Forever Young: Manche Molche werden nie erwachsen

Die Bergmolche in den Alpen können ihre Metamorphose mitunter ihr ganzes Leben lang hinauszögern.

Von Elizabeth Anne Brown
Veröffentlicht am 20. Aug. 2018, 12:55 MESZ
Im Larvenstadium können Bergmolche wie dieses Weibchen von den Vorteilen ihres Wasserlebensraumes profitieren. Manchmal lohnt es ...
Im Larvenstadium können Bergmolche wie dieses Weibchen von den Vorteilen ihres Wasserlebensraumes profitieren. Manchmal lohnt es sich für die Tiere, diesen Zustand ein Leben lang beizubehalten
Foto von Will Atkins

Genau wie Peter Pan weigern sich auch Bergmolche manchmal, erwachsen zu werden.

In ihrem Larvenstadium ernähren sich die kleinen Molche in den kühlen Bergseen, in welchen sie wohnen, zunächst hauptsächlich von Plankton. Die Bergmolche oder Alpenmolche (Ichthyosaura alpestris) leben in den Alpen in bis zu 2.500 Metern Höhe. Die charakteristischen Kiemenäste am Kopf der Tiere, mit denen Sauerstoff aus dem Wasser gefiltert wird, sind nur im Larvenstadium vorhanden – dem Molchäquivalent zu Kaulquappen.

Genau wie andere Vertreter der Echten Salamander durchlaufen auch die Bergmolche verschiedene Entwicklungsstadien. Ihre Kiemenäste weichen schließlich Lungen und sie wandern an Land, wo sie sich von Insekten ernähren.

In jeder Generation gibt es aber auch ein paar Tiere, die ihr nasses Kinderzimmer nicht verlassen wollen. Sie behalten ihre ans Wasser angepassten Körpermerkmale und wachsen weiter, obwohl sie im Larvenstadium verbleiben. Dieses Phänomen bezeichnet man als Neotenie oder Pädomorphismus. Die betroffenen Tiere zögern ihre Metamorphose Monate, Jahre oder gar ihr ganzes Leben hinaus – aber sie können sich trotzdem fortpflanzen.

Diese ewig jungen Molche sind jedoch in Gefahr, da sie von invasiven Arten und der Verschiebung von Niederschlagsmustern bedroht werden, welche mit dem Klimawandel einhergeht. Eine gründliche Untersuchung der Tiere könnte dabei helfen, die Feinheiten der Metamorphose und der evolutionären Entwicklung von Amphibien – deren Zahlen weltweit rückläufig sind – tiefergehend zu ergründen. Im Gegensatz zu Peter Pan bleibt den Forschern jedoch nicht ewig Zeit.

Bei den Bergmolchen hängt der Zeitpunkt der sexuellen Reife nicht vom Alter ab, sondern vom Gewicht: Ein dicker Molch ist ein erfolgreicher Molch. Wenn die Tiere also ein gewisses Verhältnis von Gewicht und Länge erreichen, treten die Geschlechtsdrüsen in Aktion.

UNTERSCHIEDLICHE LEBENSWEISEN

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Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Menschen die Metamorphose von Molchen mit der menschlichen Pubertät vergleichen. Bei vielen Salamanderverwandten sind die körperliche und sexuelle Reife jedoch „voneinander entkoppelt“, erklärt Mathieu Denoël, ein Biologe der Universität Lüttich und weltweit führender Experte für Bergmolche.

„Die Metamorphose erlaubt es den Tieren nur, ihren Lebensraum zu wechseln – zu einer anderen Ernährung, einer anderen Lebensweise“, sagt Denoël, der auch beim belgischen National Fund for Scientific Research angestellt ist. Bergmolche können mit der Produktion von Eiern beginnen, bevor oder nachdem sie ihr erwachsenes Entwicklungsstadium erreicht haben, und manchmal behalten sie ihren jugendlichen Körper ein Leben lang.

Die Metamorphose entspricht also weniger der Pubertät, sondern eher einem extrem schnellen Durchlaufen der ersten Lebensjahre. Wenn ein Kleinkind wächst, passt sich sein Oberkörper im Größenverhältnis seinem großen Schädel an, und seine Beine werden länger, wenn es vom Krabbeln zum Laufen übergeht.

Menschen werden also nicht einfach nur größer, sondern erleben Veränderungen in den Proportionen ihres Körpers. Dieser Teil wird bei der Neotenie übersprungen.

Würde man beim menschlichen Vergleich bleiben, wäre ein neotenischer Molch also ein ausgewachsener Mensch mit einem übergroßen Kopf, riesigen Augen und Stummelgliedmaßen, auf denen er sich krabbelnd fortbewegt und ausschließlich Babybrei isst.

RÜCKVERSICHERUNG IM WASSER

Es ist schwer vorstellbar, wie so eine Unterbrechung der Entwicklungsstadien sich als evolutionärer Vorteil erweisen könnte. Laut dem Zoologen Francesco Ficetola von der Universität Milan handelt es sich aber um eine geniale Anpassung an knappe Ressourcen und einen unvorhersehbaren Lebensraum.

Hoch in den Alpen sind Mahlzeiten oft schwer zu finden, und die Dauerlarven haben sich in einer Nische der Bergökologie eingenistet, die ihren „erwachsenen“ Geschwistern verschlossen bleibt.

„In einem Teich, der keinen Zugang zu einem Fluss oder See hat, gibt es oft keine Fische“, sagt Ficetola. Für die Molche bedeutet das im Grunde eine große, leere Immobilie ohne Fressfeinde.

Wissenschaftler vermuten, dass sich die Neotenie entwickelt hat, um den innerartlichen Wettbewerb zu verringern. Mit anderen Worten: Wenn die Geschwister nicht über dieselben Ressourcen streiten, profitiert die ganze Familie. Wenn also ein Teil jeder Generation im Wasser bleibt, können die Tiere aus zwei verschiedenen Speisekarten wählen.

Neotenie scheint auch dort aufzutreten, wo der Lebensraum an Land eine besondere Herausforderung darstellt, beispielsweise bei einem Mangel an passender Nahrung oder einem Übermaß an Fressfeinden.

In Zeiten des Mangels, wenn es sowohl an Land als auch im Wasser kaum Nahrung gibt, scheint eine aquatische Lebensweise die beste Option zu sein.

Für eine Metamorphose ist eine Menge Energie nötig, schließlich werden ganze Organe und Körperteile aufgelöst und neu gebildet. Hungrige Molche können es sich also womöglich gar nicht leisten, das nächste Entwicklungsstadium zu durchlaufen und dann zusätzlich noch in die Fortpflanzung zu investieren.

Die Ausbildung der Sexualorgane erhält also Priorität, weshalb neotenische Tiere eine Art Rückversicherung im Fall von Katastrophen sind, wie Denoël erklärt. „Sie können die Population recht schnell wiederaufbauen und ihre Gene schneller an die nächste Generation weitergeben“, da es zwei bis drei Jahre dauern kann, bis die erwachsenen Tiere zur Paarung zu jenem Teich zurückkehren, in dem sie geboren wurden.

Die Neotenie selbst ist für die Tiere kein Risiko: Wenn der Teich austrocknet oder sich die Bedingungen an Land verbessern, können sie jederzeit Lungen ausbilden und an Land gehen. „Selbst spät im Leben, selbst wenn sie dem Tod nahe sind“, der bei manchen Bergmolchen in den Alpen erst mit etwa 20 Jahren eintritt, „besteht für sie immer noch die Möglichkeit der Metamorphose“, so Denoël.

Obwohl die Vorteile der Neotenie klar scheinen, ist man sich immer noch nicht sicher, wie genau die Metamorphose unterdrückt wird. Denoël vermutet, dass ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren dafür verantwortlich ist, von der Temperatur und dem Wasserstand bis hin zur Populationsgenetik und der Bestandsdichte. Es ist ein empfindliches Gleichgewicht, das sehr genau auf die Umwelt angepasst ist – und derzeit einer echten Belastungsprobe standhalten muss.

Dieser männliche Bergmolch hat seine Metamorphose abgeschlossen und ist bereit für sein neues Leben an Land.
Foto von Rene Krekels, Minden Pictures, National Geographic Creative

GEFÄHRDETE LEBENSRÄUME

Bergmolche leben in Teichen und Seen in ganz Europa. Einige ihre neuen Nachbarn wecken in Denoël und Ficetola jedoch Sorge über die Zukunft der neotenischen Molche.

Neotenie an sich ist zwar insofern verbreitet, als dass das Phänomen bei vielen Salamanderverwandten vorkommt, es tritt jedoch nur bei etwa 100 Populationen von Bergmolchen auf. Das ist deutlich weniger als ein Prozent der zehntausenden Bergmolchbestände in ganz Europa, wie Denoël sagt.

Sportfischer bringen Lachsfische wie zum Beispiel Forellen in ihre Gewässer ein. Wenn neotenische Molche es plötzlich mit invasiven Arten zu tun haben, erklärt Ficetola, „verlieren sie gegen die Fische“. Und zwar jedes Mal.

Die Molchlarven sind Wasserbewohner, weshalb sie ihrem Lebensraum nicht einfach entkommen können. Eine Metamorphose dauert Tage – zu lang für die meisten Larven, um ihren neuen Fressfeinden zu entkommen. „In allen Seen, in die Fische eingebracht wurden, sind die neotenischen Molche völlig verschwunden.“

Ficetola verweist auch auf den Klimawandel als eine weitere existenzielle Bedrohung. Er habe „den Niederschlagsrhythmus verändert“, was bedeutet, dass einst tiefe Teiche nun jährlich austrocknen und die Molchlarven gewissermaßen zwangsräumen.

Für die Riesenbabys bedeutet das Ärger, so Ficetola. „Im Balkan gibt es Gebiete, die mehr als 95 Prozent ihrer neotenischen Population eingebüßt haben.“

„Die Amphibienbestände sind insgesamt rückläufig“, fügt er hinzu, „aber die neotenischen Exemplare sind meist besonders gefährdet.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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