Kulturgut oder Tierquälerei: Sind Pferdekutschen noch zeitgemäß?

Während Tierschutzverbände von Qual sprechen, verweisen Freunde der Kutschfahrt auf ihre Tradition. Nun verbieten immer mehr Städte die Fahrten der Gespanne – zu Recht?

Von Marina Weishaupt
Veröffentlicht am 7. Dez. 2022, 10:16 MEZ
Langes Warten, kein Schatten, Stress, Lärm und Gefahren im Straßenverkehr: Weltweit kritisieren Tierschützer die unzureichenden Maßstäbe ...

Langes Warten, kein Schatten, Stress, Lärm und Gefahren im Straßenverkehr: Weltweit kritisieren Tierschützer die unzureichenden Maßstäbe für das Tierwohl von Kutschpferden.

Foto von Delphotostock / Adobe Stock

Inhalt

Ob in New York, Berlin oder Wien – traditionelle Pferdekutschen locken Touristen zur Fahrt durch die hektischen Straßen der Metropolen. Vor hunderten von Jahren war diese Art der Fortbewegung noch gang und gäbe. Heute soll eine Kutschfahrt Emotionen wecken, in die Vergangenheit versetzen, entschleunigen. Doch passt dieses Erbe der Mobilität noch in die heutige Zeit? 

Eine bröckelnde Tradition

Denn während die Kutschen für die einen Kulturgut sind, kämpfen die anderen für ein Verbot. Immer wieder wurden in den vergangenen Jahren rechtliche und politische Debatten angestoßen, Petitionen für Verbote erhielten zehntausende Unterschriften. Im Zeitalter des Smartphones gehen vermehrt  unschöne Bilder viral: Aufnahmen von kollabierenden Pferden sind keine Seltenheit. Tierschützer kritisieren die oftmals zu langen Arbeits- und Wartezeiten für die Pferde. So etwa die Tierschutzorganisation Vier Pfoten: „Stillstehen für Stunden und Monotonie können Verhaltensstörungen auslösen.“ 

Zudem werden Faktoren wie Stress, unzureichende Pausen, fehlender Grünauslauf oder die erhöhte Unfallgefahr durch rutschige Straßen bei Witterung aufgeführt. Die Liste an Problemen, die es laut diversen Tierschutzorganisationen gibt, ist lang. Eines, das zuletzt immer wieder von den Medien aufgegriffen wurde, ist die Hitze, die mit zunehmenden Dürresommern einhergeht. Laut dem Deutschen Tierschutzbund, der Kutschfahrten in Städten grundsätzlich ablehnt, sind gewerbliche Kutschfahrten bei erhöhten Temperaturen anders zu beurteilen. 

„Die thermoneutrale Zone der Pferde liegt durchschnittlich bei circa fünf bis 25 Grad“, sagt Andrea Mihali, Pferdeexpertin des Deutschen Tierschutzbundes. „Das bedeutet, dass Pferde innerhalb dieses Temperaturintervalls ihre Körperinnentemperatur ohne Anstrengung konstant halten können.“ Übersteigt die Temperatur in Innenstädten diese 25 Grad, müssten die Tiere zusätzliche körperliche Anstrengungen aufwenden und ihren Kreislauf belasten.

Besuch bei den Przewalskis
Nach einem Wintersturm muss eine Herde Przewalski-Pferde unter der Schneedecke nach Futter suchen – und als wäre das nicht genug, versucht auch noch der Hengst der Nachbarherde sein Glück bei den Stuten.

Anna Ehrle, Fachtierärztin der Pferdeklinik an der Freien Universität zu Berlin, bestätigt das. Allerdings führt sie auch an, dass es sich bei Pferden um Steppentiere handelt: „Dass sie mit Hitze grundsätzlich nicht klarkommen würden, ist nicht der Fall. Nichtsdestotrotz kann es sein, dass ein Pferd, dem in der Sonne eine hohe Leistung abgefragt wird, Probleme mit seiner Thermoregulation bekommen kann.“ 

Tierwohl – ein scheinbar dehnbarer Begriff

Das Traditionsunternehmen Paul aus Wien hält vielen Punkten der Tierschützer entgegen. Seit 50 Jahren besitzt es die Lizenz für Rundfahrten auf dem Gelände des Schloss Schönbrunn. Laut Chefin Silvia Paul prägen die Wiener Fiaker – die über hundert Jahre alten Kutschen mitsamt ihren gleichnamigen Fahrern – auch heute noch das Stadtbild. Sie seien Repräsentanten der vielschichtigen Wiener Kultur. „Die historischen Wägen sowie das traditionelle Erscheinungsbild der Kutscher sind immer noch ein wichtiger Faktor für die touristische Visitenkarte und DNA der Stadt“, sagt sie. Fahrten entlang der bekanntesten Sehenswürdigkeiten werden für rund hundert Euro pro Stunde und Kutsche angeboten.

Die heißen Temperaturen würden den Tieren nichts ausmachen, sagt sie und verweist auf eine Studie der VetMed Uni Wien aus dem Jahr 2008. Diese hat verschiedene Kutschbetriebe untersucht und bestätigt Pauls Aussage. Allerdings führen die Forschenden im selben Bericht auch Beobachtungen auf, die Pferdefreunde stutzig werden lassen. So heißt es, dass die Tiere den Untersuchungen zufolge im Durchschnitt lediglich zweimal am Tag an ihren Standplätzen getränkt wurden – bei Temperaturen von unter 25 Grad gar nicht. 

Auch bei der Fütterung und im Umgang mit den Tieren fielen den Forschenden Missstände auf: Zwischen der morgendlichen und abendlichen Fütterung in den Stallungen hätten die Tiere über zehn Stunden hinweg keine Futterration während ihres Arbeitseinsatzes bekommen. Zudem wurden den Fiakerfahrern Schulungen zur angemessenen Reaktion auf das Verhalten der Tiere angeraten – eine Antwort auf ihren Einsatz der Peitsche.

BELIEBT

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    Zwei Pferde in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

    Unfälle bei Kutschfahrten

    Bei den Kutschfahrten kommt es in regelmäßigen Abständen zu Unfällen. Tierschutzorganisationen wie Vier Pfoten oder Peta führen dazu seit Jahren Listen. Nicht selten werden neben den Zugtieren auch ihre Kutscher und Kutscherinnen, Mitfahrende oder gar unbeteiligte Passanten zum Teil schwer verletzt. Im vergangenen Jahr gingen zwei Unfälle für Fiakerpferde in Wien tödlich aus, mindestens ein Kutschpferd starb in Deutschland. 

    Prinzipiell ist für das Ziehen von Kutschen eine gewisse Gelassenheit der Tiere erforderlich. „Kutschpferde werden anhand ihrer Charaktereigenschaften ausgesucht und daraufhin speziell geschult. Das müssen Tiere sein, die grundsätzlich ein ruhiges Gemüt und ein starkes Nervenkostüm haben“, erklärt Tierärztin Ehrle. Wenn selbst gut geschulte Kutschpferde kurzzeitig ihr ruhiges Gemüt verlieren, liege das häufig nicht an ihnen selbst. Oft seien andere Verkehrsteilnehmer schuld: Hektische oder rücksichtslose Überholmanöver lösen häufig die Unfälle aus. 

    Vorbild Berlin: Kutschenverbot ab 30 Grad

    In der deutschen Hauptstadt wurden nach ähnlichen Zwischenfällen zunächst neue Leitlinien für Kutschenfahrten erlassen, deren Nichteinhaltung mit einem Bußgeld kontrolliert wird. Mittlerweile wurden die Fahrten auf dem touristischen Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor generell verboten – bei Temperaturen von über 30 Grad Celsius dürfen auch in den restlichen Teilen der Stadt keine Fahrten mehr durchgeführt werden. Zudem wurde das Regelwerk zum Schutz vonTier und Mensch vor Unfällen um einen wichtigen Punkt ergänzt: Jedes Gespann muss – zusätzlich zur kutschführenden Person – von einer Person mit Pferdeerfahrung begleitet werden. 

    Andere Bundesländer wie Hamburg, Schleswig-Holstein und Thüringen richten sich nach den strikten Auflagen des Niedersächsischen Kutschenerlasses. „Dieser kann zur Auslegung tierschutzrechtlicher Normen herangezogen werden. Es wäre allerdings wünschenswert, dass ein solcher Erlass bundesweit gleich gelten würde“, sagt Andrea Mihali. In einem weiteren Schritt sei es wichtig, die Einhaltung der Vorgaben zu kontrollieren und Verstöße entsprechend zu sanktionieren, um die Bedingungen für die Tiere zu verbessern.

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    Mit elektrischen Kutschen zurück in die Zukunft 

    Immer mehr Städte sprechen sich mittlerweile gegen kommerzielle Kutschfahrten mit Pferden oder sonstigen Zugtieren aus, so etwa Rom. Auch New York und Palma de Mallorca kündigten an, Kutschfahrten ab 2024 zu verbieten. Laut Sergio García-Torres, dem spanischen Staatssekretär für Tierschutz, seien die Arbeitsplätze der Betreiber nicht in Gefahr: Die Regierung finanziere den Umstieg auf elektronische Kutschen vollständig. 

    In Dresden sind derartige Wagen ohne Hufgeklapper bereits Alltag. Hier betreibt das Unternehmen Stratos seit mehr als zehn Jahren seine Dresdner Droschken. Nach mehrjähriger Entwicklung und liebevoller Handarbeit konnten diese für den Straßenverkehr zugelassen werden. Geschäftsführer Johannes-Hermann Jumpertz ging damit einen Schritt zurück in die Zukunft. Vorbild für die neuen, historisch anmutenden Vehikel waren die ersten Automobile.   

    Das Angebot kommt gut an – sowohl bei Touristen als auch bei Einheimischen. So gut, dass es 2016 sogar nach Berlin ausgeweitet wurde. Die Fahrten mit den pferdelosen Kutschen förderten auch immer wieder das Bewusstsein für das Tierwohl. „Wir möchten ja kein schlechtes Gewissen haben“ ist ein Satz, der laut Jumpertz bei der Reservierung seiner Fahrten immer öfter fällt.

    Eine wichtige Frage, die jedoch bei der elektronischen Umstellung aufkommt, ist: Wohin mit all den Pferden? Käme es zu einem allgemeinen Verbot der Kutschfahrten, müsste man sich diese Frage stellen. Gnadenhöfe seien laut Silvia Paul nicht in der Lage, diese große Zahl an Tieren aufzunehmen. Ein langsames Auslaufen der Kutschfahrten würde die Standards der Pferdehaltung gefährden. Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die aktiven Pferde die Pension für die älteren Tiere erwirtschaften.

    “Im Falle einer Abschaffung müsste man sich ernsthafte Gedanken machen, wo 300 gut trainierte Pferde unterkommen und wer für deren Unterbringung aufkommt, wenn dahinter keine Betriebe stehen, die auch eine wirtschaftliche Leistung bringen.”

    von Silvia Paul

    Die Kutsche und ihre bewegte Geschichte

    Es würde außerdem das Ende einer Jahrtausende alten Tradition bedeuten: Bevor die Menschen auf Pferden ritten, ließen sie sich von ihnen ziehen, heißt es. Wo genau der Ursprung der Kombination aus Zugtier und Wagen liegt, lässt sich zwar nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht aber, dass derartige Gespanne bereits um 3.000 v. Chr. von den Sumerern in der Region Mesopotamien eingesetzt wurden. Im Alten Ägypten wurden sie sowohl in der Landwirtschaft als auch in Kriegen genutzt. Und auch die Römer verkehrten mit Gefährten, die von Pferden gezogen wurden. Wie viele andere fortschrittliche Technik, gingen mit der Antike allerdings auch ihre gefederten Reisewagen unter. 

    Viele Jahrhunderte später wurden diese antiken Fahrzeuge wiederbelebt: Ungarische Wagenbauer hatten die Kutsche inklusive Federung sozusagen erneut erfunden. Die Erbauung der ersten kocsi in der namensgebenden Gemeinde Kocs ist auf das Jahr 1469 datiert. 

    Nur 200 Jahre später wurde in der Pariser Rue Saint Fiacre wohl erstmals ein Standplatz für Lohnkutschen eingerichtet. Hier warteten die Kutscher auf Kundschaft – ein Konzept, das als Wiege der gelegentlichen Personenbeförderung gilt. 

    Im Jahr 1693 wurden in Wien erstmals die Fiaker urkundlich erwähnt. Damals war das Gewerbe zum Transport von Personen mit gesetzlich geregelten Tarifen – vergleichbar mit heutigen Taxis – weltweit einzigartig. Bis ins späte 19. Jahrhundert war die Kutsche ein gängiges Verkehrsmittel. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde allerdings das Schienennetz allmählich zur schnelleren und günstigeren Alternative.

    Das Ende des Ersten Weltkriegs und die ersten Automobile leiteten schließlich den Niedergang der jahrhundertealten Tradition der Postkutschen ein. Fahrten mit dem einstigen Hauptverkehrsmittel wurden nur noch zum reinen Vergnügen unternommen, beispielsweise in Wien. 

    Was darf der Mensch, wo sind die Grenzen?

    Tierärztin Ehrle will sich aus tierärztlicher Sicht nicht per se gegen den Einsatz von Pferdekutschen aussprechen. Es komme auf das richtige Maß an – gerade in den Sommermonaten. Dazu gehören ihr zufolge vor allem regelmäßige Trink- und Futterpausen im Schatten. Zudem sollte den Tieren während ihrer vom Tierschutzgesetz vorgesehenen achtstündigen Ruhezeit ein Ausgleich von Stress und Lärm auf einer ruhigen Weide ermöglicht werden. 

    Andrea Mihali vom Tierschutzbund bekräftigt den Grundsatz, dass Pferde in allen eingesetzten Bereichen als gleichberechtigte Partner und nicht als Sportgerät, Werkzeug oder gar als Motor angesehen werden sollten. Die Bedürfnisse der Tiere müssten in den Mittelpunkt gerückt werden, nicht der Profit: „Wenn wir schon von den Tieren profitieren, sollen zumindest ihr Schutz und ihre Gesundheit das Arbeitsniveau bestimmen.“ Dabei sollten sich die Leistungen am Tier und seiner individuellen (Tages-)Verfassung orientieren – nicht andersherum. 

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