Auf Adlers Schwingen gegen den Klimawandel

Das Projekt Eagle Wings eröffnet einen Bild-Dialog zwischen dem Blick des Adlers, des Menschen und den Naturwissenschaften. 

Von Maja Dielhenn
Veröffentlicht am 8. Mai 2020, 16:14 MESZ
„Wir müssen den Blick des Adlers einnehmen, um die richtigen Entscheidungen für die folgenden Generationen zu ...

„Wir müssen den Blick des Adlers einnehmen, um die richtigen Entscheidungen für die folgenden Generationen zu treffen.“ So lautet eine alte Weisheit der Irokesen und das Motto des Eagle Wings Projekts.

Foto von Nomi Baumgartl

Nomi Baumgartl gilt als eine der bedeutendsten Fotografinnen Deutschlands und hatte von Kate Moss über Papst Johannes Paul II und Andreas Feininger schon so manche prominente Persönlichkeit vor ihrer Linse. Bis zu einem schweren Unfall, der sie heute von einem wieder geschenkten Leben sprechen lässt und ihren Blick auf die Welt veränderte. Sie wollte etwas zurückgeben für dieses Geschenk und ihr Auge für die wesentlichen Dinge im Leben zur Verfügung stellen. Fortan widmete sie ihr Schaffen vor allem der Natur. Unserer bedrohten, sich leise und doch spürbar verändernden, zerbrechlichen Natur.

Von sich reden machte vor einigen Jahren ihr Fotokunstprojekt „Stella Polaris“, das mit Lichtinstallationen in Grönland auf das Schmelzen von Gletschern und Eisbergen aufmerksam machen wollte. "Dabei stellte ich jedoch fest, wie weit das emotional von den Menschen hier weg ist. Damit haben wir nichts zu tun - hier bei uns ist die Welt noch in Ordnung."

Fotografin Nomi Baumgartl dokumentiert seit vielen Jahren zusammen mit Alpinist Helmut Achatz das fragile Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch in den Alpen. 

Foto von Chris Pfanzelt

Nomi, die seit 2015 in der Nähe von Garmisch lebt, beschloss, sich diese Welt näher zu betrachten. Sie begann mit der Zugspitze und dem Schneeferner Gletscher - Orten ihrer Kindheit und Jugend, die sie nun mit der Kamera neu entdeckte. „Ich war tief erschrocken, dass sehr wohl auch vor unserer Haustür große Veränderungen sichtbar sind."

Eine Erfahrung, die in Nomi Baumgartl die Idee zu einem Projekt reifen ließ, das sie inzwischen als ihr Vermächtnis bezeichnet: Sie wollte ihr Auge den Alpen widmen, einem der größten und höchsten Gebirgszüge Europas, der sich über acht Staaten und 200 000 km2 erstreckt. Entstanden vor 135 Millionen Jahren und Lebensraum für eine Flora und Fauna, deren Artenvielfalt unvergleichlich ist.

Die Folgen des Klimawandels sind hier allgegenwärtig, der Gletscherschwund seit Jahrzehnten bekannt und wissenschaftlich einwandfrei dokumentiert: Österreich zum Beispiel zählt 898 Gletscher. Zwischen 1850 und 1998 verloren sie 55 Prozent ihrer Fläche. Der Hallstätter Gletscher am Hohen Dachstein ist der größte der nördlichen Kalkalpen und schwindet aufgrund seiner geographischen Lage zwar deutlich langsamer, Messungen belegen aber, dass sich auch hier die mittlere Gletscherzunge jedes Jahr bis zu 30 Meter zurückzieht. In den bayerischen Alpen bedeckten die Gletscher 1820 noch eine Fläche von 4 km2 - 2015 waren es nur noch 0,55 km2. Fünf Gletscher gibt es noch in Deutschland, ihre Überlebenschancen gelten als äußerst schlecht. Prognosen zufolge wird wohl lediglich der Höllentalferner die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts erleben, da er durch hohe Felswände abgeschattet ist, die ihn zudem mit Lawinen versorgen.

BELIEBT

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    „Vor wenigen Jahren war hier noch Eis", kommentiert Nomi Baumgartl diese Aufnahme des Rhonegletschers. 

    Foto von Nomi Baumgartl

    Die Lage ist dramatisch, und doch fehlt das Bewusstsein für die Folgen dieser Entwicklung. Genau das wollte Nomi Baumgartl ändern - die Geburtsstunde dessen, was heute als "Eagle Wings" Projekt weltweit Aufsehen erregt.

    Doch bis dahin war es ein weiter Weg und den hätte Nomi womöglich nicht beschreiten können, hätten ihre Wege sich nicht mit Helmut Achatz gekreuzt. Der passionierte Alpinist kam quasi mit Skiern an den Füßen auf die Welt und trainierte viele Jahre zusammen mit einem Falkner Adler für Filmaufnahmen. Seine Faszination für die anmutigen Greifvögel entdeckte er beim Gleitschirmfliegen, wo sich oft neugierige Adler zu ihm gesellten und ihn minutenlang in der Luft begleiteten. Auch er nahm die schleichende Veränderung seiner geliebten Berge wahr, den jedes Jahr weniger werdenden Schnee, die immer neuen Schneekanonen, die rasante Zunahme von Speicherteichen, das Verschwinden der Gletscher. Er wollte etwas tun dagegen, fand aber nie den richtigen Rahmen. "Und eines schönen Tages", so Helmut, "stand dann eine nette Dame vor uns. Sie sagte uns, sie sei auf der Suche nach einem Adler und fragte, ob wir einen hätten." Sie hatten - der Beginn einer schicksalhaften Freundschaft.

    Helmut Achatz ist Projektkoordinator und alpiner Leiter und beobachtet die teils dramatischen, umweltbedingten Veränderungen in den Alpen mit eigenen Augen.

    Foto von Nomi Baumgartl

    Nomi erklärt sie mit ihren „Spirits" aus der Natur, die sie faszinierten und von denen sie sich in ihrer Arbeit führen ließ. Es begann mit Walen und Delfinen, ging weiter mit dem größten Landsäugetier, dem Elefanten, und gipfelte in einem Stern, dem Polarlicht „Stella Polaris".

    Für ihr Projekt in den Alpen reiste sie in die Schweiz und nach Österreich, dokumentierte die Folgen des Klimawandels und hatte doch immer das Gefühl, das etwas fehlte. Bis sie eines Tages im Kino einen Film sah, der von der Freundschaft eines Jungen mit einem Adler in den Tiroler Alpen handelte. Endlich hatte sie ihr Symboltier der Alpen gefunden, die Verkörperung ihrer Vision.

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    Und nicht nur das. Mit Helmut Achatz fand Nomi auch einen unermüdlichen Mitstreiter für ihre Sache. Während sein Falkner sich anderen Projekten zuwandte, blieb Helmut an ihrer Seite und hob mit ihr gemeinsam das mehrdimensionale Umwelt- und Alpenschutzprojekt „Eagle Wings - Protecting the Alps" aus der Taufe. Er ist der Mann, der Nomis Visionen Leben einhaucht, der unermüdliche Organisator. Helmut war es auch, der schließlich den weltberühmten Falkner Jacques-Olivier Travers ins Boot holte - und mit ihm den eigentlichen Hauptakteur und Sympathieträger des Projekts: Seeadler Victor, der mit seinen atemberaubenden Kamera-Flügen von den Gipfeln der Alpengletscher weltweit Aufmerksamkeit und Sympathie auf sich zieht.

    „Die Gletscher sind für uns ganz klar das Fieberthermometer, an dem man ablesen kann, dass der Klimawandel real ist, auch hier bei uns, in den acht Alpenländern, in denen wir jedes Jahr Urlaub machen. Diese Veränderungen sind deutlich erkennbar und der Adler als unser Hauptbotschafter liefert einen ganz unvoreingenommenen Blick auf seinen veränderten Lebensraum", so Helmut.

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    Jacques-Olivier Travers hatte er schon lange aus der Ferne beobachtet, weil es ihm gelungen war, einen Adler mit einer 360° Kamera auszustatten und ihn darauf zu trainieren, längere Flüge zu unternehmen. Das ist umso erstaunlicher, als Seeadler Victor die ersten sechs Jahre seines Lebens in Gefangenschaft verbrachte und überhaupt nicht fliegen konnte. Bis zu seiner Rettung durch Jacques Olivier vegetierte er in einer Voliere im Ural vor sich hin. 

    Eines Tages trafen sich Helmut und der französische Falkner zwischen zwei Terminen auf einer Autobahnraststätte irgendwo bei Mailand und nach einer halben Stunde war klar, dass Travers dabei sein würde. Für das Projekt ein Segen, denn seine Falknerei „Les Aigles du Léman" am Genfer See verfügt über die größte Freiflugvoliere Europas und beherbergt über 340 Greifvögel. Im zugehörigen Aufzuchtzentrum züchtet Travers gefährdete Greifvogelarten aus aller Welt nach, die er dann zur Auswilderung an die jeweiligen Länder zurückgibt. Sein Engagement in diversen internationalen Vogelschutzprojekten trug beispielsweise zur Wiederansiedelung des Seeadlers in den Äußeren Hebriden Schottlands bei.  

    Dass ein Seeadler nun auch eine Schlüsselrolle im „Eagle Wings" Projekt spielt, ist kein Zufall. Seeadler bevölkerten früher den kompletten Mittelmeerraum und kamen an allen Alpenrandseen vor, vom Gardasee über den Genfer See bis hin zum Bodensee. Wie zahlreiche andere europäischen Greifvögel wurden auch Seeadler bis ins 20. Jahrhundert intensiv bejagt. In Norwegen gab es sogar Erlegungsprämien, denen zwischen 1900 und 1966 insgesamt 22137 Tiere zum Opfer fielen. In Westeuropa war die Art schon vor 100 Jahren nahezu vollständig ausgerottet. Zahlreichen Schutzprojekten ab den 1960er Jahren ist es zu verdanken, dass die Bestände sich in vielen Gegenden Europas langsam erholen konnten. Hauptsächlich im Norden und Osten Deutschlands haben sich 580 brütende Paare wieder angesiedelt. In den Mittelmeerraum und an die großen Alpenrandseen Frankreichs, Italiens und der Schweiz ist der Seeadler bislang jedoch nicht zurückgekehrt.

    Experte Jacques-Olivier Travers vermutet, dass ihm das ohne Hilfe auch nicht gelingen wird. Schuld daran sind unter anderem veränderte Umweltbedingungen: Messungen zeigen, dass die Temperatur des Tiefenwassers im Genfer See zwischen 1963 und 2016 von im Jahresmittel 4,4 °C auf 5,5°C gestiegen ist. Das Oberflächenwasser erwärmte sich sogar um ganze 2°C. Die Wassertemperatur hat erheblichen Einfluss auf die Entwicklung von Flora und Fauna: Zahlreiche Fischarten laichen heutzutage deutlich früher als noch vor 30 Jahren. Das hat weitreichende Folgen für den Reproduktionserfolg des Seeadlers, denn in der entscheidenden Phase findet er nicht mehr ausreichend Nahrung für die Aufzucht seiner Jungen.

    Seeadler Victor ist sowohl Kameramann als auch Symbolfigur des Projekts.

    Foto von Nomi Baumgartl

    Für die Gründer des Eagle Wings Projekts ist der Seeadler die symbolische Verbindung zwischen den schmelzenden Gletschern und dem Weg des Wassers bis in die Alpenrandseen und das Meer. Deshalb ist ein wichtiges Projektziel seine Wiederansiedelung in diesem ursprünglichen Lebensraum. Und allen Widrigkeiten zum Trotz will Jacques-Olivier Travers mit der diesjährigen Brutsaison etwas wagen, das bislang noch nie ausprobiert wurde: anstatt Jungvögel auszuwildern, deren Überlebenschancen in freier Wildbahn sehr gering sind, sollen die jungen Adler bis zur Geschlechtsreife im Alter von fünf Jahren in der Freiflugvoliere bleiben und erst dann in die Natur entlassen werden. Während dieser Zeit will er die Tiere systematisch trainieren und auf ihr Leben in Freiheit vorbereiten. Die große Hoffnung ist, dass bereits ausgewachsene Adler höhere Überlebens- und vor allem Fortpflanzungschancen haben. "Das ist in der Ornithologie ein völlig neuer Ansatz und wir sind sehr gespannt, wie sich das entwickelt", so Helmut und Nomi.

    Mit ihrem Enthusiasmus konnten die beiden auch zahlreiche Wissenschaftler für ihr Projekt begeistern, allen voran das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR, das die dritte Dimension beisteuert - das große Auge aus dem Weltraum: Satelliten liefern fotorealistische Geländeaufnahmen der Alpen über einen Zeitraum von vierzig Jahren. Fernerkundung heißt dieses hochinteressante, kaum bekannte Forschungsgebiet, auf dem Dr. Stefan Dech und Nils Sparwasser vom DLR Experten sind. Ihre hochauflösende Animation des K2 half der österreichischen Extrembergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner, eine kaum bekannte Route auf den Achttausender zu finden.

    Auch das „Virtuelle Alpenobservatorium" VAO, ein Netzwerk von Höhenforschungsstationen aus mittlerweile zehn europäischen Ländern, unterstützt „Eagle Wings" und hat Nomi Baumgartl und Helmut Achatz vor kurzem zu Botschaftern ernannt. „Wir haben die Information, Eagle Wings hat die Emotion“ – so bringt Prof. Dr. Michael Rast, Senior Advisor der Europäischen Weltraumorganisation ESA, die Faszination der Wissenschaft für das Projekt auf den Punkt.

    Victor's Flüge durch die Alpen generieren Klicks und erobern die Herzen. „Wir müssen den Blick des Adlers einnehmen, um die richtigen Entscheidungen für die folgenden Generationen zu treffen.“ So lautet eine alte Weisheit der Irokesen und das Motto des Projekts. Demgemäß bezeichnet Nomi Baumgartl selbst sich ganz bescheiden als Bodenpersonal des Adlers. Ihre Fotos vertiefen seine Perspektive. Dabei ist keines beliebig. Jedes transportiert eine bestimmte Atmosphäre, lädt ein, genauer hinzuschauen. Selbst ein zum Schutz vor der Sonne mit Planen überzogener Gletscher wirkt durch ihre Linse wie ein Kunstwerk des Verhüllungskünstlers Christo.

    Emotional jedoch sind die fotografischen Ausflüge in die Alpen nicht immer einfach. Letzten Herbst waren Nomi und Mitstreiter Helmut in den Bergen, um die Entwicklung der Gletscher zu dokumentieren. „Wir sind in eine regelrechte Depression verfallen", erzählt sie, "an manchen Tagen mochten Helmut und ich gar nicht mehr miteinander reden."

    Eine Vließauflage soll den Rhonegletscher vorm Abschmelzen schützen. Eagle Wings betitelt sie als „Leichentücher".

    Foto von Nomi Baumgartl

    Gerade deshalb wollen sie weitermachen. In einem namhaften Schweizer Uhrenhersteller haben Helmut, Nomi und ihre Mitstreiter Jacques-Olivier Travers und Oliver Menzel einen Sponsor gefunden und mit diesem gemeinsam die Stiftung „Eagle Wings Foundation" gegründet. In diesen Tagen beginnt im Aufzuchtzentrum von Jacques Olivier Travers am Genfer See die Eiablage der Seeadler. Sobald die Küken geschlüpft sind, will Nomi sie in regelmäßigen Abständen besuchen und fotografieren. „Eagle Wings" will dieses Jahr außerdem über die Gewässer der Alpen berichten und Victor Flüge über die Alpenrandseen in Deutschland, Österreich und Italien unternehmen lassen. Ein für Ende März geplanter Vortrag im Bayerischen Landtage musste aufgrund der Corona-Krise auf Anfang Juli verschoben werden, ein großes Medienevent auf der Zugspitze samt Adlerflug über den Schneeferner Gletscher kann hoffentlich wie geplant im Spätsommer stattfinden. „Wir haben viel vor dieses Jahr! Wir wollen die Menschen begeistern, berühren und dazu bringen, mitzumachen." Denn jeder, so Nomi, habe es selbst in der Hand, welchen ökologischen Fußabdruck er auf diesem Planeten hinterlassen will.

     

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