Angriff der Schleimgranaten: Mangrovenquallen töten ohne Berührung

Quallen der Gattung Cassiopea sind am Meeresboden verankert und haben keine Tentakel. Trotzdem töten sie Beute auf Entfernung – dank einer cleveren Anpassung.

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 6. März 2020, 17:32 MEZ
Mangrovenqualle
Diese ausgewachsene Mangrovenqualle wurde in der Sektion für wirbellose Tiere im Smithsonian's National Museum of Natural History in der Draufsicht fotografiert. Ein Team aus Wissenschaftlern des Smithsonian, der University of Kansas und des US Naval Research Laboratory hat mikroskopisch kleine Strukturen im Schleim der Tiere entdeckt, die giftig sind.
Foto von Allen Collins

Sie leben im Wasser der Mangrovenwälder von Florida bis Mikronesien. Und sie verursachen bei ihren Opfern ein schmerzhaftes Brennen, obwohl sie keinerlei Tentakel haben und besagte Opfer nicht einmal berühren. Wie machen die Mangrovenquallen das?

Laut einer Studie in „Communications Biology“ funktioniert diese Taktik dank freischwebender Schleimwolken voller mikroskopisch kleiner „Giftgranaten“.

Die Mangrovenquallen (Cassiopea), die mit ihrer Unterseite nach oben am Meeresgrund sitzen, werden schon seit mehr als einem Jahrhundert erforscht. Lange Zeit konnte sich aber niemand so wirklich erklären, wie ihr Schleim funktioniert. Erst die neue Studie liefert Antworten – und kann erklären, warum Taucher oft von Hautreizungen durch die Quallen berichten, selbst wenn sie sie nicht berührt haben.

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„Wir wussten, dass es irgendwas mit dem Schleim zu tun haben musste“, sagt Cheryl Ames, eine Meeresbiologin am Smithsonian National Museum of Natural History und eine der Hauptautorinnen der neuen Studie.

Die Quallen der Gattung Cassiopea produzieren raue Mengen Schleim, in dem kleine Beutetiere wie Salzwasserkrebse stecken bleiben – fast wie in einer Art Spinnennetz. Sogar einige Fische verenden darin. Schwimmen menschliche Taucher in der Nähe der Quallen vorbei, berichten sie mitunter von einem „stechenden Gefühl“ an freiliegenden Hautstellen – obwohl sie nie in Kontakt mit den wirbellosen Tieren gekommen sind. Für gewöhnlich ist es kaum mehr als ein lästiges Jucken und Brennen, aber Labortests des Quallengifts zeigen, dass es in großen Mengen schädlich sein kann.

Als Ames und ihre Kollegen den Schleim unter dem Mikroskop untersuchten, entdeckten sie etwas, das darin herumschwamm.

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    Diese neu entdeckten Strukturen tauften die Wissenschaftler „Cassiosomen“. Jede dieser kleinen Granaten hat einen schleimigen Kern, einige Nesselzellen und 60 bis 100 Flimmerhärchen, mit denen sich die Cassiosomen durch den Schleim bewegen.

    „Sie waren autonom“, sagt Ames. „Sie bewegten sich wie kleine Roombas und stießen mit den Salzwasserkrebsen zusammen, die wir ihnen zu fressen gaben. Sie haben die Krebse direkt durch ihre Berührung getötet und bewegten sich dann weiter zum nächsten.“

    Das Geheimnis des Schleims

    Zunächst hielten die Forscher die Strukturen für Parasiten. Aber nach einer DNA-Analyse der „Schleimgaranten“, einer 3D-Visualisierung und anderen Testmethoden stieß das Team auf den tatsächlichen Ursprung der Cassiosomen: Sie bestanden aus denselben Nesselzellen und demselben Schleim wie der Körper der Quallen.

    Darüber hinaus entdeckte das Team solche Cassiosomen auch bei vier anderen Quallenarten. Es scheint also so, als wären die Strukturen keine einzigartige Besonderheit, sondern womöglich sogar ein verbreitetes Merkmal.

    Mangrovenquallen im National Aquarium, USA.
    Foto von National Aquarium via Cheryl Ames

    Viele der Cassiosomen versteckten in ihrem Inneren noch eine weitere Überraschung: Algen. Bestimmte Algenarten haben eine symbiotische Beziehung zu Mangrovenquallen. Sie beliefern die Quallen mit Nährstoffen, die sie über ihre Photosynthese herstellen. Durch die Algen erhalten die Quallen auch ihre rosa, blaue und grüne Farbgebung.

    „Wir wissen nicht wirklich, was die Algen [in den Cassiosomen] tun“, sagt die auf Quallen spezialisierte Biologin Anna Klompen. Die Doktorandin der University of Kansas ist eine Co-Autorinnen der Studie.

    Womöglich funktionieren die Algen wie kleine, solarbetriebene Batterien – denn die Cassiosomen können auf sich allein gestellt bis zu zehn Tage lang überleben und sich bewegen. „Aber mit den Techniken, die wir benutzt haben, konnten wir das bislang nicht bestätigen“, sagt Ames.

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    Es scheint unbestreitbar, dass die Cassiosomen ein gewisses Maß an Eigenwillen zu besitzen scheinen. Ob sie aber tatsächlich Beute wahrnehmen können und sich gezielt zu ihr bewegen, wird weitere Forschung klären müssen. Womöglich stoßen sie auch nur zufällig mit kleinen Krebsen und anderen Organismen zusammen.

    „Ich weiß nicht, ob sie gezielt suchen“, sagt Klompen. „Aber sie können definitiv zerstören.“

    „Eine bemerkenswerte Anpassung“

    Für Angel Yanagihara, eine Biochemikerin und Quallenexpertin an der University of Hawaii in Mānoa, lüftet die Studie ein paar alte Rätsel um das stechende Gefühl im Wasser.

    „Die oberflächliche Erklärung, dass der Schleim selbst irgendein Allergen sei, schien mir nicht glaubhaft“, sagt Yanagihara, die an der Studie nicht beteiligt war. „Deshalb ist es sehr befriedigend, so eine detaillierte Beschreibung und Aufschlüsselung dessen zu sehen, was da ins Wasser abgegeben wird.“

    Mangrovenquellen zählen laut Yanagihara zu den Medusozoen, also den klassischen Schwimmquallen. Die Vertreter der Gattung Cassiopea sitzen aber fest am Meeresboden und ähneln in dieser Hinsicht eher ihren entfernten Verwandten, den Anemonen.

    Die Entdeckung der Cassiosomen bringt uns einen Schritt weiter bei der Suche nach Antworten darauf, wie diese sesshaften Tiere Beute fangen. „Das ist eine bemerkenswerte Anpassung“, so Yanigahara.

    Wie genau die Mangrovenquallen von ihrem tödlichen Schleim profitieren, wurde noch nicht im Detail beschrieben. Ames zufolge haben sie und ihre Kollegen im Labor aber bereits Hinweise darauf entdeckt. Wenn man einer der Quallen eine Ladung Salzwasserkrebse füttert, kann man dabei zusehen, wie ihr Schleim zu einer „rosa Wolke“ voller toter Krebstierchen wird.

    „Binnen 24 Stunden verschwindet die rosa Wolke kann“, sagt Ames.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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