. Adeoti sah dort sechs junge Männer an Tischen sitzen und tippen, Computerkabel lagen kreuz und quer zu ihren Füßen. Dies sei, erklärte ihm Njoku, sein Geschäft: eine einheimische Version von Netflix. Hier sollten Filme auf nigerianische Computer gestreamt und nigerianische Filme weltweit verbreitet werden. Njoku brauchte jemanden wie Adeoti, der „Nollywood“-DVDs in ein für YouTube-taugliches Dateiformat konvertieren konnte. Der Raum war eng und vollgestopft, und es war klar, dass das hier ein Business mit wenig Geld und hohem Risiko war. Adeoti unterschrieb dennoch.

Im Frühjar 2014 ist David Adeoti 24, er trägt ein elegantes Strickhemd und Designerjeans und sitzt hinter einem Apple-Laptop in einem noblen dreistöckigen Büro von „iROKOtv“. Njokus Unternehmen beschäftigt inzwischen 80 Angestellte, er hat weitere Büros in Johannesburg, London und New York City. Adeoti verdient mittlerweile doppelt so viel wie damals im Internetcafé. Doch sein Umgang mit Geld und Filmen hat ihm noch mehr Appetit auf beides gemacht. „Ich plane ein eigenes Unternehmen – irgendwas in der Filmindustrie“, erzählt er. Er spare, um nach Hollywood zu reisen. Er wolle Kameramann werden – und vielleicht eines Tages sein eigenes Nollywood-Studio leiten. „Der Weg ist weit von der Mittelschicht zur reichen Oberschicht“, sagt Adeoti. Und fügt mit breitem Grinsen hinzu: „Wir in der Mittelschicht streben jedenfalls alle nach oben. Heute will doch jeder richtig reich werden.“

NG-Video: Bewohner der lebhaften Metropole erzählen, warum sie Lagos lieben

In fast allen anderen Entwicklungsländern würde man das mitleidig als Träumerei abtun. In Lagos dagegen, dem Wirtschaftszentrum Nigerias, ist der Satz „Werde reich“ praktisch zum Motto der ganzen Stadt geworden. Das Land berechnete kürzlich sein Bruttoinlandsprodukt neu und bezog Branchen ein, die vor zwei Jahrzehnten kaum existierten. Mit dem Ergebnis: Nigeria hat im Jahr 2012 Südafrika überflügelt und ist zur größten Wirtschaftsmacht des Kontinents aufgestiegen. Etwa 15700 Dollar-Millionäre und eine Handvoll Milliardäre leben in Nigeria, mehr als 60 Prozent davon in Lagos.

Wie in anderen afrikanischen Metropolen nährte auch hier das Erdöl lange Zeit nur eine kleine Oberschicht, die sich wenig vom Elend belästigen ließ, das in weiten Teilen der Stadt herrschte. Jetzt wächst diese Oberschicht, und – trotz anhaltender Einkommensungleichheit – auch die Mittelschicht. Viele Menschen profitieren von den expandierenden Branchen Bankwesen, Telekommunikation und Dienstleistung.

Das gilt vor allem für Lagos. Zählten im Jahr 1990 noch 480000 Haushalte in Nigeria zur Mittelschicht, so waren es 2014 bereits 4,1 Millionen, rund elf Prozent der Bevölkerung. Eine afrikanische Erfolgsgeschichte. Und wie schön wäre es, könnte man sie erzählen und dabei das düstere Kapitel von Nigerias irrsinnigen Terroristen ignorieren. Die Horrormeldungen über die islamistische Terrormiliz Boko Haram legen sich wie ein Mondfinsternis über die schillernde Boomtown-Story, die in diesem westafrikanischen Land zeitgleich läuft. Dabei sind weder Lagos noch Boko Haram Paralleluniversen. Beide gehören zu Nigeria, genauso wie die zahllosen aufstrebenden Menschen wie Adeoti und eben auch Armut, Verzweiflung, Gewalt.

Unter diesen Umständen ist es beinahe ein Wunder, dass Lagos’ Wirtschaft weiter rasant wächst, obwohl sie von derselben staatlichen Unfähigkeit gehemmt wird, die brutale Terroristen gewähren lässt. Eine weniger vitale Stadt läge längst am Boden. „Nigeria und Lagos haben ein Imageproblem. Wenn man liest, was alles über uns geschrieben wird, könnte man denken, es gehe bei uns zu wie in einem Kriegsgebiet in Afghanistan. Aber sagen Sie es mir: Haben Sie sich in unserer Stadt je bedroht gefühlt?“ „Nein“, antworte ich Kola Karim, dem feschen 45-jährigen Multimillionär und Geschäftsführer des Unternehmens Shoreline Energy International.

Der Mischkonzern mit Aktivitäten in den Branchen Lebensmittel, Energie, Telekommunikation und Bauwesen beschäftigt mehr als 3000 Mitarbeiter. Tatsache ist: Ich fühle mich in Lagos ziemlich sicher – trotz der Bombenanschläge in der Hauptstadt Abuja und anderswo, zu denen sich üblicherweise die Boko Haram bekennt. Lagos ist davon bislang verschont geblieben. Es ist, als würde sich die Gewalt in einem anderen Land abspielen. „Vor einigen Wochen war ich in Washington eingeladen, ins Weiße Haus“, fährt Karim fort. Wenn Karim spricht, hört man heraus, dass er in England zur Schule gegangen ist, aber nun hört man auch noch etwas anderes: Verbitterung. „Wir waren 21 junge führende Wirtschaftsexperten vom Weltwirtschaftsforum. Aber die Gespräche waren nicht sehr befriedigend. Ich habe unsere Gastgeber schließlich gefragt: ,Warum laden Sie afrikanische Geschäftsleute ein und fragen dann doch immer nur nach al-Qaida? Warum verschwenden Sie meine Zeit und lassen mich von so weit her anreisen, um sich immer wieder den gleichen Kokolores anzuhören?‘“

Kola Karim hat es sich zur Aufgabe gemacht, die frohe Botschaft über das Wunder von Lagos in der Welt zu verbreiten. Ein Wunder, an dem er nicht ganz unbeteiligt ist. Später an diesem Tag wird ein französischer Fernsehsender ihn beim Polospiel filmen, um den Wohlstand der Stadt zu dokumentieren. In der folgenden Woche hält Karim eine Rede über Afrikas Energiewirtschaft am Milken Institute in Santa Monica, in Harvard und Yale hat er auch schon gesprochen. Er sieht das als Teil seiner „moralischen Verpflichtung zur Förderung von Nigeria und Lagos“. Mit solchen Referaten sei ja sicher eine Menge zu Geld machen, scherze ich. Karim reagiert ernst: „Ich werde mich für so etwas erst bezahlen lassen, wenn die Welt endgültig unsere Version der Geschichte kennt.“

Und die geht, in Kurzform, so: Nach Jahrhunderten unter der Herrschaft territorialer Clans und nach 99 Jahren als britische Kolonie wurde Nigeria 1960 unabhängig und – mit Unterbrechungen – von Generälen regiert. 1999 schließlich wurde eine zerbrechliche Demokratie eingeführt. Unter den 36 Bundesstaaten war Lagos – mitsamt der wuchernden Hafenstadt gleichen Namens – immer das Machtzentrum, auch nachdem 1991 das 750 Kilometer entfernte Abuja zur Bundeshauptstadt gemacht wurde. Die Jahrzehnte unter Militärregierungen hatten allerdings auch in Lagos Spuren hinterlassen. Schulen, Straßen und Krankenhäuser waren verwahrlost. Westliche Investoren hielten sich aus der Stadt fern. Als Karim 1996 aus England in seine Geburtsstadt zurückkehrte, um das Kakaogeschäft der Familie in Schwung zu bringen, gab es nur wenige wie ihn. „Wir hatten keine freie Wirtschaft und nur wenige Finanzdienstleister“, sagt Karim. „Damals belief sich das gesamte Kapital einer Bank bei uns auf vielleicht zwei Millionen Dollar. Wie viel kann Ihnen so eine Bank wohl leihen? Wie wollen sie damit Geschäfte machen? Und heute? Heute geben die Ihnen Kredite bis zu 500 Millionen Dollar!“

Um das zu ermöglichen, mussten zwei Dinge zusammenkommen. Zunächst wählten die frisch demokratisierten Einwohner von Lagos, die lange Zeit nur politische Inkompetenz gekannt hatten, zwei bemerkenswerte Gouverneure: 1999 den früheren Wirtschaftsprüfer Bola Tinubu, dann 2007 den von Tinubu aufgebauten Nachfolger Babatunde Fashola. Im Sommer 2014 trug Fasholas Katastrophenmanagement wesentlich dazu bei, den Ausbruch der Ebola-Seuche in Lagos schnell wieder einzudämmen. Tinubu und Fashola stellten in Lagos einigermaßen stabile finanzielle Verhältnisse her und investierten in den Bau von Brücken und Straßen. Nicht zuletzt ihnen, so heißt es, sei es zu verdanken, dass immer mehr Nigerianer aus dem Ausland in ihre Heimat zurückkehrten. Als 2008 durch die weltweite Rezession die Chancen auf gute Geschäfte in Amerika und Europa vorübergehend schwanden, bot sich Lagos als Neuland für ehrgeizige Unternehmer an.

Einer von ihnen ist Lanre Akinlagun. „Ich war damals in England“, erzählt er, „und meine Freunde gingen einer nach dem anderen zurück nach Lagos. Wenn sie zu Besuch zurückkamen, trafen wir uns in einer Bar, und anfangs schmissen sie dort nur ab und an eine kleine Runde Schnaps. Aber irgendwann fingen sie an, das teuerste Zeug zu bestellen, flaschenweise. Da wurde mir klar: In Lagos geht die Post ab.“

Die Stadt liegt an der Atlantikküste, sie besteht aus einem Stück Festland, das sich um eine Lagune legt, sowie aus mehreren Inseln. Lagos ist heute eine weitgehend unorganisierte, regellose Wirtschaftszone. Touristen findet man kaum, hierher kommt man, um Geschäfte zu machen. Lagos besitzt eine seltsame Anziehungskraft: Es ist eine Stadt der Optimisten. Das soll aber nicht heißen, das Leben in Lagos sei durchweg heiter. Wie alle Boomtowns strampelt sich die Metropole ab, mit seiner eigenen Entwicklung Schritt zu halten. Die Einwohnerzahl steigt so schnell, dass es unmöglich ist, sie genauer zu beziffern als: zwischen 13 und 18 Millionen. Handelszentren sind die beiden kleinen Inseln Lagos und Victoria, nur die Superreichen können es sich leisten, hier zu wohnen.

Bauunternehmer stürzen sich auf jeden Fleck Marschland, Waldgebiet, Deponiegelände und auf Fläche, die dem Meer durch Aufschüttungen abgerungen wird. Ambitionierte Lagosianer sind hin- und hergerissen zwischen ihrem Prestigedenken einerseits und den absurd hohen Wohnungspreisen in der Innenstadt samt den üblichen Hypothekenzinsen von 20 Prozent. Die allermeisten entscheiden sich dann doch für eine Wohnung irgendwo auf dem Festland. Das heißt: Pendeln. Durch nervtötenden Verkehr der Arbeitsweg kann mehr als zwei Stunden dauern. Es sei denn, man sitzt mit anderen Yuppies den Verkehrsinfarkt bei Bier und Zigarren in einer Bar auf den Inseln aus, bis die Straßen leerer werden.

In einer jener Bars sitzt an diesem Nachmittag ein halbes Dutzend elegant gekleideter Banker in den Dreißigern, das tägliche Stelldichein von Gentlemen, die die Kunst des feuchtfröhlichen Zeittotschlagens perfektioniert haben. Einer von ihnen erzählt, eine Wohnung auf der Insel koste viermal so viel wie sein Haus auf dem Festland. „Wenn ich das Geld dafür hätte, würde ich natürlich auf der Insel leben“, sagt er. „Wenn ich auf der Insel wohnen würde, könnte ich jetzt nach Hause gehen, die Hausaufgaben meiner Jungs kontrollieren, ein paar Computerspiele mit ihnen machen, vielleicht meine Frau zum Abendessen ausführen.“ Dann lacht der junge Banker sein Dilemma weg und bestellt eine weitere Runde. Eine Umfrage ergab kürzlich, dass 76 Prozent der Nigerianer aus der Mittelschicht die Zukunft optimistisch betrachten.

Daniel Sunday, der Mann, den ich eingestellt habe, mich in Lagos herumzufahren, bringt mich eines Tages in das Viertel, in dem er aufgewachsen ist: Makoko, eine übelriechende Barackensiedlung auf Pfählen in der Lagune von Lagos. Ironisch nennt man sie „Afrikas Venedig Sunday erzählt, er habe die schäbige Behausung der Familie schon als Teenager verlassen und Arbeit als Busschaffner gefunden. Er habe bei seinem Boss auf dem Fußboden geschlafen und irgendwann genug gespart, um sein erstes Auto zu kaufen. Jetzt ist er verheiratet, hat eine Wohnung auf dem Festland und chauffiert Kunden wie mich durch die City.

„Du musst einem Nigerianer nur eine Chance geben, dann wird er sein Bestes tun“, bestätigt der 36-jährige Onyekachi Chiagozie, während er mir stolz seine mobile Elektrowerkstatt vorführt – einen umgebauten Transporter mit gesprungener Windschutzscheibe. Er hat den Wagen für umgerechnet 3400 Euro gekauft, und damit fährt er nun seine Gerätschaften in der ganzen Stadt herum – ein Pionier und Nutznießer des Baubooms in Lagos. Gestartet war er bei null: Mit 18 hatte er als unbezahlter Lehrling bei einem Elektriker angefangen, Gelegenheitsarbeiten halfen ihm zu überleben. Eine Zeitlang schlief er im Unterstand einer Bushaltestelle. Ihm gehörte nur, was er am Leib trug. Doch nach vier Jahren hatte Chiagozie genug Geld zusammen, um ein winziges Haus in Ojota zu mieten, wo Menschen aus allen Einkommensschichten wohnen. „Sparen, sparen, sparen“, erzählt er. „Es war hart, aber allmählich hat es sich ausgezahlt. Ich habe mein Geschäft angemeldet. Die Leute in der Gegend kannten mich. Ich hab Steckdosen repariert und nachgeschaut, warum das Licht nicht anging. Nach und nach haben mir die Kunden vertraut. Sie haben mir Jobs angeboten: Häuser neu verkabeln. Geldautomaten und Klimaanlagen reparieren. Und weil die Miete für eine Werkstatt so teuer ist, habe ich die erste mobile Werkstatt im Land eröffnet.“ Nun ist er verheiratet, hat ein Haus mit drei Schlafzimmer und ein Stück Land außerhalb der Stadt als Geldanlage. Er führt mich durch das Viertel und zeigt mir Häuser, in denen er und seine beiden Lehrlinge zurzeit die Elektroinstallationen neu verlegen.

Das Kind aus dem Slum hat es geschafft. Eine weitere Lagos-Erfolgsstory – eine, die noch nicht zu Ende erzählt ist. Denn Chiagozie hat noch nicht genug. „Klar“, sagt er, „ich habe viel Geld verdient. Aber auf der anderen Seite der Brücke, auf der Insel, verdient man mehr. Ich kenne nur die richtigen Leute noch nicht.“

Banke Meshida Lawal kennt sie. In ihrem Schönheitssalon „BM Pro“ auf Lagos Island unterzieht die junge Make-up-Expertin gerade eine reiche Kundin einem kompletten Verschönerungsprogramm. Es ist ein Drehtermin, entstehen soll ein Instruktionsvideo für eine Hochzeitsfeier in Chicago. Weil Lawal ihr Geschäft nicht verlassen kann, um selbst nach Amerika zu fliegen, filmt eine Kollegin die ganze Prozedur. Eine Kopie der Aufnahme wird dann an eine von Lawals Kosmetikerinnen in den USA geschickt. Die wird am Tag der Hochzeit das Schönheitsprogramm detailgetreu an der Braut wiederholen. Das Honorar Lawals dafür ist höher als der Betrag, den Chiagozie für den Kauf seiner mobilen Elektrowerkstatt hingelegt hat. Lawal konnte allerdings auch einige Stufen höher auf der Karriereleiter einsteigen als der Elektriker. Ihr Vater ist Universitätsdozent, ihre Mutter Radiologin. Schon während Lawal in Lagos Englisch studierte, begann sie, für kleines Geld anderen Studentinnen das Make-up zu machen. „So etwas war damals in Lagos völlig unbekannt“, erzählt sie. „Aber immer wenn ich in den Ferien in England war, habe ich alle möglichen Make-up-Utensilien gekauft, und ich war richtig süchtig nach edlen Frauenzeitschriften wie ,Marie Claire‘ und ,Cosmopolitan‘. In der Schule hatte ich Kunst belegt, das hat mir geholfen, Farben zusammenzustellen und mit Stift und Pinsel umzugehen.“

In Nigeria müssen Jugendliche nach dem College-Abschluss ein soziales Arbeitsjahr leisten. In dieser Zeit fasste Lawal den Entschluss, im wohlhabenden Viertel Ikoyi ein kleines Studio zu eröffnen. 2000 zog sie das große Los: Sie machte das Make-up für die Frauen, als der Sohn des neuen Präsidenten heiratete. Die Presse berichtete, und Lawal bezog ein größeres Studio. Immer mehr berühmte Leute verlangten nach ihren Diensten. Heute hat „BM Pro“ vier Filialen und 32 Angestellte. Banke Meshida Lawal hat, wovon Onyekachi Chiagozie träumt. „Ich weiß, dass meine Arbeit purer Luxus ist. Aber in Lagos geht es nun mal um Cash, und es gibt Leute, die Cash für meine Dienste zahlen“, sagt sie und lächelt. „Die Kluft zwischen Arm und Reich ist riesig. Und ich bin froh, auf der richtigen Seite zu stehen.“

Ein Motorboot bringt mich nach Victoria Island, wo der Bootsführer mich nach einer Stunde Fahrt entlang der Küste am Ende eines unbefestigten Weges absetzt. Er führt zu einem Strandhaus, in dem 200 junge Lagosianer tanzen und Cognac bechern. Alle sind, wie es die Einladung vorschreibt, ganz in Weiß gekleidet – zumindest bis ein Platzregen auf die Terrasse niedergeht. Sofort ziehen sich viele bis auf ihr Badezeug aus und springen in den Pool. Sie scheinen sich alle zu kennen – aus denselben Nachtclubs oder durch Geschäfte, die sie miteinander gemacht haben, oder von derselben Universität in London oder aus Lawals Schönheitssalon. Kaum einer hat mit aufstrebenden Arbeitern wie dem Elektriker Chiagozie zu tun oder weiß etwas über den harten Weg, auf dem dieser sich in die Mittelschicht hochgearbeitet hat. Hier feiern sie, die gleichgültigen Reichen und Schönen und ihr Hip-Hop-DJ, eine Szenerie, die auf der anderen Seite des Globus in Hollywood wohl genauso aussehen würde. Der Unterschied ist der: Gut 1000 Kilometer entfernt, in den Wäldern im Norden Nigerias, sind immer noch mehr als 200 Schülerinnen in Geiselhaft der Terroristen von Boko Haram.

Wie können diese beiden Welten nebeneinander existieren? Wie kann Lagos aufblühen, wenn im Norden Nigerias das Chaos regiert?

Es dauert für Ausländer eine Weile, die Zusammenhänge zu durchschauen und die richtigen Fragen zu formulieren. Nigeria ist der größte Ölexporteur Afrikas. Wieso wird dann aber regelmäßig das Benzin knapp, so dass die Lagosianer immer wieder an den Tankstellen Schlange stehen müssen? Warum ist jedes Haus in der Stadt – nicht nur die Hütten der Armen, sondern auch die nobelsten Hotels auf Lagos Island – auf Generatoren angewiesen, damit rund um die Uhr die Stromversorgung garantiert ist? Warum zahlen Einwohner für Strom, der niemals ankommt? Warum postiert die Polizei abends auf den Brücken Kontrollpunkte und nimmt Pendlern ihr Bargeld ab? Warum streiken die besten Akademiker an der Universität Lagos ganze Semester lang? Was stimmt hier nicht?

Die Antwort lautet: Korruption. Und weil sie zum größten Teil schon ganz oben, auf der Regierungsebene, beginnt, ist die Stadt Lagos weitgehend machtlos dagegen. Die streikenden Professoren und die unterbezahlten Polizisten sind Staatsangestellte. Dass der Ölriese Nigeria Treibstoff importieren muss, um die heimische Nachfrage zu befriedigen, ist einem Ölministerium zu verdanken, das hilflos zuschaut, wie die Raffinerien des Landes verkommen und Benzinunternehmen die Produktion bremsen, um die Preise in die Höhe zu treiben. Auch für die chronischen Stromausfälle in Lagos seien die Bürokraten in Abuja verantwortlich, sagt Abike Dabiri-Erewa, eine Abgeordnete im nigerianischen Repräsentantenhaus. „Das Gas ist da, aber sie fördern es nicht. Also können die Kraftwerke keinen Strom produzieren “, beklagt sie.

Dabiri-Erewa war früher Fernsehjournalistin. Heute erlebt sie als Abgeordnete ungefiltert die schamlose Korruption, über die zu berichten die staatliche Fernseh-Aufsichtsbehörde ihr niemals erlaubt hätte. „Es ist unglaublich“, sagt sie. „Einer in der Regierung unterhält ein Privatflugzeug. Ein Beamter stiehlt eine Milliarde Naira (knapp fünf Millionen Euro) aus dem Rentenfonds und läuft frei herum. Nicht ein einziger Staatsbeamter ist jemals wegen Korruption bestraft worden. Nicht einer! Für den durchschnittlichen Nigerianer muss das richtig demoralisierend sein.“ Und nicht nur das: Die Skrupellosigkeit geht zulasten der hart arbeitenden Lagosianer – es sei denn, sie sind bereit und in der Lage, das Spiel mitzuspielen. Die korrupte Bürokratie beeinflusse ständig seinen Arbeitsalltag, erzählt Chiagozie. „Die meisten Elektriker wie ich suchen einen Job bei Bauunternehmern“, sagt er. „Aber manche dieser Unternehmer sind gar keine Ingenieure. Sie sind Lehrer oder irgendwas anderes und haben zufällig einen Bruder, der in der Regierung arbeitet. Wenn sie einen Auftrag abstauben, lassen sie einen Subunternehmer die Arbeit machen. Der scheffelt eine Menge Geld, indem er minderwertiges Material verwendet. Mich nehmen sie nicht, weil ich darauf bestehe, das beste Material zu nehmen. Sonst kann das Gebäude einstürzen, dann würde die Regierung mich verhaften, ich wäre meine Lizenz los und müsste für den Schaden aufkommen. So etwas kommt immer wieder vor.“

Ist es also der schlechte Ruf der Regierung Nigerias, der westliche Investoren davon abhält, in Lagos Geschäfte zu machen? Kola Karim, der weltgewandte Konzernchef, streitet das wortreich ab. Das sei kein Thema. Unternehmen arbeiteten mit Unternehmen zusammen, nicht mit Bürokraten, sagt er. „Was macht denn die Regierung, außer den Leuten immer mehr Steuern abzunehmen?“, fragt er. „Wer regiert, ist eigentlich egal. Lagos ist ein Zug, der den Bahnhof verlassen hat. Man kann seine Fahrt vielleicht verlangsamen, aber nicht aufhalten. Das ist das Schöne an der Demokratie! Was zählt, das ist nicht Präsident Goodluck Jonathan! Oder der nächste Präsident. Was zählt, ist der Fortschritt! Vergessen Sie die Politik!“

Das ist die Meinung von Kola Karim, einem Patrioten, der sich großzügig mit Zeit und Geld für die Gesellschaft engagiert. Man muss seine Ansicht nicht teilen, aber es ist schwierig, ihm seinen gelben Ferrari zu neiden, seine Ferienhäuser in Miami und in Marbella an der spanischen Mittelmeerküste, ihm zu missgönnen, dass seine Kinder, die in London leben, kaum in Gefahr sind, von den islamistischen Terroristen des Boko Haram verschleppt zu werden. Wahr ist aber auch, und Karim hat es selbst gesagt: Lagos kann vielleicht nicht aufgehalten, sein Wachstum kann aber gebremst werden. Die Wirtschaftsmetropole ist nicht resistent gegen die Kräfte, die die ärmeren Regionen Nigerias lähmen.

Die ehemalige Journalistin und heutige Abgeordnete Dabiri-Erewa jedenfalls lässt das Argument, Boko Haram hätte Lagos doch bisher verschont, nicht gelten. Das sei schließlich keine weit entfernte Terrorgruppe, die zur Not von amerikanischen Drohnen beschossen werde wie in anderen Ländern. Boko Haram sei in Nigeria entstanden und verheerend effektiv. „Kein Mensch kann vorhersagen, wo sie als Nächstes zuschlagen“, sagt sie. „Und die Regierung tappt sowieso völlig im Dunkeln.“

Doch derzeit scheint Lagos sicher zu sein, ein Ort für die Optimisten einer aufstrebenden Gesellschaft. Eine Stadt, in der selbst solche Menschen, die vor Armut verzweifeln könnten, nach oben schauen und sagen: Da ist noch Platz.

(NG, Heft 02 / 2015, Seite(n) 78 bis 107)

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