Die echten Meerjungfrauen: Wie Seekühe alte Mythen und Legenden befeuerten
In vielen Kulturen dachten die Seefahrer, dass die Meeressäuger die berühmten Damen des Meeres seien.

Für gewöhnlich beginnen die Rundschwanzseekühe im November mit ihrer Wanderung gen Süden in wärmere Gewässer. Oft schwimmen sie damit aber auch der Gefahr entgegen. In Florida sterben jedes Jahr zahlreiche der trägen Tiere durch Zusammenstöße mit Booten.
Auch deshalb entschied sich der US-Bundesstaat im letzten Jahr dafür, den November offiziell zum „Manatee Awareness Month“ zu erklären.
Die Weltnaturschutzunion listet den Karibik-Manati Trichechus manatus – die Rundschwanzseekuh-Art, die am Golf von Mexiko, in der Karibik und an der Nordostküste Südamerikas vorkommt – als gefährdet. Laut ihrer Webseite leben in freier Wildbahn nicht mal mehr 10.000 Exemplare. Die Population an der Küste Floridas wird laut der Organisation Save the Manatee auf ungefähr 4.830 geschätzt. Der Karibik-Manati gehört zur Ordnung der Seekühe (Sirenia). Die größten Pflanzenfresser des Meeres sind auch jene Wesen, die den Mythen und Legenden rund um Meerjungfrauen immer wieder Leben eingehaucht haben.
Wir haben uns ein paar dieser Vorfälle mal angesehen.
„IHRE GESICHTER HATTEN EIN PAAR MASKULINE ZÜGE“
Bei seiner ersten Reise nach Amerika erhaschte Christoph Kolumbus einen Blick auf drei „Meerjungfrauen“ am Bug seines Schiffs. In den Aufzeichnungen kann man nachlesen:
„Am gestrigen Tag [8. Januar 1493], als der Admiral nach Rio del Oro [Haiti] fuhr, sagte er, dass er eindeutig drei Meerjungfrauen gesehen hat, die aus der See auftauchten. Aber sie seien nicht so schön, wie man es ihnen nachsagt, denn ihre Gesichter hatten ein paar maskuline Züge.“
Tatsächlich sind Seekühe dafür bekannt, dass sie wie die griechischen Sirenen – Fabelwesen, die mitunter als Mischwesen aus Fisch und Frau oder Vogel und Frau – aus dem Wasser auftauchen und in flachem Wasser auch mal senkrecht zu „stehen“ scheinen. (Lesenswert: Seekuh-Babyboom im Great Barrier Reef)
An ihren vorderen Flippern sieht man das Ende von jeweils fünf fingerartigen Knochen, und dank ihrer Halswirbel können sie ihren Kopf drehen. Man kann also durchaus nachvollziehen, wie diese Tiere in der Vergangenheit für menschenähnliche Meerjungfrauen gehalten werden konnten, zumindest aus der Ferne.
Nach Kolumbus‘ Expeditionen nach Amerika konnte man in Kuriositätenkabinetten oft „kürzlich entdeckte“ Meerjungfrauen aus der Neuen Welt bewundern – für gewöhnlich verstorbene Seekühe:
„Vor nicht allzu langer Zeit wurde das Skelett einer Meerjungfrau, wie man es nannte, nach Portsmouth gebracht. Angeblich sei sie in der Nähe der Insel Mombass geschossen worden. Das [Skelett] wurde den Mitgliedern der Philosophical Society übergeben, die es als Gabelschwanzseekuh identifizierten [...] Wenn ich mich recht erinnere, war es ungefähr 1,80 Meter lang. Seine Rückenwirbel mit der breiten Schwanzextremität ließen auf ein kräftiges, fischartiges Körperende schließen. Die Vorderbeine hingegen, vom Schulterblatt bis zu den Extremitäten der Fingerknochen, wiesen für das ungeübte Auge eine sehr große Ähnlichkeit zu den Knochen eines kleinen, weiblichen Arms auf.“ – Beschreibung einer Meerjungfrau im englischen „Magazine of Natural History“
DAME DES MEERES
Tausende Kilometer entfernt von den Gewässern, die Kolumbus befuhr, bevölkerte die Gabelschwanzseekuh im Pazifik jahrhundertelang diverse Legenden.
1959 entdeckte man in der malaysischen Tambun-Höhle 3.000 Jahre alte Bilder von Seekühen, die in den Felsen geritzt worden waren. Der Name Dugong, mit dem die Tiere auch bezeichnet werden, geht auf ein malaysisches Wort zurück, das so viel wie „Dame des Meeres“ heißt.
Im pazifischen Inselstaat Palau, der aus 356 Inseln besteht, spielt die Gabelschwanzseekuh bzw. der Dugong eine zentrale Rolle in den traditionellen Zeremonien und der Folklore der Inselbewohner. Noch immer erzählt man die Geschichten junger Frauen, die in solche sanften Seekühe verwandelt wurden, und hölzerne Schnitzereien erzählen Geschichten von Fischern, die auf dem Meer verloren gingen und Hilfe von Seekühen erhielten.
Olympia E. Morei, die Direktorin des Belau National Museum, sagt, dass „die Einwohner Palaus ihre Umwelt und alle Lebewesen darin respektieren – Bäume, Pflanzen, all die Tiere und Vögel. Wir glauben, dass der Dugong der Legende zufolge einst ein Mensch gewesen ist.“
Die Weltnaturschutzunion listet den Dugong als vom Aussterben bedroht.
Es ist nicht bekannt, wie viele Tiere es im gesamten Verbreitungsgebiet noch gibt, aber in Palau werden jährlich bis zu 15 Dugongs zu Ernährungszwecken getötet, wie das Dugong Awareness Project des Etpison Museums mitteilt.
„Wenn der Dugong [in Palau] aussterben würde, würden wir als Volk unsere Verbindung zu unserer Umwelt und unserer Tradition verlieren“, sagte Morei.
Ohne bessere Schutzmaßnahmen könnten die sanften Tiere, die einst fantastische Mythen über Meerjungfrauen inspirierten, bald selbst dem Reich der Legenden angehören.
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