Grönlands Eis schmilzt viermal schneller als erwartet

Bald könnte der Grönländische Eisschild einen gefährlichen Tipping-Point erreichen. Sein vollständiges Abschmelzen wäre dann nicht mehr aufzuhalten.

Von Stephen Leahy
Veröffentlicht am 23. Jan. 2019, 18:58 MEZ
Noch bedeckt eine gewaltige Eisschicht Grönland, die größte Insel des Planeten – aber wie lange noch?
Noch bedeckt eine gewaltige Eisschicht Grönland, die größte Insel des Planeten – aber wie lange noch?
Foto von Michael Melford, Nat Geo Image Collection

Eine neue Studie warnt, dass das grönländische Eis schneller schmilzt als bisher angenommen. Die vielleicht größte Überraschung ist dabei, dass der Eisverlust größtenteils nicht auf Kosten der Gletscher geht, sondern den Grönländischen Eisschild selbst betrifft.

Die Studie, die am 21. Januar in „Proceedings of the National Academy of Sciences“ erschien, zeigt, dass der größte Eisverlust im Zeitraum von Anfang 2003 bis Mitte 2013 in der südwestlichen Region Grönlands zu verzeichnen war, in der es kaum große Gletscher gibt.

Grönland, die größte Insel der Welt, scheint etwa 2002 oder 2003 einen Tipping-Point erreicht zu haben, ab dem der Eisverlust rapide zunahm, sagte der Hauptautor Michael Bevis, ein Geowissenschaftler der Ohio State University. Im Jahr 2012 erreichte der Eisverlust dann ein noch nie dagewesenes Ausmaß und ging fast viermal so schnell vonstatten wie noch 2003, erzählte Bevis in einem Interview.

Der Südwesten Grönlands war bis zur aktuellen Studie eigentlich kein Fokus solcher Studien gewesen. Zuvor hatte man sich eher auf die Regionen im Südosten und Nordwesten konzentriert, wo große Eisberge aus den gewaltigen Gletschern herausbrechen und aufs Meer treiben.

„Uns war klar, dass es ein großes Problem mit den zunehmenden Eisabgängen in einigen der großen Auslassgletscher gab“, sagte Bevis. „Jetzt haben wir ein zweites großes Problem erkannt: Große Mengen an Eis fließen zunehmend in Form von Schmelzwasserflüssen ins Meer.“

Die Daten des NASA-Satelliten GRACE und diverser GPS-Stationen rund um die grönländische Küste zeigten, dass Grönland zwischen 2002 und 2016 etwa 280 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr verlor.

„Das wird zusätzlich zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Wir sehen gerade dabei zu, wie der Eisschild einen Tipping-Point erreicht“, sagte Bevis.

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Juli 2018: Teile einer grönländischen Siedlung wurden evakuiert, nachdem ein etwa 90 Meter hoher Eisberg an der Küste aufgetaucht war.

und enthält genügend Eis, um den Meeresspiegel um sieben Meter ansteigen zu lassen. Im 20. Jahrhundert hat Grönland etwa 9.000 Milliarden Tonnen Eis eingebüßt und den Meeresspiegel so um 25 Millimeter angehoben. (Es sind ungefähr 360 Milliarden Tonnen Eis nötig, um den globalen Meeresspiegel um einen Millimeter anzuheben.)

Allerdings wirkt der Grönländische Eisschild im Vergleich zum Antarktischen Eisschild winzig: Würde dieser vollständig schmelzen, würde der Meeresspiegel um 57 Meter ansteigen. Auch der Antarktische Eisschild schmilzt immer schneller und verliert mittlerweile sechsmal so viel Eis wie noch vor vierzig Jahren, wie eine Studie vom 14. Januar zeigte. Der Eisverlust in der Antarktis entsprach im letzten Jahrzehnt im Schnitt 252 Milliarden Tonnen pro Jahr.

Ähnlich sieht es bei den Gletschern im Westen Nordamerikas aus – ihr Eisverlust hat sich seit Anfang der 2000er vervierfacht und beträgt nun jährlich etwa 12,3 Milliarden Tonnen, wie eine Studie offenbarte.

Ursachen des Eisverlusts

Die treibende Kraft hinter dem Ausmaß des globalen Eisverlustes ist die weltweite Erwärmung des Klimas um gerade mal 1 °C. In Grönland entdeckten Forscher, dass die globale Erwärmung in Kombination mit der Negativphase der Nordatlantischen Oszillation zum rapiden Abtauen des Eises während der Sommermonate führte. Die Nordatlantische Oszillation (NAO) ist eine natürliche Schwankung der Druckverhältnisse, die der Westseite Grönlands während ihrer Negativphase sonniges, warmes Wetter beschert. Vor dem Jahr 2000 hatte das noch kein signifikantes Abschmelzen zur Folge, sagte Bevis. Aber seither verursacht die Negativphase der NAO zunehmend mehr Eisverlust.

Der Effekt verhalte sich analog zur El Niño-Southern Oscillation und der Korallenbleiche, wie er erklärte. In den Jahren 1997 und 1998 sorgte ein besonders starker El Niño in den meisten tropischen Riffen der Welt für eine verheerende Korallenbleiche. Zuvor hatten solche Wetterereignisse nur geringfügige Auswirkungen auf Riffe. Aber ab 1997 waren die tropischen Gewässer durch den Klimawandel so warm geworden, dass ein zusätzlicher Temperaturanstieg durch einen El Niño die Toleranz der Korallen überschritt. Mittlerweile nehmen die Riffe mit jedem weiteren El Niño mehr Schaden.

Bevis’ Studie zeigt, dass der Eisschild im Südwesten Grönlands am stärksten von El Niño-artigen atmosphärischen Zyklen betroffen ist, die zusätzlich zur globalen Erwärmungstendenz auftreten, sagte Jason Box. Der Glaziologe arbeitet für die Geological Survey of Denmark and Greenland.

Alles, was es bräuchte, um den Grönländischen Eisschild zu schmelzen, ist eine Oberflächentemperatur von 1 °C und Sonne. „Früher kam es sehr selten vor, dass die Temperaturen auf dem Eisschild über die Null-Grad-Marke kletterten. Mittlerweile ist das keine Seltenheit mehr“, sagte Bevis. Ab der Grenze von 1 °C verdoppelt jedes weitere Grad die Menge des Eisverlusts.

Was nun?

Sofern die Nutzung fossiler Brennstoffe nicht schnellstmöglich dramatisch verringert wird, könnte ein Großteil oder gar die Gesamtheit des Grönländischen Eisschilds verschwinden. Damit würde der Meeresspiegel um sieben Meter ansteigen, warnt Richard Alley, ein Glaziologe der Pennsylvania State University. Dieser Prozess würde allerdings mehrere Jahrhunderte benötigen. Es gibt aber eine Temperaturschwelle, die wir schon in ein paar Jahrzehnten oder noch eher überschreiten könnten. Wenn wir dann lange genug jenseits dieser Schwelle bleiben, erreichen wir einen Punkt, ab dem das Abschmelzen Grönlands unumkehrbar würde, so Alley.

BELIEBT

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    Ein weiteres Problem ist, dass das ganze Schmelzwasser den Golfstrom verlangsamt, der warmes Wasser vom Äquator in den Nordatlantik bringt und dafür sorgt, dass kaltes Wasser in die Tiefen des Ozeans absinkt. Nur dank des Golfstroms ist das Klima in Westeuropa gemäßigt. Im vergangenen Jahr berichteten Forscher im Fachmagazin „Nature“, dass die Meeresströmung seit Mitte des 20. Jahrhunderts um 15 Prozent schwächer geworden ist.

    Meteorologen glauben, dass diese Verlangsamung mit den jüngsten Hitzewellen in Europa zusammenhängt. Ein Co-Autor der „Nature“-Studie, Stefan Rahnstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, macht die gewaltigen Schmelzwassermengen für diese Verlangsamung verantwortlich. „Das sind wirklich schlechte Nachrichten“, erzählte er der Washington Post.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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