Ein Quadratmeter Wald

Ein ganzes Jahr lang beobachtete der amerikanische Ökologe David G. Haskell das Leben auf einem kleinen Flecken Natur – und lernte dabei viel über sich selbst.

Von Jürgen Nakot
bilder von Buck Butler, Verlag Antje Kunstmann
Foto von Buck Butler, Verlag Antje Kunstmann

Zusammenfassung: Ein ganzes Jahr lang beobachtete der amerikanische Ökologe David G. Haskell mit einer Lupe das Zusammenspiel kleiner Lebewesen auf einem Quadratmeter Waldboden. Was dabei seine schlimmste Erfahrung war und was er über sich selbst lernte, erzählt er im Interview.

NATIONAL GEOGRAPHIC: Professor Haskell, Sie haben ein Jahr lang, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember, immer wieder auf dasselbe Stück Waldboden geschaut. War das nicht furchtbar öde?
Ha! In keinem Moment. Ich war jeden Tag neu verblüfft über die vielen Kreaturen auf diesem einen Quadratmeter – und über die vielen Geschichten, die sie erzählen. Je länger ich hinschaute, hinhörte und hinroch, umso interessanter wurde es.

Was war so besonders an diesem Platz?
Der Wald dort in Tennessee wurde nie von Menschen genutzt, und er war während der letzten Eiszeit nicht von Gletschern bedeckt. Deswegen gibt es da unglaublich viele Arten.

Und wie haben Sie ihn ausgewählt?
Nicht mit einer „wissenschaftlichen“ Methode, um den „besten“ Quadratmeter zu finden. Ich wählte den Ort, weil dort ein flacher Stein lag, auf dem ich gut sitzen konnte. Ich hatte keine Ahnung und keine Erwartung, was ich sehen würde. Ich vertraute darauf, das schon etwas passieren würde, wenn ich nur lange genug hinschaue.

Der normale Waldspaziergänger möchte gern Hirsche, Füchse oder Wildschweine sehen. Was fasziniert Sie so an Moosen, Flechten, Pilzen, Ameisen und Zecken?
Die allermeisten Lebensformen auf der Erde sind eben viel, viel kleiner als wir. Deswegen lag ich die meiste Zeit auf den Knien und schaute durch meine Lupe. Es sind die kleinen Tiere, die Würmer, Käfer und Asseln, die einen Wald funktionieren lassen. Sie zersetzen Laub und Holz, reichern den Boden an und sind Nahrung für größere Tiere. Es ist ein andauernder Balanceakt zwischen Kooperation und Konflikt, zwischen Konkurrenz und Parasitismus. Nehmen Sie die Flechten: Das sind Wesen, die aus zwei ganz verschiedenen Organismen bestehen, aus Algen und Pilzen, die nur zusammen überleben können. Es gibt unzählige solcher Partnerschaften im Wald, auch zwischen Baumwurzeln und Pilzen.

Woraus bestand Ihre wissenschaftliche Ausrüstung bei Ihren Beobachtungen?
Vor allem aus meinen Sinnen. Ich achtete auf das, was mir meine Augen, meine Ohren und meine Nase vermittelten. Keine Kamera, kein Bandgerät. Ich benutzte nur eine Handlupe, um genauer hinschauen zu können.

Welcher Sinn hat Ihnen die eindrücklichsten Erfahrungen beschert?
Das war überraschenderweise die Nase. Sie erschloss mir die verborgene Welt der Mikroben. Die Gerüche im Boden und im Laub, das die Kleintiere zersetzen, sind unglaublich unterschiedlich und intensiv. Ich fühlte mich über meine Nase körperlich verbunden mit diesem unsichtbaren Teil des komplexen Organismus, den wir Wald nennen.

Haben Sie Tiere gefangen oder Pflanzen und Pilze gesammelt, um sie zu Hause untersuchen zu können?
Meine erste Regel bei diesem Projekt war: Ich werde auf diesem Quadratmeter Wald keine Kreatur entfernen oder töten. Sogar die Mücken durften sich an meinem Blut satt trinken, bis sie davonflogen wie kleine Rubine.

Sie berichten von einer Situation, in der Sie lernten, dass die Meisen uns Menschen im Wald unendlich überlegen sind, wenn es ums Überleben geht. Was war geschehen?
Das war am kältesten Tag in jenem Winter – bei minus 20 Grad. Ich wollte spüren, wie die Tiere im Wald die Kälte fühlen. Also zog ich mich nackt aus. Es dauerte keine Minute, bis ich völlig unterkühlt war. Ich hatte meine Hände nicht mehr unter Kontrolle, mein Gehirn signalisierte Panik. Aber diese kleinen Vögel überleben, sie fressen Spinneneier, überwinternde Insekten und Samen. Der Unterschied war krass: Den Meisen schien die Kälte nichts auszumachen, aber ich, der Mensch, war ohne Hilfsmittel unfähig, auch nur kurze Zeit durchzuhalten. Zum ersten Mal spürte ich buchstäblich bis ins Mark, dass der Mensch ein Tier der Tropen ist. Und mir wurde klar, dass ich auch als Biologe mit jahrzehntelanger Erfahrung das Leben der Meisen nie ganz verstehen würde. Sie existieren in einem Paralleluniversum. Das ist allerdings mit unserer Wirklichkeit, der Welt der Menschen, verbunden.

Eine andere Verbindung zwischen diesen Welten sind die Zecken. Meisen fressen sie, Menschen hassen sie. Wäre es schlimm, wenn es keine Zecken im Wald gäbe?
Sehr gute Frage! Das Jucken von Zeckenbissen hat mich nächtelang wachgehalten. Meine persönliche Welt wäre erfreulicher ohne Zecken. Aber die Erde ist nicht für das Wohlergehen der Menschen gemacht. Die Ökologie hat ihre eigenen Regeln – Regeln, nach denen viele Arten entstanden sind. Wir sind nur eine unter vielen. Und Zecken sind in der Evolution ganz ohne Zweifel erfolgreich. Sie trinken das Blut von Wirbeltieren, es gibt kaum ein Nahrungsmittel, das besser ist, reich an Proteinen, die dicht unter der dünnen Haut dahinströmen. Ein Angebot, das Zecken perfekt zu nutzen verstehen. Auf der anderen Seite: In einem Wald ohne Zecken würde vielen Vögeln und Reptilien eine Nahrungsquelle fehlen. Ohne Zecken könnte die Lebensgemeinschaft völlig anders aussehen

Wenn Sie auf die vielen Stunden zurückschauen, die Sie im Wald gesessen haben: Was war der schönste Moment da draußen?
Zum allerersten Mal habe ich richtig wahrgenommen, wie sich die Qualität des Lichtes im Herbst ändert. Magisch. Im Sommer filtern die Blätter die meisten Farben heraus, sodass nur Grün und Gelb durchkommen. Wenn die Bäume das grüne Chlorophyll abbauen, mit dem sie Sonnenlicht in Nährstoffe umwandeln, werden die anderen Farbstoffe sichtbar, die roten und orangefarbenen. Damit weitet sich das Lichtspektrum im Wald, ein Erlebnis, das mir durch und durch ging. Ich fühlte mich selbst, als wäre meine Seele, meine Existenz erweitert worden.

Und was war Ihre schlimmste Erfahrung?
Es gab einen Tag, da glaubte ich, sterben zu müssen. Mein Herz begann plötzlich unregelmäßig zu schlagen. Ich war allein im Wald, das Gefühl war erschreckend. Mir wurde bewusst, dass ich keine Kontrolle über mein Herz habe, darüber, ob ich weiterleben würde. Sicher, das gilt eigentlich für jeden Moment, aber es war mir nie so existenziell bewusst wie in jenen Minuten. Ich fuhr ins Krankenhaus, dort gab man mir Medikamente – Aspirin und Digitalis. Pflanzliche Produkte, hervorgebracht von Weiden und Fingerhut. Der Wald hatte mich wiedergefunden, sogar in der sterilen Klinikatmosphäre, und Kontakt mit meinem Körper aufgenommen.

Ihr Landsmann Henry Thoreau hatte sich vor 150 Jahren für zwei Jahre komplett in den Wald zurückgezogen und versucht, dort autark zu leben. Haben Sie je ein ähnliches Experiment erwogen?
Darüber nachgedacht habe ich wohl. Meine Frau und ich bauen aber ohnehin das meiste, was wir essen, selbst an, und wir heizen unser Haus mit Holz aus dem Wald. Die Verbindung zum Wald ist also immer da, wenn auch nicht so eng wie bei Thoreau.

Braucht der Mensch den Wald?
Auf jeden Fall, aber der Wald braucht auch den Menschen. Wir brauchen ihn wegen der Luft, die wir atmen, wegen des Holzes, aus dem unsere Häuser und Bücher gemacht werden, weil er sauberes Wasser liefert und uns andere Arten nahebringt. Und der Wald braucht uns – heute, in einer Welt mit mehr als sieben Milliarden Menschen. Er braucht uns als Beschützer.

Aber hat der moderne Mensch nicht die Beziehung zum Wald verloren? Welcher 20-Jährige bringt denn noch die Geduld auf, sich auch nur eine Stunde auf einen Felsen zu setzen und zu beobachten?
Das sehe ich anders. Ich bin überzeugt, viele junge Menschen – und auch ältere – fühlen sich noch mit dem Wald verbunden, mit den Arten dort und mit der Ökologie. Trotz der vielen Arbeit, trotz der Ablenkung durch elektronische Medien. Die Sehnsucht ist da. Ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen kann, diese Sehnsucht wachzuhalten.

Das Buch, das Sie über Ihre Erfahrungen geschrieben haben, könnte einige auf den Gedanken bringen: Rausgehen, den Wald beobachten, das will ich auch. Was wären Ihre Tipps?
Das Wichtigste ist: Erwarte nichts. Geh mit offenen Sinnen und stelle dir nicht vor, was du alles finden wirst. Nur so bist du präpariert für das, was kommt. Das Zweite ist: Wenn deine Gedanken abschweifen, mache dir wieder deine Umgebung bewusst, das, was deine Sinne dir melden, hier und jetzt.

Muss man dafür in einen unberührten, intakten Naturwald gehen?
Überhaupt nicht. Da draußen warten an vielen Orten Tausende von Arten und ihre Geschichten. Sofern wir ihnen die nötige Aufmerksamkeit zollen. Das können Gärten sein, Parks, das kann der Himmel sein oder eine Schar Spatzen in einer Hecke. Das kann ein einzelner Baum in einer Stadt sein. Geh einfach immer wieder hin, das ganze Jahr über, und beobachte die Tiere in seinen Ästen und auf seiner Rinde, schau, wie Menschen sich verhalten, wenn sie dem Baum nahe kommen, wie das Licht sich ändert oder welche Geräusche es dort gibt.

Am Beginn Ihres Projektes fragten Sie sich: „Ist es möglich, durch ein kleines Fenster – einen Quadratmeter Wald mit Laub, Steinen und Wasser – die ganze Welt zu sehen?“ Was ist heute ihre Antwort?
Meine Erfahrung ist: Am meisten lehrt uns die achtsame Beobachtung bei gleichzeitiger Beschränkung auf einen Ausschnitt. Wenn wir schnell durch den Wald gehen oder versu­chen, möglichst viel davon zu sehen, werden wir sehr viel verpassen. Das Zauberwort lau­tet: Entschleunigung. Ein Baum bewegt sich ja auch nicht, aber er weiß mehr über den Wald als andere Organismen. Seine Wurzeln schmecken den Boden, seine Zweige kommu­nizieren mit der Sonne, er ist Heimat und Nahrung für Tausende von Arten.

Was hat der Wald Sie über die Welt gelehrt?
Wenn ich mich kurz fassen muss, so sind es drei Dinge. Zum Ersten: Es sind die unschein­baren, die kleine Arten, die die Ökologie be­stimmen. Zum Zweiten: Der Wald ist ein Netz von Beziehungen, keine Ansammlung von Einzelwesen. Zum Dritten: Je näher wir he­rangehen, umso mehr erschließt sich uns sei­ne Schönheit. Auch wenn es in dieser Schön­heit viel Kampf, Leid und Tod gibt.

Und was haben Sie über sich selbst gelernt?
Dass ich vielen Arten seelenverwandt bin. Das heißt nicht, dass alle Wesen gleich sind. Ich erlebe die Welt fundamental anders als ein Waschbär oder ein Baum. Aber Leben ist die Summe vielfältiger Erfahrungen. In diesem Sinn bin ich Teil der Evolution.

David G. Haskell, 46, ist Professor für Biologie an der University of the South im US-BundesstaatTennessee. „Er lehrt seine Leser, das Unsichtbare zu sehen“, sagt der Pulitzerpreisträger und Ökologe E. O. Wilson über sein Buch "Das verborgene Leben des Waldes", das im Kunstmann-Verlag erschienen ist.

(NG, Heft 12 / 2015, Seite(n) 128 bis 133)

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