Diese Motten trinken die Tränen schlafender Vögel

Biologen spekulieren über den Zweck des Verhaltens, das im Amazonas bisher kaum beobachtet wurde.

Von Sandrine Ceurstemont
Veröffentlicht am 2. Okt. 2018, 14:00 MESZ
Nachtfalter am Hals eines Nördlichen Grauameisenschnäppers
Ein Biologe entdeckte diesen Nachtfalter der Art Gorgone macarea am Hals eines Nördlichen Grauameisenschnäppers in Brasilien. Mit seinem langen Saugrüssel trank er die Tränenflüssigkeit des Vogels.
Foto von Leandro Moraes

Im Dschungel des brasilianischen Amazonas lebt ein Nachtfalter, der die Tränen schlafender Vögel trinkt. Vor Kurzem wurde dieses Verhalten zum ersten Mal in der Geschichte des Landes beobachtet.

Nachtfalter – oder Motten – und andere Schmetterlinge wurden schon oft dabei beobachtet, wie sie die Tränenflüssigkeit von Krokodilen, Schildkröten oder Säugetieren trinken. Vermutlich dienen die Tränen den Insekten als Salzlieferant – ein wichtiger Nährstoff, der in Nektar nicht vorkommt.

Auch Vogeltränen könnten aus demselben Grund zum Ziel der hungrigen Motten werden. Allerdings wird das Gebiet, in dem das Verhalten zuletzt beobachtet wurde, jedes Jahr von einem Fluss überschwemmt. Das Wasser entzieht dem Boden dann eine Menge Salz. Da Salz in der Region also reichlich vorhanden ist, war Leandro Moraes, der die Entdeckung machte und in „Ecology“ veröffentlichte, etwas ratlos.

„Das Spannende daran ist, warum diese Motten sich in dieser Umgebung Salz zuführen sollten, indem sie Vogeltränen trinken“, sagt Moraes, ein Biologe des Institute of Amazonian Research in Manaus, Brasilien.

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Ein seltener Anblick

Moraes war nachts auf der Suche nach Amphibien und Reptilien, als er das seltsame Verhalten beobachtete. In den Wäldern entlang des Rio Solimões sah er eine Motte der Art Gorgone macarea am Hals eines Nördlichen Grauameisenschnäppers sitzen. Schon einen schlafenden Vogel findet man selten genug, wie Moraes sagt.

„Die größte Überraschung kam aber, als ich bemerkte, was passierte, und begriff, dass die Motte ihren Saugrüssel in das Vogelauge steckte.“

Eine andere Motte, die gern mal sprichwörtlich auf die Tränendrüse drückt, wurde in Madagaskar beobachtet. Ihr Saugrüssel verfügt über Widerhaken, mit denen sie sich während des Trinkens womöglich festhält. Ob auch der Saugrüssel der Motte aus dem Amazonas solche Widerhaken hat, muss erst noch geklärt werden. Allerdings ist er lang genug, dass sich die Motte recht weit vom Auge des Vogels entfernt halten kann und so die Wahrscheinlichkeit verringert, ihn aufzuwecken.

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    Für gewöhnlich nutzen Motten ihren eingebauten Strohhalm allerdings nicht, um sich an Tieren zu laben. In jenem Teil des Regenwaldes, in dem der Tränenräuber beobachtet wurde, versammeln sich die Tag- und Nachtfalter in der Nähe überschwemmter Böden und schlürfen dort die salzige Flüssigkeit mit ihrem Saugrüssel auf.  

    Wenn die Fluten versiegen, könnte ihnen jedoch auch die salzige Flüssigkeit ausgehen, sodass sie den Mangel anderweitig kompensieren müssen. „Ressourcenknappheit in einem bestimmten Gebiet während eines bestimmten Monats könnte erklären, warum die Motten in den Tränen von Vögeln zusätzliche Nährstoffquellen suchen“, so Moraes.

    Diese Motten (Gorgone macarea) könnten Tränen von Vögeln wie diesem Nördlichen Grauameisenschnäpper trinken, um daraus Nährstoffe zu ziehen.
    Foto von Leandro Moraes

    Womöglich sind die Motten aber auch auf der Suche nach einem ganz anderen Nährstoff: Protein. Diesen gewinnen sie für gewöhnlich aus Nektar, aber Tränenflüssigkeit – die Albumine und Globuline enthält, zwei Arten von Porteinen – kann als Ersatzquelle dienen. Ein Proteinschub kann den Motten dabei helfen, länger in der Luft zu bleiben, ihre Lebenserwartung verlängern und ihren Reproduktionserfolg steigern.

    „Körperflüssigkeiten von Wirbeltieren sind die größte alternative Proteinquelle“, sagt Moraes. Nachtfalter der Gattung Calyptra ernähren sich beispielsweise vom Blut von Tieren – oder Menschen.

    Kein Problem?

    Unabhängig davon, weshalb die Motten sich an den Vogeltränen laben, muss noch geklärt werden, ob und wie sich das auf den Vogel auswirkt. Die Motten trinken von den Tieren, während diese schlafen. Man vermutet, dass die Vögel das nicht weiter kümmert, da sie keine Anzeichen für Unwohlsein zeigen.

    „Schlafende Vögel wachen für gewöhnlich schnell auf und fliehen, wenn sie Gefahr bemerken“, so Moraes.

    Es ist dennoch möglich, dass das Verhalten der Motten für die Vögel Risiken birgt. Die Tränken trinkenden Nachtfalter stehen im Verdacht, Augenkrankheiten bei Nutztieren wie Kühen und Wasserbüffeln zu verursachen.

    Motten sind allerdings auch nicht die einzigen Insekten, die Tränen trinken. Laut Michael Engel von der University of Kansas, der im letzten Jahr den ersten bekannten Fall einer Tränen trinkenden Biene in Sri Lanka beschrieb, nehmen die Berichte über diverse Insekten zu, die es auf Tränenflüssigkeit abgesehen haben.

    Im Amazonas wurde das Verhalten bislang aber nur sehr selten gemeldet, obwohl der größte tropische Regenwald der Welt eine atemberaubende Artenvielfalt beherbergt, darunter etwa 1.300 Vogelarten und schätzungsweise 2,5 Millionen Insektenarten.

    Die meisten ähnlichen Fälle wurden jedoch in den tropischen Bereichen Afrikas, Asiens und Madagaskars beobachtet. „Die neue Entdeckung hilft uns dabei, [unser Wissen über] eine interessante biogeografische Region zu erweitern, in der das Tränentrinken eigentlich verbreitet sein sollte, aber bisher kaum beobachtet wurde“, sagt Engel.

    Moraes wird seine Umgebung während seiner Feldforschung im Amazonas jedenfalls weiterhin genau beobachten. Der aktuelle Bericht ist „nur ein einzelner Fall, an dem zwei Arten des Amazonas beteiligt sind. Da kann ich mir vorstellen, welche tausenden anderen ökologischen Beziehungen es noch gibt, von denen wir nichts wissen“, sagt er.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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