Invasion auf vier Pfoten: Wie Kassel zur Hauptstadt der Waschbären wurde

In Kassel leben laut Schätzungen über 100 Waschbären auf 100 Hektar – 25-mal mehr als anderswo in Europa. Die einen feiern sie als inoffizielles Wappentier der Stadt, die anderen bekämpfen sie als Plage. Über die Geschichte eines tierischen Neubürgers.

In Nordhessen wurden vor 90 Jahren vier Waschbären ausgesetzt. Sie vermehrten sich prächtig – und ihre Nachfahren zogen nach und nach die Eder und Fulda entlang, bis in die nächste Stadt: Kassel. 

Foto von Jan Piecha
Von Nina Piatscheck
Veröffentlicht am 24. Apr. 2024, 13:45 MESZ

Eigentlich hätte er sich ja ein kleines Fest verdient: Der Waschbär (Procyon lotor)​​ feiert in diesem April 90 Jahre Überleben in der deutschen Wildnis. Bereits in den 1920er Jahren waren die Tiere zur Pelzzucht ins Land eingeführt worden – zunächst lebten sie jedoch ausschließlich hinter Gittern. Bis ein Forstamt in Nordhessen entschloss, dass die eigentlich auf dem nordamerikanischen Kontinent heimischen Kleinbären zukünftig die deutsche Fauna bereichern sollten.

Ihre Ankunft in der Freiheit am Ufer des Edersees am 12. April 1934 wurde damals mit Tamtam begleitet, liest man in Berichten: Anlässlich der Auswilderung zweier Paare soll es Blasmusik, eine feierliche Rede und Wehrmachtssoldaten im Spalier gegeben haben. Ausgesetzt wurden die vier Waschbären von einem Forstmeister, er hatte sie von einem Pelztierzüchter geschenkt bekommen. Was in den darauffolgenden Jahrzehnten passierte, kann man als erfolgreiche Eingliederung beschreiben, oder als Invasion: Die Tiere vermehrten sich hervorragend, sodass der Waschbär heute in Deutschland fast flächendeckend als etabliert gilt. Allen voran: in Kassel. 

Europas unfreiwillige Waschbären-Metropole 

Mit ihrer Waschbärdichte trägt die nordhessische Stadt heute den Beinamen „Europas Hauptstadt der Waschbären”. Während in den meisten Gegenden in Deutschland maximal vier Tiere pro Hektar leben, sind es hier Schätzungen zufolge über 100. Man sieht ihre schlammigen Tapser auf dem Asphalt und auf Mülltonnen, Bilder von Waschbären auf Kühlschrankmagneten und Postkarten für Touristen, Waschbären als Motive für Graffitis und als Foto auf Werbeplakaten für lokale Unternehmen. Kurzum: Der Waschbär ist überall.

„Es ist aber nicht so, dass man in die Stadt kommt und direkt in einen Waschbären läuft“, sagt Fotograf Jan Piecha. Der 33-Jährige weiß, wovon er redet: Gemeinsam mit Dominik Janoschka, 27, hat er in den vergangenen sechs Jahren über 100 Abende mit der Jagd auf die Tiere verbracht – mit Kameras, nicht etwa Fallen. „Wir wollten die Waschbären-Situation in Kassel so umfassend wie möglich dokumentieren.“

Galerie: Bilder der Waschbären in Kassel

Und so wurden sie zu Experten, was die urbane Waschbären-Population betrifft. „Die besten Chancen, einen zu sehen, hat man auf jeden Fall in der Südstadt“, sagt Janoschka, der neben seiner Fotografie an der Uni Kassel arbeitet. Aber auch hier brauche man Geduld und Ausdauer. „Wir waren nächtelang draußen, und das ging nur gemeinsam. Alleine wäre die Motivation sicher schnell weg gewesen“, sagt Piecha, der Umweltplanung studiert hat und heute für den NABU tätig ist.

Fotomodelle ohne Scheu

Aufgespürt haben die zwei Fotografen die Tiere, indem sie nach Spuren suchten, ihre Verhaltensweisen kennenlernten und ihr Equipment immer weiter ausbauten. Mit einer Wärmebildkamera entdeckten sie bewohnte Baumhöhlen, wo die nachtaktiven Tiere tagsüber ruhen. Waschbären beim Fressen, beim Klettern, Schwimmen oder Säugen ihrer Jungen – Janoschka und Piecha haben Bildern von allen Lebenssituationen eingefangen. Große Tarnung brauchten sie für ihr Projekt nicht. Im Gegenteil: „Einmal ist eine Mutter einfach über mich geklettert, um zu ihren Jungen hinter einem Auto zu kommen“, sagt Janoschka. Einige ihrer Fotos mittlerweile renommiert Preise gewonnen, vom Comedy Wildlife Award bis zum Europäischen Naturfotografen des Jahres. Menschen lieben Waschbären. Die meisten jedenfalls. 

Denn auch kaputte Dächer, zerstörte Dämmungen und ramponierte Garagen sind Teil der Geschichte. Über ihren Kot können die Tiere außerdem Parasiten übertragen, auf Haustiere und auch auf Menschen.

BELIEBT

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    Der Waschbär ist in Kassel zum inoffiziellen Wappentier geworden. Sein Bild schmückt Kühlschrankmagneten für Touristen genauso wie Werbeplakate lokaler Unternehmen.

    Foto von Dominik Janoschka

    Die Schäden, die Waschbären verursachen, belaufen sich nicht selten auf fünf- bis sechsstellige Eurobeträge, sagt Alexander Knauf. Der 34-Jährige ist seit 2022 selbstständiger Waschbärjäger. Seitdem klingelt sein Telefon, wenn die Tiere in Häuser in Kassel eindringen und Schäden anrichten. „Je mehr Zeit sie bekommen, desto schlimmer wird es“, sagt er. „Wenn man die Tiere einfach gewähren lässt, kann man die Häuser irgendwann abreißen.” 

    Waschbären sind keine Einzelgänger, sondern leben oft in Gruppen: Mütter mit ihren Jungen, oder Zusammenschlüssen von Fähen oder Rüden. „Teilweise sind das kleine Clans”, sagt Knauf. In einem Restaurant hat er im vergangenen Jahr 25 Tiere gefangen. 

    Zerstörte Museumshallen und Konflikte mit Menschen

    Jan Piecha und Dominik Janoschka waren mehrere Male mit Alexander Knauf unterwegs und haben Waschbärschäden fotografiert: in öffentlichen Institutionen wie der Kasseler Theater Komödie und im Technik-Museum, aber auch auf privaten Dachböden. Waschbären sind geschickte Kletterer. An Regenrinnen schaffen sie es auch auf die Dächer von fünfstöckigen Häusern. Oben angekommen, heben sie mit ihren Pfoten Dachziegel an oder suchen andere Einstiegsmöglichkeiten. So verschaffen sie sich Zugang, zerstören teilweise die Dämmung und machen es sich gemütlich. 

    „In den vergangenen Jahren haben sich immer wieder ein oder mehrere Waschbären Zugang in unsere Museumshallen verschafft“, sagt Katharina Armbrecht vom Technik-Museum. Sie hätten Mülleimer, Schränke und Kühlschränke durchwühlt, zudem Schäden an den Modelleisenbahnanlagen verursacht, „was in mühseliger Handarbeit wieder aufgebaut werden musste.“ Heute werden Mülleimer bei Dienstschluss geleert und Lebensmittel außerhalb des Museums aufbewahrt, alle möglichen Einstiegslöcher am Gebäude wurden verschlossen. Seit einem Jahr ist deswegen Ruhe. 

    Die Stadt Kassel selbst hat viele Tipps parat, wie man sich die Tiere aus Haus und Garten hält: Keine Lebensmittel auf den Kompost werfen, zum Beispiel. Oder Fallobst im Garten direkt aufsammeln und Haustiere nicht draußen füttern – beides ist ein sprichwörtlich gefundenes Fressen für Waschbären. Für die Mülltonnen gibt es Schwerkraftschlösser von der Stadtreinigung.

    Die Tiere sind nicht nur mutig und überdurchschnittlich geschickt mit ihren Pfoten, sondern auch ziemlich lernfähig. In den vergangenen Jahren haben sie sich an das Leben in der Stadt angepasst. So schaffen es Waschbären in den USA auch Gurte zu öffnen, mit denen Tonnen verschlossen sind, umklettern Zäune und öffnen Riegel. Die Neurowissenschaftlerin Kelly Lambert von der University of Richmond fand heraus, dass Gehirne von Waschbären dem Primatengehirn so ähnlich sind wie kein anderes: Sie verfügen über eine größere Zahl an spezialisierten Nervenzellen im Hippocamus, einer Hirnstruktur, die vor allem an der Gedächtnisbildung beteiligt ist.

    Der Mythos „Killer-Waschbär”

    Über Sachschäden hinaus kann es auch vorkommen, dass die Waschbären Menschen anfauchen oder sogar beißen, sagt Knauf. In den Medien kam es durch Angriffe von Einzeltieren in Kassel mittlerweile zu Schlagzeilen wie „Killer-Waschbär beißt zu“. „Sie entwickeln schnell territoriales Verhalten und verteidigen dann ‚ihr‘ Revier“, sagt Alexander Knauf. Neulich sei ein Kind angegriffen worden – passiert sei zum Glück nichts. 

    Eine extrem ungewöhnliche Situation, sagt Piecha, der viel Zeit seines Lebens mit den Tieren verbracht hat. Solange man die Tiere nicht in die Enge drängt oder ihnen den Fluchtweg versperrt, gehen die Waschbären einem Konflikt eher aus dem Weg und flüchten. An einigen Stellen der Stadt könne es vorkommen, dass sie auf Menschen zukommen, da sie sich etwas Fressbares erhoffen. „Bleibt man ruhig stehen, inspizieren sie einen nur kurz und ziehen dann meist schnell weiter.” Von Füttern oder gar Anfassen der Tiere rät er jedoch ab.

    Links: Oben:

    Auf Dachböden finden Waschbären trockene Schlafplätze. Bei Hausbesitzer*innen sind die neuen Mitbewohner jedoch selten willkommen. Oft wird dann Alexander Knauf angerufen – er fängt die Tiere mit Fallen wie diesen ein. 

    Foto von Jan Piecha
    Rechts: Unten:

    Auch in der Kasseler Komödie zog ein Waschbär ein. Für das kleine Theater ein teurer Gast: eine komplette Decke durchbrach.

    Foto von Dominik Janoschka

    Jagd auf den Problem-Waschbär

    Jäger Alexander Knauf hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen vor dem Waschbär zu schützen, wie er sagt. Er holt die Tiere zunächst mit Lebendfallen aus den Häusern und erlegt sie danach. Erlaubt ist die Jagd auf Waschbären in Hessen seit 1954, heute dürfen sie in fast ganz Deutschland entnommen werden. 

    Nach Angaben des Landesjagdverbands wurden im vergangenen Jagdjahr rund 30.000 Tiere in Hessen erlegt, in Deutschland waren es laut DJV rund 200.000 Tiere. Rund 150 davon gehen auf das Konto von Alexander Knauf. 

    Die Tiere werden allerdings nicht hauptsächlich wegen Sachschäden und Menschenangriffe bejagt, sondern vor allem, weil sie laut Studien eine Gefahr für die hiesige Fauna darstellen. 2016 benannte die EU die Tiere als invasive Art. Im vergangenen Herbst wurde im Rahmen des Wildtierforschungsprojektes Verbundprojektes ZOWIAC (Zoonotische und wildtierökologische Auswirkungen invasiver Carnivoren) eine Studie zu den Auswirkungen von Waschbären auf bedrohte Amphibien- und Reptilienarten veröffentlicht. Fazit: Einige Arten sind durch Waschbären durchaus bedroht, darunter Grasfrösche, Erdkröten, Gelbbauchunken, Wechselkröten und Feuersalamander. 

    Piecha und Janoschka kennen die Studien – sie müssten jedoch fachlich richtig eingeordnet werden, sagen sie. „Wir machen es uns relativ leicht, indem wir die Waschbären alleine für den Rückgang vieler Arten verantwortlich machen“, so Piecha. „In erster Linie machen wir Menschen es den Amphibien und anderen Arten schwer, weil wir ihre Lebensräume zerstören. In intakten Ökosystemen wäre der Einfluss der Waschbären nicht ganz so groß. Aber in unseren degradierten Lebensräumen ist es vielleicht mancherorts der Gnadenstoß.“

    Von Waschbär-Wurst und friedlicher Koexistenz

    Was aber machen mit all den Tieren, die sich immer weiter vermehren? „Sicher ist: Aus den Häusern müssen sie raus”, sagt Knauf. Ganz sinnlos sollen die Tiere jedoch nicht sterben. So verarbeitet er die Felle der Tiere, und seit neuestem auch ihr Fleisch. Wurst aus Waschbärfleisch ist nicht dabei neu. In Sachsen-Anhalt verkauft ein Wildtierfleischer im Jerichower Land seit 2022 Waschbärbuletten, Rostbratwürste und Salami und hat damit nicht nur seine Kundschaft erreicht: Zahlreichen Zeitungen und Fernsehformate berichteten über seine ungewöhnliche Ware.

    Was für viele Menschen absurd klingt, war in der Heimat der Waschbären, dem amerikanischen Kontinent, früher lange normal: Das Fleisch der Tiere stand vor allem bei indigenen Völkern auf dem Speiseplan. Im 20. Jahrhundert wurde es jedoch immer unpopulärer, das Fleisch zu essen – vor allem, weil Waschbären eben so süß aussehen. 

    Auch in Kassel dürfte die Waschbär-Wurst eher eine Randerscheinung bleiben: Die Mehrheit der Menschen in der Stadt mag Waschbären am liebsten lebendig, das ergab eine Umfrage von Janoschka und Piecha in ihrer Ausstellung Hauptstadt der Waschbären in diesem Frühjahr an der Uni Kassel. Mit den nötigen Vorkehrungen könne eine friedliche Koexistenz gelingen, denken die beiden: mit Maßnahmen, damit die Tiere nicht in die Häuser kommen. „Ganz verschwinden werden die Tiere nicht mehr aus unserer Stadt”, sind Piecha und Janoschka sicher. „Wir hoffen, dass ein Weg gefunden wird, der für Tier und Mensch gut ist.”

    Waschbär
    • Name: Waschbär
    • Wissenschaftlicher Name: Procyon lotor
    • Klasse: Säugetiere
    • Durchschnittliche Lebenserwartung in Gefangenschaft: über 20 Jahre
    • Durchschnittliche Lebenserwartung in freier Wildbahn: 2 bis 3 Jahre
    • Größe: 50 bis 95 cm
    • Gewicht: 1,8 bis 10 Kilo
    • Größe im Vergleich zu einem 1,80 Meter großen Menschen: Größe im Vergleich zu einem 1,80 Meter großen Menschen

    Themenmonat im April: our HOME auf National Geographic

    Wir haben nur eine Erde. Zeit, unser Zuhause wertzuschätzen und noch mehr zu schützen: Unter dem Motto our HOME stellt National Geographic zum Earth Month im April 2024 besondere Geschichten und Projekte aus Deutschland vor – rund um Naturschutz sowie kulturelles Erbe und biologische Vielfalt. Weitere spannende Einblicke gibt es hier.

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