Mythos widerlegt: Spechte haben keinen Stoßdämpfer im Kopf

Bislang nahmen Forschende an, die Schädelstruktur eines Spechts federe den Aufprall beim Klopfen ab. Eine neue Studie zeigt: Es gibt andere Gründe, warum die Vögel keine Kopfschmerzen bekommen.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 25. Juli 2022, 10:41 MESZ
Buntspecht an einem Ast.

Klopfen ist sein Leben: Bis zu zwanzigmal pro Sekunde schlägt ein Buntspecht auf der Suche nach Futter oder beim Bau einer Nisthöhle mit seinem Schnabel auf Holz.

Foto von bennytrapp / adobe Stock

Wenn man einem Specht bei seiner Arbeit zusieht, kann man fast selbst Kopfweh bekommen: Beim Bau von Nisthöhlen, der Suche nach Futter oder um Partner anzulocken schlagen die Vögel mit ihrem Schnabel mit einer Geschwindigkeit von rund 25 Kilometer pro Stunde bis zu zwanzigmal pro Sekunde – und um die 12.000-mal am Tag – gegen das Holz von Baumstämmen. Bei jedem Schlag wird der Kopf des Spechts mit dem Tausendfachen der Erdbeschleunigung abgebremst.

Warum Kopf und Gehirn des Vogels bei dieser Arbeit keinen schweren Schaden nehmen, wird bereits seit den Siebzigerjahren erforscht. Eine Studie koreanischer Wissenschaftler lieferte im Jahr 2011 die seitdem geltende Erklärung, dass sich an verschiedenen Stellen des Spechtschädels schwammige Strukturen – sogenannte Spongiosa – befinden, die den Aufprall abfedern. Denselben Effekt soll einer Studie aus dem Jahr 2020 zufolge das bogenförmige Zungenbein der Spechte haben, das ebenfalls einen Teil der Energie des Stoßes aufnimmt. Kurz gesagt: Der Specht bekommt keine Gehirnerschütterung, weil die Anatomie seines Kopfes wie ein stoßdämpfender Helm wirkt.

Stoßdämpfer würde den Specht behindern

Sam Van Wassenbergh, Biologe an der Universität Antwerpen in Belgien, hat diese Erklärung jedoch nun in einer Studie, die in der Zeitschrift Current Biology erschienen ist, widerlegt. Gemeinsam mit seinem Forschungsteam fand er heraus, dass der Schädel des Vogels im Aufbau tatsächlich eher einem steifen Hammer ähnelt – und jegliche Stoßdämpfung für den Specht bei seiner Arbeit sogar eher hinderlich wäre.

Zu diesem Ergebnis kamen die Forschenden durch die Analyse von Hochgeschwindigkeitsvideos, die sie von sechs Spechten drei verschiedener Arten beim Hämmern aufnahmen. Schnabel, Scheitel und die Schädelpartie hinter den Augen wurden zuvor mit farbigen Messpunkten versehen, um die Beschleunigung und den Bremseffekt zu messen, die beim Klopfen auf diese Stellen wirken. Dabei zeigten sich keine Hinweise auf einen stoßdämpfenden Effekt, der untersuchte Schädelbereich blieb bei allen Testspechten steif.

Basierend auf den gemessenen Daten erstellten die Wissenschaftler biomechanische Modelle, durch die sie nachweisen konnten, dass ein Abfedern des Aufpralls beim Klopfen einen aufhebenden Effekt hätte: Laut Van Wassenbergh würde eine stoßdämpfende Wirkung dazu führen, dass der Vogel noch kräftiger hämmern müsste, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen.

Specht ahmt Schlange nach, um sich zu schützen
Wenn der Wendehals bedroht wird, biegt und dreht er seinen Hals.

Kleines, leichtes Gehirn

Trotzdem muss man sich um die Gesundheit der Spechte keine Sorgen machen. „Das Fehlen einer Stoßdämpfung bedeutet nicht, dass ihre Gehirne bei den scheinbar heftigen Stößen in Gefahr sind“, sagt Van Wassenbergh. „Selbst die stärksten Stöße aus den über 100 analysierten Schlägen dürften für die Gehirne der Spechte ungefährlich sein, da unsere Berechnungen eine geringere Belastung des Gehirns ergaben als bei Menschen, die eine Gehirnerschütterung erleiden.“

Grund dafür ist das äußerst kleine und leichte Gehirn des Spechts. Simulationen haben gezeigt, dass es aufgrund seiner geringen Masse nur mit etwa 39 bis 60 Prozent der Kraft gegen die Innenseite des Schädels schlägt wie es unter denselben Umständen beim Menschen der Fall wäre. Um eine Gehirnerschütterung zu erleiden, müssten die Vögel doppelt so stark auf Holz klopfen – oder auf eine viermal so harte Oberfläche. Dazu sind sie jedoch anatomisch gar nicht fähig. Aus evolutionärer Sicht erklärt sich so auch, warum es keine Spechte mit größeren Köpfen oder kräftigerer Nackenmuskulatur gibt, denn diese würden aufgrund der Schäden, die ihr Gehirn durch die gesteigerte Klopfleistung nehmen würde, nicht lange überleben.

Inspiration von falscher Stelle

„Beim Filmen von Spechten in Zoos habe ich mitbekommen, wie Eltern ihren Kindern erklärten, dass Spechte keine Kopfschmerzen bekommen, weil sie einen Stoßdämpfer im Kopf haben“, sagt Van Wassenbergh. „Diesen Mythos der Stoßdämpfung bei Spechten haben wir durch unsere Ergebnisse widerlegt.“

Auch für andere Bereiche dürften die neuen Erkenntnisse relevant sein: Bisher diente die Anatomie des Schädelskeletts der Spechte nämlich als Vorlage für die Entwicklung stoßdämpfender Materialien und Helme. Da sich nun aber gezeigt hat, dass der Schädelaufbau die Stoßdämpfung tatsächlich minimiert, müssen sich Ingenieure in Zukunft wohl nach einer anderen Inspirationsquelle umsehen.

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