Ökosysteme: Warum manche Tiere wichtiger sind als andere
Seetang, Biber, Wölfe: Schlüsselspezies wie sie sind essenziell für den Erhalt bestimmter Lebensräume – und müssen dringend mehr geschützt werden, fordern Wissenschaftler.
Dass die Stabilität eines Ökosystems von seiner Vielfalt abhängig ist, ist für die Forschung ein alter Hut. In den 1960er Jahren brachte eine bahnbrechende Entdeckung das wissenschaftliche Verständnis von Biodiversität auf ein neues Level und veränderte die Sicht darauf, welchen Einfluss verschiedene Lebensarten aufeinander haben können: Robert Paine, damals junger Forscher an der University of Washington, entdeckte, dass bestimmte Tierarten die Artenvielfalt in ihrem Lebensraum drastisch beeinflussen – und dass ein Verschwinden dieser bestimmten Spezies sogar bis zum Kollaps eines Ökosystems führen kann.
Paine taufte diese Tiere „Keystone Species“. Auf Deutsch werden sie Schlüsselarten genannt, die Herleitung Paines jedoch kam aus der Architektur: Ein „Keystone“ ist der Schlussstein eines Gewölbes oder Bogens, erst durch ihn wird ein Konstrukt stabil. Nimmt man ihn weg, fällt alles in sich zusammen. Einen ähnlichen Effekt haben auch Schlüsselarten auf Ökosysteme. Sie helfen maßgeblich dabei, die Biodiversität eines Lebensraums im Gleichgewicht zu halten.
Schlüsselarten gibt es in allen großen Ökosystemen dieser Erde. Wölfe gehören zu ihnen, genau wie Biber und Otter. Eine Art als Schlüsselart zu identifizieren, ist jedoch nicht einfach, zumal die Definition des Begriffs in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in Frage gestellt wurde.
Die Entdeckung der Schlüsselarten
Die erste Schlüsselart, die je benannt wurde, waren kleine violette Seesterne, Pisaster ochraceus, die an der felsigen Küste von Makah Bay im Staat Washington lebten. Im Jahr 1963 bemerkte Paine, dass diese Seesterne in großen Mengen Muscheln fraßen. Um zu sehen, welchen Effekt ein Verschwinden dieser Tiere auf den Lebensraum hätte, startete er ein einfaches Experiment: Er wählte zwei Küstenabschnitte für seine Studie und ließ den einen wie er war, beim anderen entfernte er alle Seesterne mit einer Brechstange von den Felsen und warf sie ins Meer. Über lange Zeit beobachtete er beide Abschnitte.
Dort, wo Paine die Seesterne entfernt hatte, vermehrten sich die Muscheln unkontrolliert: ihr größter natürlicher Feind war verschwunden. Sie verdrängten andere Arten wie Algen, Seepocken und Schnecken, die auf den Felsen gelebt hatten, die vielfältige Struktur des Ökosystems brach zu einer Muschel-Monokultur zusammen – nur, weil die Seesterne fehlten.
„Nach der Entdeckung damals wurde an Land, im Meer sowie in Seen und Flüssen nach Schlüsselarten gesucht – und es wurden überall Hinweise auf sie gefunden“, sagt Larry Crowder, Biologe an der Hopkins Marine Station der Stanford University, der sich auf die Forschung in Nahrungsketten spezialisiert hat.
Auf Paines Forschung bauten andere Ökologen auf. So auch Jim Estes, der in den 1970er Jahren entdeckte, dass Seeotter in Alaska ihre Umgebung maßgeblich prägen: Sie jagen und fressen Seeigel und halten so die Population in Schach. Bleiben die Otter einem Lebensraum plötzlich fern, werden die Seeigel immer mehr und fressen die Tangwälder weg, auf die viele andere Arten als Lebensraum oder Nahrung angewiesen sind.
Die Effekte, die durch das Verschwinden oder die Wiedereinführung einer Art in ein Ökosystem verursacht werden, wurden später als "trophische Kaskaden" bekannt. Der Name leitet sich von den "trophischen Ebenen" der Nahrungskette ab, mit Raubtieren an der Spitze, Pflanzen und Algen am Ende und vielen Ebenen dazwischen.
„Wie schrieb Orwell: Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher", sagt Crowder. „Wenn es um die Struktur von Ökosystemen geht, ist es tatsächlich so: einige Arten sind wichtiger als andere".
Warum Schlüsselarten so wichtig sind
Daran, wie groß die Wirkung von Schlüsselspezies auf ihr Umfeld ist, gibt es keinen Zweifel. Unter anderem belegte dies ein Ereignis in den USA: Nach rund 70 Jahren ohne die Rudeltiere, wurden 1995 im Yellowstone-Nationalpark wieder Wölfe angesiedelt. Da dort über viele Jahrzehnte keine Wölfe gelebt hatten, erkannten die Wissenschaftler erst mit ihrer Rückkehr, wie ihr Dasein den Lebensraum beeinflusste.
Die Elchpopulation, die sich in Abwesenheit der Wölfe mehr als verdoppelt hatte, begann wieder zu schrumpfen. Weniger Elche führten zu mehr Gräsern, Sträuchern und Bäumen, die in den Jahren davor sprichwörtlich verputzt worden waren. An den Ufern der Flüsse wuchsen plötzlich Weiden, was den Bibern mehr Material für ihre Dämme gab. Das wiederum schuf neue Lebensräume für Fische, Reptilien und andere Tiere. Was Forscher dort beobachteten war eine trophische Kaskade – in die entgegengesetzte Richtung.
Viele Schlüsselarten gelten heute als gefährdet oder vom Aussterben bedroht. So auch Afrikanische Elefanten. Sie fressen Bäume und Sträucher und schaffen damit in den Savannen Platz für kleinere Pflanzen. Durch sie entstehen Wasserstellen für andere Tiere, mit ihrem Kot verteilen sie Samen. Weil sie das Ökosystem mitgestalten, nennt man diese Art von Schlüsselarten auch Ökoingenieure.
Wilderei und der Verlust von Lebensraum führen Jahr für Jahr zu einem Rückgang des Bestands in Afrika um acht Prozent. Wird dieser Rückgang nicht gestoppt, wären die Auswirkungen nicht nur für die Tierwelt schlimm: Naturschützer warnen vor den Folgen für die kompletten Ökosysteme.
Vor diesem Hintergrund sprechen sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt schon seit Jahren für größeren Schutz der Schlüsselarten aus. So auch Crowder. Damit dieser möglich werde, müsse man jedoch zunächst klar identifizieren, welche Tiere Schlüsselarten sind.
Superwichtig oder unverzichtbar?
Auf die große Frage, welche Tiere nun Schlüsselarten sind, bekommt man in der Wissenschaft verschiedenen Antworten. Die frühe Definition von Paine beispielsweise beschränkte sich auf Raubtiere, die an der Spitze einer Nahrungskette stehen, also Prädatoren. In den Jahrzehnten nach seiner Entdeckung zeigte die Forschung jedoch, dass auch Arten an anderen Stellen der Kette einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Stabilität ihrer Ökosysteme haben können. Bald, erklärt Crowder, begann man, den Begriff breiter zu nutzen: So wurden Elefanten, Biber und sogar Seetang, der einen sicheren Lebensraum für eine Vielzahl von Meerestieren bietet, zu Schlüsselarten ernannt.
Galerie: Diese 50 Tierarten sind in Gefahr
Die Entdeckungen über die Dynamik von Ökosystemen führten zu Debatten über Schlüsselarten an sich. Teilweise wurde der Begriff als „schlecht definiert und zu breit angewandt" bezeichnet. Mitte der 1990er Jahre dann legte eine Gruppe von Forschern in einem Paper die Definition fest, dass die Arten als Schlüsselarten zu betrachten sind, die einen im Verhältnis zur Größe ihrer Population überproportional großen Einfluss auf ein Ökosystem haben. Unter ihnen die sogenannten Ökoingenieure wie Biber und Elefanten.
Trotz der Definition der Forschergruppe in den 90er Jahren besteht bis heute weiterhin Uneinigkeit, wer zu den wichtigsten Tieren des Planeten zählt. Und die Forschung kommt hier immer wieder an ihre Grenzen. Zwar sind alle der Meinung, dass Tiere wie Elefanten, die sogenannten Ökoingenieure, und andere Arten für das Überleben ihrer Ökosysteme entscheidend sind. Doch wie groß ihre Rolle am Ende wirklich ist, lässt sich oft schwer bemessen.
Wer genau wissen will, wie sehr sich das Aussterben (oder Wegbleiben) einer Art auf ein Ökosystem auswirken würde, der muss den Weg gehen, den Paine vor Jahrzehnten wählte: Er muss die Art aus dem Lebensraum entfernen, jedenfalls temporär. Doch dieser Weg ist nicht immer möglich und oft auch ethisch nicht vertretbar. Also müssen Schlüsselarten anhand ihrer Merkmale identifiziert werden: Was essen sie? Welche Lebensräume entstehen durch sie? In welcher Beziehung stehen sie zu anderen Arten?
Auch muss man jedes Mal genau hinschauen, denn Ökosystem ist nicht gleich Ökosystem, und nicht in jedem Lebensraum ist die Bedeutung einzelner Spezies gleich: So ergaben nachfolgende Experimente mit dem violetten Seestern von Paine, dass ihr Verschwinden etwa in geschützteren Küstengebieten mit weniger Muscheln deutlich weniger Veränderungen nach sich zog als in exponierten Küstenökosystemen.
Ob sie nun für alle ihre Lebensräume eine tragende Rolle spielen oder nur für manche – für Forscher Crowder ist das unerheblich: Schlüsselarten müssen weiter erforscht und geschützt werden, sagt er. Natürlich sei das Aussterben jeder Art schlimm, doch das Aussterben einer Schlüsselart sei schlimmer, das hätten die Ergebnisse von Studien der vergangenen Jahrzehnte belegt. Crowder: „Wenn wir die Ökosysteme dieser Erde verstehen und erhalten wollen, müssen wir diese extrem wichtigen Arten unbedingt identifizieren und beschützen.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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