Milben: Monster im Bett

Sie leben in Ihrem Bett und paaren sich auf Ihrem Gesicht. Sie sind kleiner als der Punkt am Ende dieses Satzes. Die Rede ist von Milben.

Von Rob Dunn
bilder von Martin Oeggerli
Foto von Martin Oeggerli

Vor ein paar Jahren bot ich Freunden eine Wette an. Es ging um Gesichtsmilben. Die Tierchen leben in den Wurzeln der Haare. Meiner Haare. Und Ihrer Haare. Ein Dutzend könnte ohne Platznot auf einem Stecknadelkopf tanzen. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie im Dunkeln auf Ihrem Gesicht tanzen, denn dort wuseln sie nachts herum und suchen einen Partner, mit dem sie sich paaren können. Wenn der Tag kommt, krabbeln sie zum Fressen zurück in Ihre Haarwurzeln. Auf dem Kopf. In den Brauen. Im Bart. Hier legen die Milbenmütter auch ihre Eier. Nach dem Schlüpfen durchlaufen die Jungtiere mehrere Häutungen, wobei sie jedes Mal etwas größer werden. Wenn sie ausgewachsen sind, leben sie nur noch wenige Wochen. Da sie keinen After haben, sterben sie, sobald ihr Darm vollständig mit Kot gefüllt ist. Anschließend verwesen die toten Tiere auf Ihrem Kopf. Biologisch gesehen sind wir Menschen eben auch nur Lebensraum für viele andere Wesen.

Als ich meine Wette anbot, waren nur zwei Arten von Gesichtsmilben bekannt. Zumindest eine davon lebt anscheinend auf allen erwachsenen Menschen. Ich wettete: Wenn ich ein paar Erwachsene zufällig auswähle und Hautproben von ihren Gesichtern untersuche, finde ich darin Milbenarten, die der Forschung zuvor gänzlich unbekannt waren. Biologen gehen oft Wetten ein. Sie nennen sie allerdings Prognosen, das klingt professioneller. Meine Wette basierte auf dem Wissen über Tendenzen in der Evolution und über menschliches Verhalten: Die Evolution hat die größte Vielfalt bei den kleinsten Lebensformen hervorgebracht; und der Mensch neigt dazu, kleine Dinge zu übersehen. In den meisten Seen, Teichen und sogar Pfützen leben Hunderte, manchmal Tausende von Wassermilben in jedem Kubikmeter. Sogar im Trinkwasser kommen sie vor. Dennoch haben nur wenige Menschen je von Wassermilben gehört – bis vor kurzem auch ich nicht. Und ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit der Erforschung von kleinen Dingen.

NG-Video: So pflanzen sich Milben fort

Milben leben überall, von der Felsküste bis zu den Baumkronen im Regenwald. Die Monster unter ihnen hausen im Erdreich, Raubmilben mit Fresswerkzeugen, die an mittelalterliche Folterinstrumente erinnern. Manche haben Kiefer mit haifischartigen Zähnen. Andere sind mit glatten Schneiden ausgerüstet, die mit großer Wucht zusammenschnappen. Wieder andere stechen tödlich mit scharfen Säbeln zu. Auch auf einigen unserer feinsten Lebensmittel wohnen – und arbeiten – Milben. Kenner lieben den würzigen, nussig-zitronigen Geschmack von altem Mimolette. Je älter dieser französische Hartkäse wird, umso intensiver wird seine Orangefärbung, umso grobporiger seine Rinde.

Die Poren werden von Milben aufgerissen, die in der Rinde auf dem Käselaib leben, sich hier fortpflanzen und ihre Exkremente hinterlassen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Milben die Welt verändern. Sie beschleunigen oder verlangsamen die Zersetzung der gefallenen Blätter im Herbst, sie beeinflussen, wie schnell ein Leichnam verwest. Von ihnen hängt ab, ob eine Saat gedeiht oder eingeht. Wie viele Milbenarten es auf der Welt gibt, weiß niemand. Wahrscheinlich sind es mindestens eine Million. In biologischen Instituten lagern zahllose Arten, die noch keiner je untersucht hat. Mit Sicherheit würde man von ihnen viel über die Evolution lernen können. Die Erkenntnisse könnten auch unser heutiges Leben verbessern: Manche Milben sind möglicherweise mit ihren Stoffwechselprodukten für die Medizin nützlich. Andere übertragen womöglich tödliche Keime.

Neben der Tatsache, dass es überall Milben gibt, stimmte mich für meine Wette optimistisch,dass diese winzigen Spinnentiere alle nur denkbaren Lebensräume besiedeln – vor allem die Körper größerer Tiere, ob Säugetiere , Vögel oder Insekten . Milben leben in den Luftröhren von Bienen, in den Schäften von Vogelfedern, im Darmausgang von Schildkröten, in Stinkdrüsen von Insekten, in den Lungen von Schlangen, in den Augäpfeln von Flughunden und im Penisfell von Vampirfledermäusen. Sie kommunizieren untereinander über chemische Stoffe, halten sich fest mit Haken oder Saugnäpfen an den Füßen, wechseln aber, wenn nötig, blitzschnell den Lebensraum. Manche zum Beispiel reisen in den Nasenlöchern von Kolibris. Schwebt der Vogel vor einer Blume, riecht die Milbe an der Blüte. So findet sie heraus, ob in den Blättern eventuell ein Partner wartet. Ist das der Fall, rast die Milbe blitzschnell den Vogelschnabel hinunter. Ist der Spaß in der Blume vorbei, kommt über kurz oder lang zweifellos ein neuer Kolibri vorbei, der eine Mitfluggelegenheit bietet.

Andere Milben reiten auf den Rücken von Käfern oder fliegen in den Ohren von Nachtfaltern mit. Eine Milbenart hängt sich als blinder Passagier an die Hinterbeine der Wanderameise Eciton dulcius. Andere treiben in Wolken oder schweben auf selbst fabrizierten Spinnfäden wie auf fliegenden Teppichen durch die Luft. Gerade größere Tiere bieten Lebensraum für viele Arten von Milben, die nirgendwo sonst vorkommen. Im Gefieder von Grünsittichen zum Beispiel leben 25 Milbenarten, jede in einem eigenen Mikrohabitat, Mäuse sind Wirte für bis zu sechs Milbenarten. Angesichts solcher Vielfalt und Spezialisierung hatte ich keine Zweifel, dass ein Zimmer voller Menschen eine gute Gelegenheit für die Entdeckung neuer Milben bietet. Ich würde meine Wette gewinnen.

Lange Zeit äußerte ich meine Hypothese allerdings nur, um ein bisschen Leben in eine langweilige Party zu bringen. Doch vor kurzem veranlasste ich tatsächlich ein paar Menschen, Hautproben von sich selbst zu nehmen. Mit Abstrichen und DNA-Analysen fand mein Team zwei Dinge heraus. Zum Ersten: Jeder der untersuchten Menschen hatte Milben. Zum Zweiten: Darunter war wirklich eine der Wissenschaft zuvor unbekannte Art. Sie scheint bevorzugt auf Personen asiatischer Abstammung zu leben. Ich war begeistert: eine neue Milbenart!

Die Reaktionen der Systematiker – der Wissenschaftler, die neue Arten benennen – waren nicht durchweg so euphorisch. Einige teilten meine Begeisterung, andere zuckten nur gelangweilt mit den Schultern. Sie wussten, dass ich beim Abschluss meiner Wette kein Risiko eingegangen war. Eigentlich finden sie bei jeder Untersuchung neue Milbenarten, egal, ob sie eine Erdprobe analysieren, Moos unter die Lupe nehmen – oder eben den Hautabstrich eines Freundes.

(NG, Heft 02 / 2015, Seite(n) 36 bis 47)

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