Die Insel Bornholm: Zero-Waste-Projekt in der Ostsee
Die alternde Müllverbrennungsanlage der Insel wird bald abgestellt. Anstatt sie zu ersetzen, will die Regierung ganz neue Wege gehen.
Wie würde wohl eine Gemeinde aussehen, die ihren Müll bis auf den letzten Schnipsel vollständig recycelt? Für einige klingt das nach einer fernen Utopie, aber auf der dänischen Insel Bornholm könnte sie schon bald Realität werden.
Bis zum Jahr 2032 wird sämtlicher Müll auf Bornholm als Ressource behandelt werden, wie Beamte verkünden. Um aus der Insel die erste müllfreie Gemeinde der Welt zu machen, sind Maßnahmen auf mehreren Ebenen nötig, von der Müllsortierung über das Recycling bis zur Müllvermeidung und dem Einsatz neuer Technologien.
Die östlichste Insel Dänemarks ist ein 588 Quadratkilometer großer Granitfelsen, der aus der Ostsee aufragt. Sie ist vor allem für ihre idyllischen Fischerdörfer und das sonnige, angenehme Klima bekannt. Beides macht sie auch zu einem beliebten Ausflugsziel, sodass die 40.000 Einwohner jährlich Besuch von etwa 600.000 Touristen bekommen.
„Wir streben an, bis 2032 alles wiederzuverwenden oder zu recyceln“, erklärt Jens Hjul-Nielsen. Er ist der Geschäftsführer von BOFA, dem Müllentsorgungsunternehmen der Insel und der Visionär hinter dem Zero-Waste-Projekt. „Der Weg dahin ist ein spannender Prozess, da es noch vieles gibt, das wir nicht wissen. Wir haben eine Vision, aber keinen ganz konkreten Plan, um sie zu verwirklichen.“
Die Tage der einzigen Müllverbrennungsanlage der Insel sind langsam gezählt. Der ambitionierte Plan für die neue Müllpolitik wurde im vergangenen Dezember gefasst: Die Anlage soll 2032 geschlossen werden und bis dahin soll sich die Insel langsam zu einer müllfreien Gesellschaft entwickeln.
„Das Management der Abfallbeseitigung in so einem kleinen Rahmen wie hier hat seine Herausforderungen. Anstatt in eine neue Verbrennungsanlage zu investieren, haben wir daher einfach beschlossen, Verbrennung und Müllkippen als Optionen auszuschließen. Wir wollten etwas Neues versuchen und den Umstand nutzen, dass wir so eine Art Miniaturversion einer Gesellschaft sind, inklusive Geschäften, privaten Haushalten und Tourismus. Damit können wir experimentieren und Erkenntnisse sammeln, die man später vielleicht auch im größeren Maßstab oder gar auf globaler Ebene nutzen kann“, erklärt Hjul-Nielsen.
Die Vision
In BOFAS Zukunftsvision werden die Einwohner Bornholms ihren gesamten Müll in verschiedene Kategorien einsortieren, die sich einfach einsammeln und in Ressourcenkreisläufen wiederverwenden lassen. Metall, Kunststoffe, Glas, Papier und Pappe werden bereits größtenteils recycelt. Neue Abfallkategorien für Fischernetze und Dämmmaterialien werden das Recyclingsystem ergänzen. Organische Abfälle werden zusammen mit dem Müll aus dem Garten- und Parkmanagement in Energie umgewandelt. Die nährstoffreichen Rückstände aus dem Energiegewinnungsprozess werden wiederum als Dünger für Felder, Parks und Gärten verwendet, schreibt BOFA.
In dieser Kreislaufwirtschaft werden die Einwohner von Kinderbekleidung bis zu Möbeln alles wiederverwenden und dafür gemeindebasierte Services nutzen – beispielsweise Leih-, Miet- und Tauschbörsen im Internet oder in der Nachbarschaft.
Schon in den Grundschulen werden die Kinder als „Ressourcenhelden“ über Müll, Ressourcen, die Umwelt und die Natur aufgeklärt. Darüber hinaus soll in Bornholm ein universitäres Forschungszentrum für Modelle zu Kreislaufwirtschaften und den Übergang zu umweltfreundlichen Systemen entstehen.
Die „Grüne Insel“
Der Gemeinderat hatte im Dezember 2018 einstimmig beschlossen, die Verbrennungsanlage zu schließen und diese ambitionierte Vision zu unterstützen.
Diese grüne Einstellung ist für die lokale Regierung aber kein Novum. Die Gemeinde hatte sich bereits für eine „Grüne Insel“-Strategie entschieden, um sich als Vorreiter in Sachen nachhaltige Entwicklung zu positionieren: Die Insel will bis zum Jahr 2025 CO2-neutral sein, auf erneuerbare Energien umsteigen und den ökologischen Landbau auf der Inselfläche ausweiten.
„Aber im Bereich der Abfallentsorgung hinkten wir noch hinterher. Deshalb war es für uns wichtig, uns auch in diesem Sektor weiterzuentwickeln“, sagt Anne Thomas, die stellvertretende Bürgermeisterin von Bornholm.
„Als Vorreiter auf diesem Gebiet kann man von Fördermitteln aus nationalen und internationalen Quellen wie der EU profitieren“, fügt sie hinzu. „Und als Nachzügler profitiert man, weil man aus den Fehlern der Vorreiter lernen kann. Auch die Technologie ist dann schon preiswerter. Nur in der Mitte hat man es wirklich schwer. Für uns war die Entscheidung, uns als Vorreiter zu positionieren, nicht schwer.“
Der Übergang
Derzeit recycelt Bornholm 39 Prozent der häuslichen Abfälle. Der erste Schritt in Richtung Müllfreiheit besteht darin, diesen Prozentsatz zu erhöhen, sodass deutlich mehr Müll sortiert, recycelt und wiederverwendet wird. Schon das allein ist eine große Aufgabe, „aber wir wissen, wie man das anstellt“, sagt Thomas.
„Der eigentlich spannende Teil kommt dann in der zweiten Phase, in der wir neue Möglichkeiten ausloten, um mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, die Produktionsprozesse anzupassen, die Bevölkerung einzubeziehen und neue Methoden zur Abfallentsorgung testen.“
In der letzten Übergangsphase sehen die Dinge dann aber deutlich ungewisser aus, wie Hjul-Nielsen anmerkt. „Wir wissen schließlich noch gar nicht, was für Müll wir in Zukunft haben werden. Einige Materialien, die heutzutage gesondert entsorgt werden müssen, werden bis dahin vielleicht verboten oder es werden neue Materialien erfunden. Das kann in beide Richtungen gehen und die Sache für uns entweder einfacher oder schwieriger machen“, sagt er.
Neue Technologien werden in jedem Fall eine wichtige Rolle spielen. BOFA baut darauf, Unternehmen anzulocken, die ihre Neuentwicklungen in einem kleinen Rahmen, wie ihn Bornholm bietet, testen wollen, bevor sie sie im großen Stil auf den Markt bringen. Das können beispielsweise neue Methoden sein, um Materialien zu zersetzen und aufzubereiten, die derzeit noch gar nicht verfügbar sind. „Gerade mal vier Monate nach Beginn [des Projekts] gibt es schon Interesse von ein paar ziemlich großen Unternehmen“, erzählt der Geschäftsführer.
Die Menschen
Technologie allein wird aber nicht genügen, um einen nachhaltigen Wandel herbeizuführen.
Die Beteiligung und der Wille der Bevölkerung werden ausschlaggebend für den Erfolg des Projekts sein, betont Jens Hjul-Nielsen. „Das Interesse an Nachhaltigkeit wächst, wir stehen damit also schon auf der Gewinnerseite, solange das für die Menschen in ihrem täglichen Leben nicht zu teuer oder zu schwierig umzusetzen wird. Wenn das passiert, könnten wir sie verlieren.“
Aktuell entrichten die Einwohner Bornholms eine jährliche Abfallentsorgungssteuer von etwa 3.000 Kronen (knapp 400 Euro) pro Haushalt an die Kommune. Damit wird nicht nur die generelle Entsorgung bezahlt, sondern auch die wöchentliche Abholung und Aufbereitung (wer weniger Müll produziert, kann auf eine Abholung alle zwei Wochen umsteigen).
Um den ersten Schritt zu finanzieren und die Abfallkategorien auf sieben Stück zu erweitern – Nahrungsabfälle, Glas, Metall, Papier, Pappe, Kunststoffe und Holz –, hat die lokale Regierung einer Erhöhung der Abfallentsorgungssteuer um 15 Prozent ab 2022 zugestimmt, was knapp 60 Euro mehr pro Haushalt entspricht. Dieser Schritt folgt dabei einer neuen nationalen Richtlinie, laut der bis 2022 ohnehin 50 Prozent allen Haushaltsmülls zu Recyclingzwecken in sieben Kategorien einsortiert werden muss.
„Der nächste Schritt zur Müllfreiheit besteht darin, durch eine interne Priorisierung sowie durch externe Quellen und Beteiligte gefördert zu werden. Wenn das nicht reicht, würden wir eine zusätzliche Steuererhöhung von maximal ein bis zwei Prozent oder etwa 4,00 bis 9,00 Euro pro Haushalt einkalkulieren“, sagt Hjul-Nielsen.
BOFA beteiligt sich an diversen Projekten, die sowohl die Öffentlichkeit als auch den privaten Sektor bei dem Übergang unterstützen und einbeziehen. Eines der Projekte untersucht beispielsweise verschiedene Arten von Haushalten – ein Fischerdorf mit vielen Touristen, ein städtischer Reihenhauskomplex, ein kleines Bauerndorf –, um zu verstehen, welche individuellen Herausforderungen sich für die Bewohner bei der Mülltrennung und -vermeidung ergeben und wie sich die Menschen am besten motivieren lassen.
Andere Projekte zielen darauf ab, die Produktion von Waren mit austauschbaren Bestandteilen zu begünstigen und das Verpackungsmaterial zu reduzieren. Außerdem sollen im Dialog mit der Tourismusindustrie Informationsmaterial erstellt und Möglichkeiten erkundet werden, um Besuchern dabei zu helfen, das Sortiersystem zu verstehen und zu benutzen.
Vorreiter des Fortschritts
„Ich bin hier auf ein großes Interesse an korrekter Abfallentsorgung gestoßen. Viele Dörfer und Gemeinden auf Bornholm arbeiten bereits auf eine grünere Zukunft hin und tauschen sich über ihre Ideen aus“, sagt die stellvertretende Bürgermeisterin. „Der Wandel hin zu einer Kreislaufwirtschaft ist nicht nur eine Frage von zusätzlichen Müllcontainern. Es geht um neue Methoden, ein neues Verhalten und eine ganz neue Art zu denken.“
Aber was, wenn die Insel ihr Ziel nicht erreichen kann, bis zum Jahr 2032 keinen Müll mehr zu produzieren? Gibt es einen Plan B?
Jens Hjul-Nielsen sagt jedenfalls, dass sich Bornholm seinem langfristigen Ziel verschrieben hat – selbst, wenn es etwas länger dauern sollte, es zu erreichen. „Wenn wir 2032 immer noch einen kleinen Rest an Müll haben, schicken wir den eben an eine Verbrennungsanlage jenseits der Insel und das wird dann das Projekt, das wir bis 2033 zu lösen versuchen. Aber dann haben wir im Vergleich zu heute trotzdem einen ziemlichen Fortschritt gemacht.“
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Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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