Lebensader in Gefahr: Verstärkte Konflikte zwischen Indien, Pakistan und China

Die Gletscher des Himalaya speisen den Indus, einen der mächtigsten Flüsse der Erde. Rund 270 Millionen Menschen leben von seinem Wasser. Doch mit den Gletschern schwindet auch das Wasser des Indus.

Von Alice Albinia
bilder von Brendan Hoffman
Veröffentlicht am 1. Juli 2020, 15:41 MESZ
September 2019: Pilger machen Selfies auf dem Drolma-Pass. Sie befinden sich auf der „Kora“, einem 53 ...

September 2019: Pilger machen Selfies auf dem Drolma-Pass. Sie befinden sich auf der „Kora“, einem 53 Kilometer langen Meditationsweg um den Berg Kangrinboqe (auch Kailash genannt) in Tibet. Für vier Religionen gilt der Berg als heilig, denn hier entspringen vier große südasiatische Flüsse in alle Himmelsrichtungen. Die Quelle des Indus, nördlich des Berges, ist in einer viertägigen Wanderung erreichbar.

Foto von Brendan Hoffman

RUND UM DEN BERG KANGRINBOQE in Tibet enspringen vier Ströme, die sich über den Himalaya hinab zum Meer ergießen. Ihre Flussläufe ließen Zivilisationen und Nationen entstehen: Tibet, Pakistan, Nordindien, Nepal und Bangladesch. Wie das Wasser genutzt wird, darüber entscheiden seit jeher die Menschen fludsabwärts. Woher die Flüsse ihr Wasser bekommen, bestimmen zwei Faktoren: Monsunregen und Gletscherschmelze. Beide beeinflust aber auch der Mensch – wie wir heute wissen.

Flüsse, die im östlichen Himalaya entspringen wie der Brahmaputra, speisen sich überwiegend durch Regenfälle des Sommermonsuns. Ihre Wassermengen könnten steigen, da die Klimaerwärmung für mehr Feuchtigkeit in der Atmosphäre sorgt. Der Indus jedoch, der vom Kangrinboqe nach Westen strömt, bezieht das meiste Wasser aus den Gletschern von Himalaya, Karakorum und Hindukusch. „Wassertürme“ nennen die Fachleute diese Gletscher. Sie speichern im Winter Neuschnee als Eis und geben es im Frühjahr und Sommer in Form von Schmelzwasser ab. Dieser stete Strom versorgt Menschen und Ökosysteme mit Wasser. Flussabwärts, in den Ebenen Pakistans und Nordindiens, ist die größte Bewässerungslandwirtschaft der Welt auf den Indus angewiesen. 270 Millionen Menschen hängen am Tropf der Gletscher, doch die meisten von ihnen schrumpfen heute.

Schulkinder im Dorf Gya überqueren einen Gletscherbach, der in den Indus mündet. Auf seiner Reise westwärts von Tibet nach Pakistan strömt der Indus durch Ladakh, eine Hochgebirgsregion im nördlichsten Zipfel Indiens. Das Abschmelzen der Gletscher, die den Indus speisen, führte bereits zu beispiellosen Überschwemmungen. 2014 zerstörte die Flutwelle eines Gletschersees zwei Häuser in Gya.

Foto von Brendan Hoffman

Zunächst wird das den Zufluss in den Indus erhöhen. Wenn die Temperaturen allerdings entsprechend der Prognosen ansteigen, wird der Fluss 2050 seinen Höchststand erreicht haben. Danach geht die Wassermenge zurück.

Schon jetzt nutzt der Mensch 60 Prozent des Indus-Wassers, und die Bevölkerung in seinem Einzugsgebiet wächst rasant. In einem kürzlich erschienenen Artikel der Fachzeitschrift Nature berichtet eine internationale Forschergruppe, die von der National Geographic Society gefördert wurde, über die weltweiten „glazialen Wassertürme“.

Die Lage am Indus nennt sie besonders kritisch. Angesichts von „hohem grundlegendem Wasserstress und begrenzter Effektivität der Regierungen“ in der Region sei „kaum zu erwarten, dass der Indus (...) diesem Druck standhält.“ Pakistan wird am stärksten betroffen sein.

3200 KILOMETER REISTE ICH zwischen 2003 und 2006 entlang des Indus vom Arabischen Meer bis zu seiner Quelle in Tibet. Schon damals war die Überlastung des Flusses offensichtlich. Von dem von britischen Kolonialherren beschriebe- nen mächtigen Strom war nicht mehr viel übrig. Vom Bauern bis zum Politiker – jeder, mit dem ich sprach, beklagte das Missmanagement des Flusses. Die Rede war von korrupten oder ineffizienten Bauprojekten, ungleicher Wasserverteilung und aus Profitgier zerstörten Ökosystemen.

Der von Gletschern gespeiste Strom erreicht seine volle Breite in den Ebenen von Sindh im südlichen Pakistan. Die Sukkur-Talsperre, in der Ferne erkennbar, entstand in der Kolonialzeit. Von hier gelangt das Wasser des Indus über ein Kanalnetz in die Wüste, um Baumwolle, Getreide oder Reis zu bewässern. Entlang des Indus errichteten die Briten das bis heute größte Bewässerungssystem der Welt.

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Von den Auswirkungen der Klimaerwärmung sprach damals noch kaum jemand. Erst Jahre später wurde das Ausmaß dieses Problems klar, eher durch heftige Überschwemmungen als durch Wassermangel. Wie viel Niederschlag die Himalaya-Region in Zukunft zu erwarten hat, ist ungewiss. Eindeutig ist jedoch die Zunahme extremer Regenfälle.

Im August 2010 war der Indus voll mit Sommerschmelzwasser, als ihn ein verheerender Monsunregen heimsuchte. Mancherorts kamen innerhalb weniger Stunden Sturzfluten vom Himmel, die der Regenmenge eines ganzen Jahres entsprachen, und der Indus trat an seinem südlichen Lauf über die Ufer. Mehr als 1600 Menschen starben, die Schäden beliefen sich auf über neun Milliarden Euro.

Von „Überschwemmungen in nie dagewesenem Ausmaß“ sprach Usman Qazi, Experte für Katastrophenhilfe des Uno-Entwicklungsprogramms in Islamabad. Dies würde häufi er vorkommen, fuhr er fort. „Durch den Klimawandel bedingtes Hochwasser ist eine der größten Gefahren für Pakistan.“

Nomadenkinder schöpfen Wasser aus dem Indus nahe seines Ursprungs in Tibet. Das Quellgebiet wird von China kontrolliert. 2006 errichtete das Land dort einen Staudamm – ohne Absprache mit Indien und Pakistan, die stark auf den Fluss angewiesen sind

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Heute hängt der Klimawandel als Schreckge- spenst über jeder Diskussion zur Zukunft des Indus. Doch das Problem ist noch viel komple- xer, denn Indien und Pakistan, seit 1947 Nach- barn und Feinde, teilen sich den Indus und fünf seiner Zuflü se. China wiederum kontrolliert das Quellgebiet. Als ich 2006 Tibet besuchte, war ich entsetzt. Das Flussbett war trocken. China hatte kurz zuvor den Oberlauf gestaut.

Indien, Pakistan und China sind sehr bevölkerungsreich. Alle drei verfügen über Atomwaffen Wir glauben, der Klimawandel würde sich in kleinen Schritten vollziehen, fast unbemerkt. Entlang des Indus allerdings könnte er einen Konflik auslösen, der die Welt über Nacht verändert.

Im Rigveda, einem der ältesten indischen Sanskrit-Texte, ist der Indus der einzige Fluss, der als Gott und Göttin – Vater und Mutter – zugleich verehrt wird, vermutlich weil hier im Tal des Indus der Hinduismus seinen Ursprung fand.

Eine Pilgerin aus Atlanta, Georgia, wird mit dem heiligen Wasser des Manasarovar-Sees in Tibet übergossen. Der See befindet sich in der Nähe des Berges Kangrinboqe und der Quelle des Indus. Tausende von Pilgern wandern jedes Jahr um den Berg herum, aber die chinesische Regierung hat das Baden im See verboten.

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Nördlich des Kangrinboqe wallt der große Strom gemächlich aus dem Erdboden, als würde die vierarmige Göttin ausatmen. Er fließt westwärts durchs Gebirge, am nördlichen Rand Indiens entlang und über die umstrittene Grenze nach Pakistan. Wo der Himalaya auf Karakorum und Hindukusch trifft an einem Knotenpunkt aus Fels und Eis, biegt der Indus schließlich scharf nach links ab und steuert südwärts, 1600 Kilometer durch die Ebenen von Punjab und Sindh ins Arabische Meer.

Im Norden Pakistans hat sich der monotheistische Islam mit der schamanischen Verehrung von Gletschern arrangiert. Einer davon, der Ghulkin, sei ein männlicher Gletscher im mystischen Paarungstanz auf „seinem Weg ins Tal auf der Suche nach einer Partnerin“, hörte ich dort. Gletscher bewegen sich, sagen die Einheimischen, weil sie wachsen. Das stimmt – doch manchmal rutscht ein Gletscher wie ein Schlitten ins Tal, weil er zu schmelzen beginnt und sich ablöst.

Leh ist die größte Stadt in Ladakh. 2019 übernahm die indische Regierung die direkte Kontrolle über die Region, was die Entwicklung externer Interessen verstärken könnte. Seit dem Sommer hat sich die Bevölkerung mit der Ankunft von Hunderttausenden indischen und ausländischen Touristen verdoppelt.

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Genau das geschah vermutlich 2018 mit dem Shishper-Gletscher, der plötzlich immer näher auf den pakistanischen Ort Hassanabad zurutschte, bis zu 37 Meter weit am Tag. „Er sah aus wie ein Zug“, sagte der einheimische Geologe Deedar Karim. Der Shishper wälzte sich über Bewässerungskanäle und gegen eine Brücke. Als ich ihn im vergangenen Oktober sah, bewegte er sich täglich nur noch um 30 Zentimeter weiter – immer noch schnell für einen Gletscher.

IM OBEREN INDUS-BECKEN bewegt sich dagegen kein Eis mehr. Die Gletscher Hoper und Barpu sind so weit abgeschmolzen, dass viele Siedlungen mit ihren aufwendigen Bewässerungssystemen brach liegen. „Als ich klein war, arbeiteten die Bewohner hier auf Feldern und Obstplantagen“, erzählte mir der 60-jährige Niat Ali, ein ehemaliger Soldat. Er ratterte die Namen der stillgelegten Siedlungen herunter: Shishkin, Hapa Kun, Hamdar, Barpu Giram.

Der Tourismus in Ladakh hat in den letzten Jahren einen Boom erlebt. Das Gebirt das zu einem Sommerrefugium für Inder geworden, die sich vor der Hitze im Land flüchten. Diese Urlauber befinden sich am Zusammenfluss der Flüsse Indus und Zaskar, westlich von Leh.

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Schmelzende Gletscher bergen auch eine ganz unmittelbare Gefahr. Manchmal durchbrechen die Schmelzwasserseen explosionsartig ihr Bett aus Gesteinsschutt oder Eis. Glof – Glacial Lake Outburst Flood – nennt die Fachwelt das Phänomen. 2018 erfasste im Ishkuman-Tal eine Flutwelle die Dörfer Bad Swat und Bilhanz. Nayab Khan, 48, spürte, wie die Erde bebte, als „das Wasser riesige Felsbrocken mitriss, die aufeinanderprallten. Zwölf Tage lang ging das so.“ Das Geröll staute den Fluss Immit, und ein neuer, sechs Meter tiefer See entstand, der Khans Haus und 41 weitere zerstörte.

Der Klimawandel trägt dazu bei, dass sieben Millionen Menschen in Nordpakistan von sol- chen Gletscherflut ellen bedroht sind. Die drei Gletscher nahe des Dorfes Pasu „sind die drei Drachen“, sagt der Lehrer und Apfelbauer Ashraf Khan. „Wir leben in ihren Mäulern.“ 2008 spie einer der Drachen im Winter, wenn „normaler- weise alles dick gefroren ist“, eine Gletscherflu aus. Im letzten August wurden vom sommerlichen Schmelzwasser „ein Hotel, ein Geheimdienstbüro der pakistanischen Armee und eine Obstplantage mitgerissen“.

Ein Café am Straßenrand mit Blick auf den Baglihar-Staudamm am Fluss Chenab, einem großen Nebenfluss des Indus. Der Indus-Wasservertrag von 1960 sprach Pakistan die Nutzung der Flüsse Indus, Chenab und Jhelum zu – Indien wurden aber gewisse Rechte zugestanden, darunter das der Stromerzeugung.

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Die Menschen in Pasu beobachten, dass sich das Wetter verändert. Die Sommer sind jetzt so heiß, dass sie zum ersten Mal Ventilatoren aus dem Süden des Landes bestellen. Für die milderen Winter sind wohl die meisten Bewohner dankbar. Nur wenige Menschen, denen ich in Nordpakistan begegnete, wussten, warum ihre Gletscher schmelzen, oder machten den Rest der Welt dafür verantwortlich.

Monteure schließen ein Haus in Sabu in der Region Ladakh ans Stromnetz an. Die indische Regierung förderte den Bau von Wasserkraftwerken im Indus-Einzugsgebiet mit viel Geld und großen ökologischen Folgen – aber auch mit positiven Resultaten: Leh, die Hauptstadt von Ladakh, hat 2013 Die- selgeneratoren durch sauberere Wasserkraftanlagen ersetzt.

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In den Großstädten weiter südlich aber entsteht langsam ein Gefühl von Ungerechtigkeit. Pakistan, ein Entwicklungsland mit etwa 230 Millionen Einwohnern, steht hinsichtlich Pro-Kopf-CO2-Emissionen nur auf Platz 144 von 192 Ländern. „Es ist nicht unsere Schuld, aber wir sind die Hauptleidtragenden“, sagte Malik Amin Aslam, pakistanischer Minister für Klimawandel.

MIT DER UNABHÄNGIGKEIT 1947 und der Teilung des britischen Kolonialreiches in Indien und Pakistan erhielten beide Länder weniger vom Indus, als sie haben wollten. Den langen westwärts fließenden Abschnitt im Norden, der im ehemaligen Fürstenstaat von Jammu und Kaschmir liegt, wünschten beide Länder komplett für sich. Bis heute kommt es an der Grenze, die Kaschmir teilt, zu heftigen Konflikten.

Flussabwärts, in den fruchtbaren Ebenen des Punjab, hatten die
Briten Dämme und Staustufen am Indus und seinen Zuflüssen errichtet und Wasser in ein weitläufiges Netz von Bewässerungskanälen abgezweigt. Die neue Grenze durchschnitt im Punjab fünf Zuflüsse. Der Großteil der Bauernsiedlungen entlang der Kanäle fiel an Pakistan, doch das Quellgebiet bei Firozpur am Fluss Sutlej wurde Indien zugesprochen.

Bereits im Frühling 1948 riegelten indische Regierungsbeamte die Schleusentore im Quellgebiet ab, sodass deutlich weniger Wasser nach Pakistan strömte. Nach einigen Wochen wurden die Tore zwar wieder geöffnet. Aber diese Erfahrung indischer Willkür hat bei den Pakistani ihre Spuren hinterlassen. Und vergangenen Oktober drohte der indische Premierminister Narendra Modi erneut damit, das Wasser zu stoppen.

Pakistan erhielt 1960 mehr Sicherheit, als die Weltbank beide Staaten zur Unterzeichnung des Indus-Wasservertrags („Indus Waters Treaty“) bewegen konnte. Das Land bekam die Nutzungsrechte für den Indus sowie zwei westliche Nebenflüsse, an Indien fielen die drei östlichen. Die internationale Gemeinschaft drängte die Staaten zum Bau weiterer Dämme und Kanäle. 1976 stellte Pakistan die Tarbela-Talsperre fertig, Indien 1987 den 640 Kilometer langen Indira- Gandhi-Kanal, der das Wasser und mit ihm die „Grüne Revolution“, also eine Hochleistungs- landwirtschaft, vom Punjab nach Süden bis in die Thar-Wüste von Rajasthan brachte.

Der Shishper-Gletscher wälzte sich im Jahr 2018 samt schwarzem Geröll auf den Ort Hassanabad zu – mit einer Geschwindigkeit von bis zu 37 Metern pro Tag. Unter sich begrub er Leitungen und andere Infrastruktur. Auslöser dafür könnte ein beschleunigtes Abschmelzen gewesen sein.

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Analysten beider Länder sind sich einig, dass die Kanäle die Wasserverschwendung fördern, da sie reichlich Wasser zu künstlich niedrigen Preisen liefern. „Wir bauen Reis in der Wüste an!“, klagte Ali Tauqeer Sheikh. Er gehört dem Nationalen Rat für Klimawandel in Pakistan an. Aber „in 100 Jahren können wir die Schuld nicht mehr auf die Briten schieben“. Die Großbauern gehörten zur „politischen Elite und lehnen hohe Wasserpreise ab“.

Der Wassermangel hat zu beiden Seiten der Grenze ein dramatisches Niveau erreicht. Im indischen Punjab treibt die Verschuldung jähr- lich etwa 1000 Bauern in den Selbstmord. Das Heraufpumpen von Grundwasser ist teuer. Jedes Jahr müssen sie tiefere Brunnen bohren, weil der Grundwasserspiegel fällt – an manchen Stellen 120 Meter tief. Ursache für die Absenkung ist der Anbau von Reis, ein sehr durstiges Getreide. Mittlerweile wird Flusswasser bis nach Rajasthan verschifft.

JENSEITS DER GRENZE von Rajasthan, in der pakistanischen Provinz Sindh, führte mich meine Reise in die Thar-Wüste. Teilweise wird sie über Kanäle bewässert – mit Wasser aus dem 300 Kilometer entfernten Sukkur-Staudamm am Indus, der 1932 von den Briten fertiggestellt wurde. Hier, am Ende des Kanalsystems, arbeiteten Frauen und Kinder auf den Feldern und ernteten den berühmten Dundicut-Chili. Doch die Ernte von 2019 war miserabel, meinte Mian Saleem, Präsident vom Verband der Chilibauern von Sindh.

In Wagah im Punjab posieren Besucher nach der täglichen Schlusszeremonie mit Soldaten an der Grenze zu Indien. Im Jahr 1947, als aus dem britisch besetzten Indien zwei unabhängige Länder entstanden, wurde die Provinz Punjab in der Mitte geteilt. Für die beiden Punjabs, ebenso wie für die beiden Nationen, ist das Wasser des Indusbeckens ein politischer Streitpunkt.

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Extreme Witterung schmälerte die Erträge um zwei Drittel. Im Mai stiegen die Temperaturen auf 47 Grad, die Pflan en verdorrten auf dem Feld. „In 40 Jahren habe ich so eine Hitze nicht erlebt“, so Saleem. Im Herbst folgte eine ungewöhnlich starke Monsunsaison. Die Ernte verzögerte sich, die Pflanzen verfaulten.

Im Dorf Rano Khan Rahimoon sprach ich mit Farmpächtern. Hindus und Muslime wohnen in diesem Dorf Tür an Tür in bemalten Lehmhäusern. Sie bauen Chili und andere ertragreiche Früchte an. Ausführlich berichteten sie mir von ihrer größten Sorge: Wasser. „Manchmal bringt uns der Kanal Wasser, manchmal nicht“, sagte Attam Kumar, 28.

PAKISTAN

Ein Lastwagen liefert Baumwolle an eine Textilfabrik in Sindh. Die Textilindustrie macht in Pakistan acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes und mehr als die Hälfte der Deviseneinnahmen aus. Doch Baumwolle verbraucht viel Wasser im Anbau. Dazu kommen in den letzten Jahren sprunghafte Wetterwechsel – Hitzewellen mit anschließenden ungewöhnlich starken Niederschlägen –, die zu geringen Erträgen führten.

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„Wir haben ein dreifaches Wasserproblem: Das Kanalwasser wird knapp, der Monsun ungewöhnlich heftig und das Grundwasser, das wir trinken müssen, ist vergiftet.“ Wasser sickert von den gedüngten Feldern in die Brunnen und verseucht sie. Kumar zog das T-Shirt des elfjähri en Salaam hoch, um mir die Narbe seiner Nierenoperation zu zeigen. Von 150 Dorfbewohnern musste vieren eine Niere entfernt werden. „Dieses Gift macht uns krank“, klagte Kumar.

Am nächsten Morgen traf ich einen Landbesitzer und ehemaligen Bundesminister, ehe ich mit dem Manager einer großen Mangofarm sprach. Dienstboten bewässerten einen Rosen- garten in der Wüste. Beide Männer klagten über das unberechenbare Klima, während sie Evian-Flaschen öffnen. Dass ihr Kanalwasser knapp werden könnte, sorgte sie nicht. Sie waren mächtig genug, um sich zu holen, was sie brauchten.

Kinder holen Trinkwasser aus einer Filteranlage am Manchar-See in Sindh. Der größte Süßwassersee Pakistans wird vom Indus gespeist. Weil aber flussaufwärts viel Wasser abgezweigt wird, strömt kein Frischwasser nach. Die in den See sickernden landwirtachaftlichen Abwässer haben fast den kompletten Fischbestand vernichtet und das Wasser so verschmutzt, dass es zum Trinken aufbereitet werden muss.

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Im Dorfkrankenhaus verzweifelte indes die Ärztin Moomal Waqar über die vielen Patienten mit Nierenbeschwerden und Gallensteinen. Wie die Farmpächter sah sie das ungefil erte, mit Düngemitteln verseuchte Trinkwasser als Ursache. „Wer“, fragte sie, „kann sich hier schon abgefülltes Mineralwasser leisten?“

Kontaminiertes Wasser ist ein verbreitetes Problem in Pakistan. Ein Team des Schweizer Wasserforschungsinstituts Eawag meldete 2017, bis zu 60 Millionen Menschen im Einzugsgebiet des Indus könnten arsenverseuchtes Grundwasser trinken. Arsen ist von Natur aus in Böden enthalten, kann jedoch auch von Düngemitteln stammen. Durch starke künstliche Bewässerung wird es ins Grundwasser ausgewaschen.

„Gebiete, in denen die Arsenvergiftungen vorkommen, decken sich genau mit den bewässerten Flächen“, erklärte Hassan Abbas. Er ist Hydrogeologe im Punjab. „Wir haben eine der weltweit größten Grundwasserreserven vergif- tet.“ Gleichzeitig leidet in Pakistan mindestens ein Drittel aller Kinder an Unterernährung. Am schlimmsten sei das Problem laut Daanish Mustafa, pakistanischer Geograf am King’s College London, in den „bewässerten Distrikten“. Dort hat der Getreideexport Vorrang vor der Lebensmittelproduktion für die lokale Bevölkerung.

In Karatschi am Arabischen Meer lässt ein Fahrer Induswasser aus einem Rohr in seinen Lastwagen ab – in diesem Fall legal. Doch ein florierender Schwarzmarkt führt zu einer katastrophalen Wasserverknappung für die Armen.

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DIE WURZEL ALL DIESER PROBLEME ist die Art der Nutzung des Indus. Staudämme, Talsperren und Kanäle machten Wasser zu einem verfügbaren und billigen Gut, doch große Teile des fruchtbaren Flussschlamms bleiben in den Staubecken zurück. Mit der Grünen Revolution kamen in den Sechziger- und Siebzigerjahren außerdem Getreidesorten mit höherem Wasserbedarf ins Land, dazu chemische Düngemittel und Pestizide. Bewässerung durch Flutung der Felder schafft an beidem hohen Bedarf, da in stehenden Gewässern Schadinsekten brüten und das Wasser den Dünger auswäscht – ins Grundwasser.

Im Ergebnis, so Abbas, entnehmen „wir dem Fluss jetzt mehr als zehnmal so viel Wasser, wie wir eigentlich bräuchten.“ Wasser ist heute knapp und verseucht – in einem Land, in dem es einst reichlich und sauber zur Verfügung stand.

Wie viele Experten, mit denen ich sprach, plädiert auch Abbas für eine radikale Umgestaltung des Systems. Pakistan und Indien blicken auf alte Traditionen der Wassergewinnung zurück, angepasst an den Rhythmus von Fluss und Regenfällen. Doch stattdessen konzentrierten sich die zwei Länder auf riesige Damm- und Kanalbauprojekte. Beide planen weitere Dämme im Indus-Gebiet.

Der Klimawandel, argumentiert Abbas, könnte für Pakistan ein Segen sein – ein Ansporn, das System neu zu überdenken: weg von der kostspieligen Wasserkraft hin zur billigeren Solarenergie. Weg von der Oberflächen ewässerung hin zur Tropfenbewässerung aus der sauberen, grundwasserführenden Schicht unter dem Indus. Die Feuchtgebiete und Wälder entlang des Indus und der Nebenflüssse könnten renaturiert werden. Sie würden Überschwemmungen aufnehmen und so verhindern, dass sich eine Katastrophe wie 2010 wiederholt.

Durch Sammeln von Regen- und Flusswasser, glaubt er, könnte man sogar den Grundwasserleiter unter Karatschi, Pakistans Handelshauptstadt am Rande des Indus-Deltas, wieder auffüllen Die 15 Millionen Bewohner haben ihren Grundwasserspeicher leergesaugt. Ihre nächste Wasserquelle ist der 60 Kilometer entfernte Stausee Kinjhar, den der Indus speist.

AM ENDE SEINER REISE ZUM MEER gleicht der Fluss einem Rinnsal. In einer Gasse in Goth Ibrahim Haidri, einem Fischerdorf bei Karatschi, kam ich an Frauen vorüber, die mit Wasserkrügen an einem Tanklaster Schlange standen – seit drei Tagen, wie ich erfuhr. Solche Szenen sind nicht selten in den hiesigen ärmeren Vierteln. Die Reichen greifen das meiste Frischwasser aus dem Indus und seinen Seen ab, oft gegen Schwarzgeld. Die Armen stehen Schlange oder kaufen billigeres Brackwasser.

Die Bewohner von Hausbooten auf dem Manchhar-See tragen traditionell Attrappen, um Vögel zu jagen. In dem verschmutzten See gibt es kaum noch Fisch, und auch die Zugvögel sind weniger zahlreich, weshalb die Menschen den See größtenteils verlassen haben. Weniger als 50 Hausboote sind übriggeblieben – früher waren es viele Tausende.

Foto von Brendan Hoffman

Mohammad Ali Shah leitet das Pakistan Fisherfolk Forum (PFF). Er ist hier aufgewachsen und als Kind im Meer geschwommen. Seine Enkel würde er nie ins Wasser lassen, sagte er. Es ist viel zu verschmutzt.

Das PFF kämpft für ein Gesetz, das dem Indus Persönlichkeitsrechte einräumen würde. Shah zeigte mir den Entwurf. Darin wird der Indus als „ökologisches Wunder“ bezeichnet, „mit eigenem Wert, neben dem Nutzen für Menschen“. Der Text verweist auf den Koran, in dem die gesamte Erde als eine „Moschee“ bezeichnet wird. Er schlägt neben Begrenzung neuer Wasserprojekte Verschmutzungskontrollen vor sowie einen Fonds zur ökologischen Wiederherstellung des Flusses.

Dieser Vorschlag ist zu radikal, um tatsächlich Gesetz zu werden. Doch irgendetwas muss sich bewegen am Indus, eine Art Rückkehr zur einstigen Ehrfurcht vor dem Fluss. Die Alternative, dass der Indus weiter so misshandelt wird und neue „Wettergötter“ das Chaos immer weiter verschlimmern, ist einfach zu beängstigend.

Aus dem Englischen von Dagmar Brenneisen.

Alice Albinia ist Autorin des Buches Empires of the Indus; sie lebt südlich von London. Brendan Hoffman wohnt in der Ukraine. Für beide ist dies der erste Beitrag in unserem Magazin.

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