Ikone des Artensterbens: Forscher wollen Wandertaube wiederbeleben

Einst verdunkelten gewaltige Schwärme von Wandertauben den Himmel. Durch Entwaldung und Jagd wurde die Art binnen weniger Jahrzehnte ausgerottet.

Von Carl Zimmer
Veröffentlicht am 18. Nov. 2020, 11:50 MEZ
Wandertaube

Die Wandertaube wurden bis zur Ausrottung gejagt. Martha (oben) war das letzte bekannte Exemplar der Art.

Foto von obb Kendrick, National Geographic Creative, Taxidermic specimen, Smithsonian Institution’s National Museum of Natural History, Washington, D.C.

Am 1. September 1914 starb Martha im Alter von 29 Jahren. Die Wandertaube im Zoo von Cincinnati war das letzte bekannte Exemplar ihrer Art, deren gewaltige Schwärme einst den Himmel über Nordamerika verdunkelten.

Die Menschen, die in den Zoo kamen, um die letzte Wandertaube zu sehen, waren enttäuscht von dem Vogel, der sich kaum von seiner Sitzstange rührte. Wie Joel Greenberg in seinem Buch „A Feathered River Across the Sky“ schreibt, warfen einige Besucher Sand in den Käfig, um die Taube aufzuschrecken. Aber an jenem ersten Septembertag vor über einem Jahrhundert musste Martha solche Demütigungen nicht länger hinnehmen.

Es war ein stilles Ende für eine so lautstarke Art. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts zogen ohrenbetäubend laute Schwärme von Milliarden von Wandertauben über die östliche Hälfte der Vereinigten Staaten. Doch dem Menschen, der die Art mit Hilfe seiner Technologie binnen Jahrzehnten ausrottete, waren sie nicht gewachsen.

Auch andere Arten taumelten in den späten 1800ern ihrem endgültigen Ende entgegen. Aber die Auslöschung der Wandertaube war ein öffentliches Ereignis. „Sie wurde zur Ikone der Ausrottung“, sagt Mark Barrow, Historiker an der Virginia Tech und Autor von „Nature's Ghosts“.

Hundert Jahre später ist die Passagiertaube noch immer eine Ikone –und inspiriert extravagante neue technologische Errungenschaften. Einige Wissenschaftler sprechen sich dafür aus, die Spezies mit Hilfe von gentechnischen und Klonverfahren wiederzubeleben. Andere analysieren Teile ihrer DNA, um ihre verlorene Lebensweise zu rekonstruieren.

Und unabhängig davon, ob die Wandertaube je wieder durch die Lüfte fliegen wird, ist ihre Geschichte eine wichtige Lektion darüber, wie man andere Arten vor dem Verschwinden bewahren kann.

Opfer des technischen Fortschritts

Für frühe Naturforscher war es schwer vorstellbar, dass die Wandertaube jemals aussterben könnte. Sie ahnten nicht, dass eine technologische Revolution im Begriff war, das zu ändern.

„Der Telegraf ermöglichte es, die Nachricht weiterzuleiten: Die Tauben sind hier“, sagt David Blockstein, ein leitender Wissenschaftler im Nationalen Rat für Wissenschaft und Umwelt der USA und einer der Gründer des Project Passenger Pidgeon. Tausende von Jägern sprangen dann in neu gebaute Züge und fuhren an den Ort, an dem sich die Tauben niedergelassen hatten. Dann begann das Massaker.

Die Jäger töteten die Vögel nicht nur, um ihre Familien zu ernähren. Unzählige Tauben wurden in Fässer gestopft, wieder auf die Züge verladen und in weit entfernte Städte geliefert. Dort wurden sie überall verkauft, von Märkten bis hin zu feinen Restaurants. „Die Technologie ermöglichte diesen Markt“, sagt Blockstein.

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    Bald hatte die massenhafte Tötung der Vögel die Art beträchtlich dezimiert. Ihr Rückgang war so besorgniserregend, dass der Kongress das Lacey-Gesetz verabschiedete, eines der ersten Gesetze zum Schutz von Wildtieren in den Vereinigten Staaten. Im Laufe der Zeit sollte es zum Schutz vieler Arten beitragen, aber für die Wandertaube kam es zu spät.

    Im Jahr 1900, als das Gesetz in Kraft trat, entdeckten Naturforscher in Ohio eine einzelne wilde Wandertaube. Es war das letzte Exemplar, das je irgendjemand in freier Wildbahn zu Gesicht bekommen sollte.

    In den nächsten 14 Jahren wurde die Art in einigen wenigen Zoos am Leben gehalten. Aber die Vögel erwiesen sich in Gefangenschaft als schlechte Zuchttiere. Martha, die letzte ihrer Art, war unfruchtbar.

    Wiederauferstehung dank DNA

    Technologie wurde den Wandertauben zum Verhängnis, aber einige Wissenschaftler glaube, dass sie auch der Schlüssel zu ihrer Rückkehr sein könnte. Als Martha starb, wussten Biologen noch nicht einmal, dass Gene in der DNA kodiert sind. Jetzt haben sie die Technologie, um DNA aus präparierten Wandertauben in Museumssammlungen zu extrahieren.

    Im Jahr 2012 startete eine Gruppe von Wissenschaftlern das Projekt Great Passenger Pigeon Comeback. Ziel ist die Schaffung von geklonten Wandertauben – oder zumindest von Vögeln, die gentechnisch so verändert wurden, dass sie Merkmale von Wandertauben aufweisen.

    Acht Jahre später sind die Projektwissenschaftler immer noch fleißig am Werk. Aber sie können nicht sagen, wann – oder ob – dieser Vogel wieder fliegen wird. „Die Wissenschaft bestimmt das Tempo“, erklärte der Projektmitarbeiter Ben Novak von der University of California in Santa Cruz schon 2013.

    Novak und seine Kollegen konnten kein intaktes Wandertauben-Genom aus Museumsexemplaren extrahieren. Deshalb hofften sie auf das Nächstbeste: das Genom einer lebenden Vogelart so umzustrukturieren, dass daraus eine Wandertaube entsteht.

    Die nächsten lebenden Verwandten der Wandertauben sind Schuppenhalstauben, die im Westen der Vereinigten Staaten leben. Die Wissenschaftler des Projekts hoffen, dass ihre DNA-Fragmente der Museumsexemplare einige einzigartige Sequenzen enthalten, die den Charakter und die Merkmale der Wandertauben ausmachen – sei es das charakteristische keilförmige Schwanzgefieder des Vogels, seine rote Brust oder sein hochsoziales Verhalten. Eventuell könnte man auch lebende Vogelarten mit einigen dieser Merkmale untersuchen, um die genetische Grundlage der Merkmale zu bestimmen.

    Sobald die Wissenschaftler ein Genom geschaffen haben, das dem einer Wandertaube ähnlich genug ist, könnten sie diese veränderte DNA in Keimzellen von Schuppenhalstauben-Embryonen einbringen. Die Vögel würden dann heranwachsen, sich paaren und Eier legen. Und aus diesen Eiern sollen Wandertauben schlüpfen – oder zumindest Vögel, die den einstigen Wandertauben sehr ähnlich sind.

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    Aber selbst, wenn die Wissenschaftler irgendwann eine neue Generation von Wandertaubenküken gezüchtet haben sollten: Von einer erfolgreichen Wiederansiedlung der Art werden sie noch weit entfernt sein. Das liegt daran, dass die Naturforscher, die Wandertauben damals in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten konnten, eine Menge offener Fragen zur Lebensweise der Vögel hinterlassen haben.

    Niemand weiß, inwieweit das Sozialverhalten der Vögel angeboren oder erlernt ist. Ebenso unbekannt ist, wie groß eine Population sein muss, um sich selbst zu erhalten, oder welche konkreten Ökosysteme ein geeignetes Habitat wären.

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    Novak und seine Kollegen gehen auch diesen Fragen nach. „Wir sind daran interessiert, herauszufinden, wann die Wandertauben ihre höchsten Bestandzahlen erreicht haben“, sagt er. Wenn sie herausfinden, wie stark die DNA der Wandertauben im Laufe der Zeit bei den einzelnen Individuen variierte, können er und seine Kollegen auf die Größe des Taubenbestands in den letzten paar tausend Jahren schließen. Möglicherweise sind die gewaltigen Schwärme, über die frühe Naturforscher schrieben, ein Höhepunkt in einem langfristigen Zyklus von enormen Populationsschwankungen gewesen.

    Es ist auch möglich, dass es sich bei den Schwärmen um eine beispiellose Bestandsexplosion handelte, die ausgelöst wurde, als die Europäer die amerikanischen Ureinwohner aus dem Lebensraum der Vögel verdrängten. Die Vergangenheit der Taube zu verstehen, könnte Novak und seinen Kollegen helfen, der Art eine Zukunft zu geben.

    Lehren für die Gegenwart

    Doch auch, wenn wir die Wandertaube nie wieder auferstehen lassen, sieht Blockstein in ihrem Verschwinden viele Lehren, die für den Schutz heutiger bedrohter Arten gelten.

    Beispielsweise ist es ein Fehlschluss, dass eine Art mit einer großen Population vor dem Aussterben gefeit ist. „Die Kategorien der gefährdeten Arten basieren eigentlich alle auf Zahlen und nicht auf der Biologie“, erklärt er. Sogar eine Spezies mit Milliarden von Exemplaren kann eine biologische Achillesferse haben, die sie anfällig für menschliche Einflüsse macht.

    Um das wahre Risiko einer Art einschätzen zu können, müssen wir nicht nur ihre Biologie verstehen, sondern auch unsere eigenen technologischen Fortschritte. Im 19. Jahrhundert gehörten Telegrafen und Züge zu den technischen Neuerungen. Heute haben wir globale Ortungssysteme, Mobiltelefone und riesige Fischereischiffe. „Wir haben Fabrikschiffe, die den Ozean leersaugen können“, sagt Blockstein.

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    Vor einigen Jahren hatte er die Gelegenheit, Martha zu treffen. Nachdem sie gestorben war, wurde die Taube in einen 140 Kilogramm schweren Eisblock verpackt und an die Smithsonian Institution geschickt. Dort wurde sie seziert und präpariert. 1999 wurde sie schließlich von der öffentlichen Ausstellung in die Asservatensammlung des Museums verlegt.

    Erst im Sommer 2013 brachten die Kuratoren der Smithsonian Instituts sie erneut für eine neue Ausstellung über die verschwundenen Vögel Nordamerikas ans Licht.

    „Es erfüllt einen mit so viel Ehrfurcht, das letzte Exemplar einer Art zu sehen“, sagt Blockstein. „Aber die Geschichte der Wandertaube ist so viel größer als dieses letzte Individuum, das am Ende sein Leben in einem Käfig verbrachte.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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