Quallenexplosion: Viele Meerestiere steigen auf Glibber um
Die wachsenden Quallenbestände bieten manchen Tieren bei Nahrungsmangel wichtige Übergangslösungen.
Glibberige Pfropfen mit Tentakeln, die bei Berührung brennende Schmerzen auslösen, klingen nicht gerade nach einem tollen Gourmet-Snack. Eine neue Studie offenbart allerdings, dass viele Tiere sich regelmäßig ein Häppchen Qualle gönnen. Manche Arten sind sogar auf diese Kalorienquelle angewiesen.
Eigentlich hatten Forscher lange Zeit vermutet, dass Quallen im Nahrungsnetz eine Art Sackgasse darstellen würden, da ihr Nährwert so gering ist. In den letzten Jahren entdeckte man, dass sich die Tiere aufgrund von Klimawandel, Überfischung, Nährstoffabfluss aus der Landwirtschaft und Veränderungen ihres Lebensraums explosionsartig vermehrten.
„Ich glaube, dadurch bekamen die Quallen ein sehr negatives Image. So nach dem Motto: Passt auf, die werden kommen und euch fressen“, sagt Jonathan Houghton, ein Biologe der Queen’s University in Nordirland.
Ein Bericht, der vor Kurzem in „Trends in Ecology and Evolution“ erschien und an dem Houghton mitgeschrieben hat, fasste jedoch mehrere Studien zusammen, um zu zeigen, dass Quallen in der marinen Nahrungskette von größerer Bedeutung sind als gedacht. Mancherorts könnten sie sogar noch an Bedeutung gewinnen, wenn Fischbestände und Krill weiter zurückgehen.
„Das ist so ein postapokalyptisches Bild von Quallen“, sagt Houghton.
Gummitierchen der Meere
Um die Daten für ihre Studie zusammenzutragen, analysierten Houghton und seine Co-Autoren das Bildmaterial von Kameras an Pinguinen und Schildkröten, genetische Studien über den Mageninhalt diverser Meerestiere sowie Isotopenanalysen von tierischen Gewebeproben. Zusammen genommen zeigen die Ergebnisse, dass Quallen zwar wenig Nährstoffe haben, dafür aber in großer Zahl vorkommen und leichte Beute sind. Auf gewisse Weise sind sie so was wie ein schneller Snack für zwischendurch.
Houghton wusste schon vorher, dass einige Tiere sogar auf Quallen angewiesen sind. Die Lederschildkröten, die er erforscht, ernähren sich beispielsweise fast ausschließlich von den Nesseltieren. Wahrscheinlich gleichen sie ihre Wanderungen durch die Meere zeitlich sogar mit den Quallenblüten ab.
Mittlerweile deuten aber immer mehr Studien darauf hin, dass auch zahlreiche andere Tiere – darunter Pinguine, Albatrosse und Thunfische – sich ebenfalls von Quallen ernähren.
„Sie sind im Nahrungsnetz deutlich weiter verbreitet, als es irgendwer für möglich gehalten hätte“, sagt Houghton, „von Krabben über Mikroben auf dem Meeresboden bis hin zu Enten.“
Quallenbuffet
Quallen gibt es in den unterschiedlichsten Formen und Größen. Manche, wie die Portugiesische Galeere, sind auch keine einzelnen Tiere, sondern eine Kolonie von symbiotischen Polypen. Andere Arten sind winzig und eignen sich daher gut als Snack für kleinere Fische und Meerestiere.
Und auch, wenn einige Quallen Larven und Eier jagen, ist Houghton zufolge manchmal auch das Gegenteil der Fall. Ausgewachsene Fische halten sich mitunter unter großen Quallenarten wie den Kompassquallen auf. Dort genießen sie einen gewissen Schutz und erhalten gleichzeitig eine nahrhafte Mahlzeit, wenn sie die Keimdrüsen der Nesseltiere fressen. Oft haben Quallen davon gleich eine ganze Reihe, und die kleinen Fische ziehen sie ihnen einfach aus dem weichen Körper.
„Das ist wie ein Haus, das man essen kann“, sagt Houghton und erzählt, dass die Quallen manchmal ganze Fischkolonien hinter sich herziehen.
„Es gibt bei Quallen jenseits der prominenten, transparenten Gallertschicht, die jeder kennt, eine ganze Menge zu fressen“, so Houghton.
Richard Brodeur, ein Biologe der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), stimmt mit Houghton darin überein, dass Quallen für das Nahrungsnetz eine größere Bedeutung haben, als ihnen oft zugeschrieben wird. Ihm zufolge liegt das teilweise auch daran, dass Quallen schnell verdaut werden und keine Körperteile haben, die man im Magen toter Tiere leicht identifizieren könnte.
Aktuell arbeitet er an einer Studie, für die er eine Datenbank pazifischer Fische aus dem Beringmeer bis hinunter zur Küste Kaliforniens untersucht. Sein Team fand heraus, dass sogar wichtige Speisefische Quallen fressen, darunter Ketalachse, Kohlenfische und einige Barsche. Gerade in den Zeiten, in denen es kein Übermaß an Beutefischen gibt, müssen Fische wie Heringe, Sardellen und selbst einige Säugetiere laut Brodeur eventuell auf Quallen zurückgreifen, um zu überleben.
Marines Nahrungsnetz im Wandel
„Es ist durchaus wahrscheinlich, dass ein größeres Nahrungsangebot für Schildkröten und andere Organismen, die gallertartiges Plankton fressen, eine gute Sache ist“, sagt Brodeur. Aber Quallen auf den Speiseplan zu setzen, hat seine Tücken. Beispielsweise wurden schon Lederschildkröten gesichtet, die auf Plastiktüten herumkauten, weil sie sie für Quallen hielten. Schätzungen zufolge haben mehr als die Hälfte aller Meeresschildkröten schon Plastik gefressen. Für die Tiere wird das schnell zum Verhängnis: Im Schnitt reichen 14 Plastikteile aus, um zum Tod einer Schildkröte zu führen, wie Forscher im Rahmen einer Studie herausfanden. Das könnte die Erholung des ohnehin schon dezimierten Schildkrötenbestands noch weiter beeinträchtigen.
Laut Houghton haben auch einige Pinguinarten Quallen als alternative Nahrungsquelle entdeckt. Für gewöhnlich ernähren sich die Vögel von Krill, der an der Unterseite von Eisschelfs zu finden ist. Durch die steigenden Temperaturen in der Antarktis gehen solche Lebensräume zusammen mit dem schmelzenden Meereis jedoch zurück. Quallen konnten bei Krillmangel bisher zwar als eine Art ökologischer Puffer für die Pinguine fungieren, aber als Hauptnahrungsquelle werden sie Houghton zufolge wohl nicht für alle Arten infrage kommen.
„Man braucht einen ganz bestimmten Stoffwechsel, wie ihn zum Beispiel die Lederschildkröte hat“, erklärt er. Für andere Arten sind Quallen eher so was wie Kartoffelchips. Für sie hätte es also durchaus Konsequenzen, wenn ihre sonstige Beute vollständig durch Quallen ersetzt würde.
Für Houghton ist die wichtigste Erkenntnis aus all dem, dass wir noch viel mehr über diese Tiere in Erfahrung bringen müssen. Nur so können wir ihren Wert, aber auch ihre Grenzen erkennen, anstatt sie einfach nur als „glibberige, apokalyptische Reiter“ zu betrachten.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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