Venezuelas letzter Gletscher schmilzt unaufhaltsam

Der Humboldt-Gletscher in den Anden wird verschwunden sein, bevor Wissenschaftler die Gelegenheit hatten, ihn umfassend zu erforschen.

Von Kyla Mandel
Veröffentlicht am 26. Nov. 2018, 17:45 MEZ
Der Pico Humboldt in den venezolanischen Anden beheimatet den letzten Gletscher des Landes. In wenigen Jahren ...
Der Pico Humboldt in den venezolanischen Anden beheimatet den letzten Gletscher des Landes. In wenigen Jahren wird auch dieser verschwunden sein.
Foto von Jorge Silva, Reuters

Carsten Braun war 2009 zum ersten Mal in den venezolanischen Anden. Er und seine Frau bestiegen den Pico Humboldt – den zweithöchsten Gipfel des Landes – und beschlossen, ein GPS-Gerät mitzunehmen, um den kleinen Gletscher zu vermessen. „Das war ein ziemlich minimalistisches Unterfangen“, erzählte er über die schwierige Wanderung zum Eis.

Braun, ein Geografieprofessor der Westfield State University in Massachusetts, hat den Humboldt-Gletscher seither mehrere Male besucht. Bei seiner letzten Forschungsreise vor sechs Jahren war der Gletscher bereits merklich geschrumpft.

„Wenn man sich vorstellt, man würde einen Eierkuchen über einen Hang legen“, weiß man, wie der Gletscher aussieht, so Braun. Er ist „eine dünne Eisschicht“, nicht dicker als 20 Meter. Sein Umfang beträgt kaum anderthalb Kilometer.

Einst zählte er zu den fünf großen tropischen Gletschern des Landes und befindet sich in der Sierra Nevada de Mérida im Westen Venezuelas. Dank des Klimawandels findet sich die Nation nun auf der ersten Position in einem traurigen globalen Rennen darum wieder, welches Land als erstes seine Gletscher verliert. Was wir aktuell beobachten, könnte Braun zufolge „der letzte Atemzug des Humboldt-Gletschers sein“.

Aufgrund von politischen Unruhen und Finanzierungsproblemen geriet er jedoch größtenteils in Vergessenheit. Schätzungen zufolge wird er binnen der nächsten ein bis zwei Jahrzehnte verschwinden, ohne dass Wissenschaftler die Gelegenheit hatten, den letzten Gletscher Venezuelas umfassend zu erforschen.

Schneller Rückgang

Berggletscher jenseits des mächtigen Schelfeises in Grönland und der Antarktis machen nur etwa ein Prozent der weltweiten Gletschermasse aus, erklärt Alex Gardner. Der Forscher am Jet Propulsion Laboratory der NASA hat sich nach eigenen Worten auf „alles Eisige“ spezialisiert. Der Beitrag dieser Gletscher zum Anstieg des Meeresspiegels sei also nicht sehr groß. Da sie sich größtenteils in Gebieten befinden, in denen die Temperaturen oft über den Gefrierpunkt steigen, sind sie anfälliger für Temperaturschwankungen.

In den Anden befinden sich mehr als 95 Prozent aller weltweiten tropischen Gletscher. Für manche Länder wie Peru und Kolumbien sind sie eine lebenswichtige Wasserquelle, die nicht nur Trinkwasser, sondern auch Wasser für die Landwirtschaft und Kraftwerke liefert. Eine solche Ressource zu verlieren, wird drastische Folgen nach sich ziehen. Seit den Siebzigern befinden sich die Gletscher der Region im Rückgang.

„Ehrlich gesagt hat es mich überrascht, dass es überhaupt noch Gletscher in Venezuela gibt“, so Gardner.

Galerie: Beeindruckende Aufnahmen von Bergen

Bis vor Kurzem gab es in der Geschichte des Landes nur zwei Feldstudien zu den venezolanischen Gletschern. Sie wurden 1971 und 1992 von dem verstorbenen Forscher Carlos Schubert durchgeführt, der einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Geologie des Landes war. In dem Zeitraum zwischen den zwei Studien verschwanden insgesamt vier Gletscher.

Im Jahr 2013 waren Braun und Maximiliano Bezada – ein Schüler Schuberts – an einer Studie beteiligt, für die der Humboldt-Gletscher vermessen wurde. Basierend auf den jüngsten Schätzungen hatte der Gletscher im Jahr 2011 eine Fläche von nur 0,1 Quadratkilometern. Zwischen 2009 und 2011 waren zudem mehrere Risse aufgetaucht und an seinem Fuß floss Schmelzwasser den Hang hinab.

Vor 30 Jahren habe das Eis noch stark ausgesehen, sagte Bezada, ein ehemaliger Professor für Geomorphologie am Instituto Pedagógico de Caracas der Universidad Pedagógica Experimental Libertador. Er zählt zu den wenigen venezolanischen Wissenschaftlern, die den Humboldt-Gletscher untersuchen. „Jetzt sieht [der Gletscher] krank aus“, sagte er. „Er wird bald sterben.“

Gardner zufolge ist der weltweite Temperaturanstieg der Hauptschuldige an dem Schrumpfen der Gletscher. „Die Modellhochrechnungen zeigen, dass er weiter zurückgehen wird. Die Frage ist nur, wie weit und wie schnell“, sagte er.

Tiefer liegende Gletscher wie der Humboldt-Gletscher sind kleiner und anfälliger – und werden wahrscheinlich auch am schnellsten verschwinden, wie er hinzufügte.

Gletscher-Namenspatron

Die ältesten Aufzeichnungen über eine dauerhafte Schnee- und Eisdecke in den venezolanischen Anden stammen aus dem Jahr 1560. Während einer Expedition in die Anden vermerkte der Geologe und Bergsteiger A. E. Gunther 1941, dass der Humboldt-Gletscher „der größten in diesen Breitengraden“ und „nach frischem Schneefall eine ausgezeichnete Skipiste“ sei.

Der Berg, auf dem sich der Gletscher befindet, wurde nach dem Naturforscher Alexander von Humboldt benannt. Venezuela sah Humboldt erstmals im Jahr 1799, als er der Küste mit ihren grünen Palmen und Bananenhainen entgegensegelte. In weiter Ferne ragten die wolkenverhangenen Berge gen Himmel.

Dort erlebte Humboldt die verheerenden Auswirkungen der Waldrodung zugunsten von Plantagen der spanischen Kolonie. Infolgedessen wurde er der erste Wissenschaftler, der über den Zusammenhang zwischen menschlichen Aktivitäten und Klimawandel sprach.

Der Naturforscher umriss, wie die Dienstleistungen des Waldökosystems – von der Wasserspeicherung bis zum Schutz des Bodens – mit dem Klimasystem zusammenhängen. Die meisten Menschen jener Zeit argumentierten, dass die menschliche Herrschaft über die Natur für den Profit notwendig war. Humboldt warnte jedoch, dass wir erst vollumfänglich begreifen müssen, wie genau sich das menschliche Verhalten auf die Natur auswirkt.

Die Autorin Andrea Wulf schrieb 2015 in ihrer Humboldt-Biografie „The Invention of Nature“, dass „die Auswirkungen der menschlichen Eingriffe in die Natur bereits ‚unkalkulierbar‘ waren, wie Humboldt immer wieder sagte, und dass sie katastrophale Ausmaße annehmen könnten, wenn die Menschen weiterhin so ‚brutal‘ in die Erde eingriffen.“

Schon 1925 erkannten Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen der menschlichen Umweltverschmutzung durch die venezolanische Stadt Mérida und die potenziellen Auswirkungen auf die umliegenden Gletscher, die seit Humboldts Warnung allesamt geschrumpft und teils ganz verschwunden sind.

Beobachtung: schwierig

Mittlerweile sind Bergsteiger die einzigen Menschen, die noch nah genug an den Gletscher herankommen, um ihn mit eigenen Augen zu sehen. Internationalen Wissenschaftlern wird entweder davon abgeraten, Forschungsreisen in ein Land zu unternehmen, das als so gefährlich eingestuft wird, oder haben von vornherein keine große Motivation dazu.

Außerdem ist der kleine Humboldt-Gletscher nicht gerade ein glamouröser Vertreter seiner Art und nur ein kleiner Fleck im Vergleich zu den Eisfeldern Patagoniens. Da überrascht es kaum, dass es wenig Fördergelder für seine Erforschung gibt.

Zu seinen Lebzeiten hatte Schubert sich für ein Programm zur Beobachtung der schwindenden Gletscher Venezuelas eingesetzt – ein Anliegen, das auch Bezada und Braun durchzusetzen versuchten. Ein solches Programm wurde jedoch nie etabliert.

Bis zu einem gewissen Grad können Gletscher auch mit Hilfe von Satellitenaufnahmen beobachtet werden. Aber der Humboldt-Gletscher ist mittlerweile so klein, dass die Auflösung der kostenlos verfügbaren Bilder der Landsat-Satelliten nicht mehr ausreicht, um daraus detaillierte Informationen abzuleiten, so Braun.

„Rein symbolisch“

Braun und Bezada bezeichnen den Humboldt-Gletscher als „glaziologische Anomalie“. Vermutlich wäre er schon vor Jahren verschwunden, wenn er nicht in einem schattigen Bereich des Berges liegen würde. Da der Gletscher ohnehin bereits sehr klein ist, wird sich sein Verschwinden auch nicht nennenswert auf die lokalen Wasserressourcen auswirken.

„Mittlerweile ist er rein symbolisch“, sagte Gardner über den schwindenden Gletscher. „Das sind die Auswirkungen der steigenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre.“

Dem stimmte auch Braun zu. Für die Menschen in der Umgebung ist der Gletscher jedoch ein Teil ihrer Identität und ihrer Heimat.

„Wenn er erst mal verschwunden ist, wird er nicht wiederkommen.“

 

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

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