Von wegen Spatzenhirn! Wie schlau Vögel wirklich sind

Sie bauen Werkzeuge, erkennen Gesichter und können einfache Rechenaufgaben lösen: In Wirklichkeit sind Vögel nämlich wahre Superhirne.

Von Virginia Morell
bilder von Charlie Hamilton James
Veröffentlicht am 26. Jan. 2018, 10:19 MEZ
In einem österreichischen Forschungsgehege präsentiert der erfindungsreiche Kakadu Figaro ein Instrument, das er zum Heranangeln von ...
In einem österreichischen Forschungsgehege präsentiert der erfindungsreiche Kakadu Figaro ein Instrument, das er zum Heranangeln von Nüssen gefertigt hat – nur eines aus seinem Arsenal.
Foto von Charlie Hamilton James

Krähen lieben Gabi Mann. So sehr, dass sie ihr immer wieder Geschenke machen. In einem Schmuckkästchen sammelt sie, was die Vögel ihr bringen: eine goldene Perle, Schrauben, einen Ohrring. Einen Legostein, bunte Glasscherben, ein Stück Quarz, einen Hühnerknochen, einen Kieselstein. Jedes Stück hat die Achtjährige aus Seattle wie ein seltenes Artefakt datiert und geordnet.

Bringen die Krähen dem Mädchen Geschenke, weil es nett zu ihnen ist? Sind Krähen, sind Vögel im Allgemeinen zu solchen scheinbar menschlichen Entscheidungen fähig? Wissenschaftler, die sich mit Corviden wie Krähen und Raben beschäftigen, bejahen das. Die Mitglieder dieser Singvogelfamilie, zu der auch Häher, Saatkrähen und Elstern gehören, weisen Ähnlichkeiten mit Menschen und anderen Primaten auf – was sie für Forscher interessant macht, die nach dem Ursprung unserer Intelligenz suchen. „Vögel haben einen anderen evolutionären Weg genommen als Säugetiere, aber offenbar ähnliche kognitive Lösungen entwickelt“, sagt der Kognitionsbiologe Nathan Emery von der Queen Mary University in London. Sie böten eine seltene Gelegenheit: „Man kann an ihnen evolutionäre Bedingungen erforschen, aus denen bestimmte geistige Fähigkeiten hervorgegangen sind.“ 

Gabi Mann freundete sich mit den Krähen in ihrer Nachbarschaft an. Sie fütterte sie mit Nüssen und Hundefutter – die Vögel brachten ihr diese Schätze.
Foto von Charlie Hamilton James

Dabei hätten bis Anfang des Jahrtausends die meisten Wissenschaftler bei dieser Vorstellung die Augenbrauen hochgezogen: eine Krähe, die großzügig ist? Wie alle Vögel und die meisten Säugetiere galten Krähen als planungsunfähig und nur zu instinktiven Reaktionen fähig. Vögel, so glaubte man, besäßen die redensartlich dummen „Spatzenhirne“ – das dachte man schon, bevor um 1900 der Wissenschaftler Ludwig Edinger die Anatomie ihres Gehirns falsch deutete: Er war überzeugt, dass Vögeln der Neocortex fehlte. Bei Säugetieren ist dieser Bereich fürs Denken zuständig. Hier sind höhere kognitive Funktionen – Arbeitsgedächtnis, Planung und Problemlösung – angesiedelt.

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    Trotz dieses vermuteten geistigen Mangels setzten Tierpsychologen im 20. Jahrhundert Vögel in der Kognitionsforschung ein. Besonders beliebt waren Haustauben, Kanarienvögel und Zebrafinken. Es stellte sich heraus, dass Tauben über ein beeindruckendes Gedächtnis verfügen. Sie können menschliche Gesichter und Gesichtsausdrücke, Buchstaben und sogar Gemälde von Monet und Picasso mit fast unheimlicher Präzision auseinanderhalten. Auch Kiefernhähern, Buschhähern und Schwarzkopfmeisen wies man ungewöhnliches Erinnerungsvermögen nach. Kiefernhäher sammeln im Herbst über 30.000 Kiefernsamen und verteilen sie auf mehrere Tausend winzige Vorratslager – die müssen sie im Winter alle noch kennen. In den Fünfzigerjahren untersuchten Wissenschaftler erstmals, wie Kanarienvögel, Spatzen, Zebrafinken und andere Singvögel ihre Lieder lernen. Sie entdeckten auffallende Gemeinsamkeiten zwischen dem Vogelgesang und der menschlichen Sprache.

    Seitdem beweisen mehr und mehr Studien, ob im Labor oder im Feld, die wahre Intelligenz von Vögeln: Die kleinen Japanmeisen warnen ihre Artgenossen mit ihrem schrillen „pi­pi“ vor Raubtieren. Sie verfügen außerdem über eine Art Grammatik mit Satzbauregeln. Damit können sie „pi“­-Laute mit „di­di­di“-Tönen kombinieren und so den Schwarm zur Abwehr von Räubern zusammenrufen. Die südamerikanischen Grünbürzel­-Sperlingspapageien haben besondere Rufe für einzelne Artgenossen: Offenbar geben die Eltern jedem Küken einen eigenen Namen, ganz wie es Menschen mit ihren Kindern tun.

    Auf Neuguinea umwerben männliche Palmkakadus die Weibchen nicht nur mit Lauten: Sie fertigen Schlagstöcke aus Zweigen und Samenkapseln an und vollführen damit rhythmische Trommelsoli auf hohlen Baumstämmen – das erste Tier, von dem man weiß, dass es Musikinstrumente anfertigt. 

    Als „gefiederte Menschenaffen“ gelten Vögel heute, insbesondere Corviden und Papageien, sagt Biologe Emery aus London. Ursprünglich war er mal Primatologe; den Begriff prägte er in einem gemeinsamen Aufsatz mit seiner Frau Nicola Clayton. Dafür hatten die beiden Buschhäher studiert. Ihre Untersuchung zeigte, dass diese Vögel gehortete Nüsse nicht instinktiv vor spionierenden Artgenossen verstecken – sie tun das erst, nachdem sie selbst Nüsse von anderen Buschhähern gestohlen haben. „Der eigene Diebstahl verändert ihre Perspektive“, erklärt Emery. „Nach dem Motto: Ein Dieb erkennt den anderen.“ Die Studie deutet darauf hin, dass Häher das Denken und Planen eines anderen Vogels verstehen – eine Form von Verstand, die sich bei anderen Tieren nur schwer untersuchen und nachweisen lässt.

    Rabenvögel haben noch etwas anderes mit Primaten gemein und damit mit uns Menschen: Im Verhältnis zum Körper verfügen sie über große Gehirne (auch wenn das allein kein Maßstab für Intelligenz ist). Bei Raben zum Beispiel ist das Verhältnis zwischen Körpermasse und Hirngröße gar nicht so weit entfernt von dem beim Menschen. Diese Relation ist noch beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die Tiere fliegen müssen: „Deshalb sind sie so leicht wie möglich, ihre Knochen sind hohl“, erklärt Alex Taylor, Evolutionsbiologe an der University of Auckland. „Und trotzdem besitzen sie große Gehirne. Das macht es noch bemerkenswerter als bei Säugetieren.“ Das begrenzte Volumen der Vogelgehirne ist besonders gut genutzt, indem sie eng mit Neuronen bepackt sind: Neuere Studien zeigen, dass die Neuronendichte bei Raben- und anderen Singvögeln sowie Papageien die von Säugetierhirnen bei Weitem übertrifft. 

    Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 2/2018 des National Geographic Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

     

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