Westantarktikas Gletscher halten gewaltige Eismassen zurück – und sie bröckeln

Die jüngste Kalbung löste einen Eisberg von der Größe Münchens vom Pine-Island-Gletscher. Durch warmes Meerwasser häufen sich solche Ereignisse.

Von Madeleine Stone
Veröffentlicht am 13. Feb. 2020, 13:27 MEZ
Pine-Island-Gletscher
Diese Aufnahme des Satelliten Sentinel-2 vom 11. Februar 2020 zeigt die gekalbten Eisberge des Pine-Island-Gletschers.
Foto von Copernicus Sentinel, European Space Agency

An den eisbedeckten Rändern einer westantarktischen Bucht spielt sich ein stilles Drama ab, welches die Küstenlinien unseres Planeten für immer verändern könnte. Zwei Gletscher – der Pine-Island-Gletscher und sein Nachbar, der Thwaites-Gletscher – bilden eine Art Bollwerk, das eine gewaltige Menge Inlandeis zurückhält. Würde dieses Eis ins offene Meer gelangen, stiege der weltweite Meeresspiegel um 1,2 Meter an. Jenes Bollwerk, das genau das verhindert, bricht vor unseren Augen Stück für Stück auseinander.

Am zweiten Wochenende im Februar 2020 entdeckten die Sentinel-Satelliten der ESA eine große Kalbung am Schelfeis des Pine-Island-Gletschers. Eine Reihe von Spalten, die seit Anfang 2019 per Satellit beobachtet wurden, vergrößerten sich im Laufe der letzten Woche plötzlich. Sonntag war schließlich eine 310 Quadratkilometer große Eisfläche von der Gletscherfront abgebrochen. Die Eismasse von der Größe Münchens zerbrach schnell in kleinere Eisberge, von denen der größte immerhin groß genug ist, um einen eigenen Namen zu erhalten: B-49.

Für Pine Island ist es nur der jüngste Vorfall in einer Reihe dramatischer Kalbungen. Wissenschaftler fürchten, dass sie im Zeitalter des Klimawandels nur Vorboten einer umfassenden Auflösung der Eismassen sein könnten. Letzte Woche erreichten die Temperaturen auf der Antarktischen Halbinsel ein neues Rekordhoch von 18 °C. Die Zeichen des rapiden Wandels auf dem gefrorenen Kontinent lassen sich kaum noch ignorieren.

„Das Beunruhigende daran ist, dass die täglichen Datenströme [der Satelliten] offenbaren, in was für einer dramatischen Geschwindigkeit der Klimawandel das Antlitz der Antarktis verändert“, sagte Mark Drinkwater in einer Pressemitteilung. Drinkwater ist der Chefwissenschaftler und ein Cryosphärenspezialist der ESA.

Gletscher wie der Pine-Island-Gletscher (kurz: PIG) sind sogenannte Eisströme – gefrorene Flüsse, über die das Inlandeis ins Meer gelangt. Der PIG ist der gefährdetste solcher Gletscher in der gesamten Antarktis, da er sich am schnellsten zersetzt. Seit 2012 hat er 58 Milliarden Tonnen Eis verloren – pro Jahr. Damit trägt er mehr zum globalen Anstieg des Meeresspiegels bei als jeder andere Eisstrom der Welt.

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    Die jüngste Kalbung ist in diesem Jahrhundert bereits die siebte. Zuvor kalbte PIG laut dem Erdbeobachtungsprogramm Copernicus in den Jahren 2001, 2007, 2013, 2015, 2017 und 2018. Die Intervalle zwischen diesen Ereignissen scheinen kürzer zu werden – ein weiteres Symptom für den schlechten Zustand des Gletschers.

    „Die Ereignisse der letzten fünf bis zehn Jahre scheinen für dieses Gebiet ungewöhnlich zu sein, wenn man sie mit den vergangenen 70 Jahren vergleicht“, schrieb Bert Wouters von der niederländischen TU Delf in einer E-Mail. Der Experte für Fernerkundungssatelliten hat den Pine-Island-Gletscher intensiv beobachtet.

    „Die Kalbung von Eisbergen von einem schwimmenden antarktischen Eisschelf ist ein natürlicher und andauernder Prozess. Aber das aktuelle Ereignis am Pine-Island-Gletscher betraf ein besonders großes Eisstück, und solche Vorfälle scheinen sich bei diesem Gletscher zu häufen“, sagt Alison Banwell, eine Glaziologin des CIRES an der University of Colorado in Boulder.

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    Die jüngst abgebrochene Eismasse war größer als jene von 2017 und 2018, aber kleiner als die Eisberge, die Anfang der 2000er abbrachen. Laut Wouters könnte das milde Wetter im letzten Winter eine der Ursachen für den aktuellen Vorfall sein.

    Aber wie auch bei anderen Kalbungen westantarktischer Gletscher, die sich in letzter Zeit ereignet haben, ist die Hauptursache das warme Wasser, welches unter den Eisschild auf der Amundsensee gespült wird und ihn von unten her zum Schmelzen bringt. Dieser Warmwasserzustrom hängt wiederum mit der Verschiebung von Windmustern zusammen, die warmes Wasser aus tieferen Meeresschichten gegen den Kontinentalschelf drücken.

    Solche Kalbungen tragen nicht direkt zum Anheben des Meeresspiegels bei, da das schwimmende Schelfeis ohnehin bereits Wasser verdrängt. Allerdings bremsen Auslassgletscher wie der PIG den Fluss des Inlandeises, das den Meeresspiegel anhebt, wenn es sich ins Meer ergießt.

    Seit den Neunzigern strömt das Eis von Pine Island zunehmend schneller ins Meer, wie Drinkwater sagt. Mittlerweile lege es pro Tag mehr als zehn Meter zurück. Kurz vor der aktuellen Kalbung legte der Eisstrom sogar noch mal an Geschwindigkeit zu.

    Einige Wissenschaftler glauben, dass der Pine-Island-Gletscher und der benachbarte Thwaites-Gletscher, die sich beide in die Pine-Island-Bucht ergießen, durch ihre ungünstige Lage instabil sind. Die Aufsetzlinie, wo das Eis den Kontakt zum Gesteinsboden verliert, liegt in ihrem Fall unterhalb des Meeresspiegels. Warmes Meerwasser könnte den Bereich unter dem schwimmenden Schelf zunehmend aushöhlen und würde die Aufsetzlinie damit immer weiter landeinwärts verschieben. Die Folge wäre ein zunehmend instabiler Eisschelf, der immer größere Eisberge produzieren und schließlich kollabieren könnte. Ein solches Szenario könnte in ganz Westantarktika zu einem rapiden Eisverlust führen.

    Wie wahrscheinlich das ist, lässt sich aktuell noch nicht mit Sicherheit sagen. Auf der Suche nach Antworten bohrten Wissenschaftler der International Thwaites Glacier Collaboration kürzlich ein tiefes Loch ins Eis, um den Bereich der Aufsetzlinie des Thwaites-Gletschers zu erreichen.

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    Mit einer Reihe von Messinstrumenten sammelten sie Daten und machten die ersten Aufnahmen dieses mysteriösen Bereiches. Mit Hilfe dieser neuen Informationen können Forscher Lücken in ihrem Wissen über die Schmelzdynamiken in dieser Zone schließen – und künftige Veränderungen und Risiken hoffentlich besser vorhersagen.

    Der Pine-Island-Gletscher scheint sich vorerst stabilisiert zu haben. Die letzten Daten des NASA-Satelliten Terra zeigen, dass die westliche Hälfte der abgebrochenen Eismasse, zu der auch der große Eisberg gehört, in die Pine-Island-Bucht hinausgetrieben ist. Die östliche Hälfte mit den zahlreichen kleineren Eisbergen treibt hinterher, sagt der NASA-Glaziologe Christopher Shuman.

    Ihm zufolge sind die vielen kleinen Bruchstücke der Kalbung ein Zeichen dafür, „wie ‚schwach‘ die schwimmende Gletscherzunge von [Pine Island] geworden ist“. In Kombination mit der instabilen Lage der Gletscherfront ist deshalb bald mit einem weiteren Abbruch zu rechnen.

    „Insgesamt ist das für das Inlandeis, das aus dem Pine-Island-Gletscher fließt, kein gutes Zeichen“, so Shuman.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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