Selbstgemachte Gletscher: Die Eiskegel von Indien

Was tun, wenn der Schnee, der die Wasserversorgung sichert, zu schnell schmilzt? Wenn sich die Gletscher immer weiter in die Höhe zurückziehen? In Ladakh an der Nordspitze Indiens legen die Menschen riesige Eiskegel an.

Von Arati Kumar-Rao
Veröffentlicht am 1. Sept. 2020, 15:49 MESZ
Künstliche Gletscher in Indien

Eisstupas entstehen im Winter, indem man Wasser aus einem Bach in ein vertikales Rohr leitet. Die Schwerkraft treibt es oben aus einer Düse. Durch die Kälte gefriert das herabsinkende Sprühwasser, um das Rohr wächst ein Eiskegel, wie hier in Zingral nahe der Touristenattraktion Ladakh.

Foto von Ciril Jazbec

Ladakh steht unter Belagerung. Der Feind kappt die Wasserversorgung und trocknet das Ackerland aus, sodass verzweifelte Bauern vom trockenen Hochplateau zwischen den Gebirgsketten von Himalaya und Karakorum in die Hauptstadt Leh fliehen, die am Fluss Indus liegt. Mit Sonam Wangchuk fahre ich auf über 2500 Metern über Pässe und Täler. Wangchuk ist Ingenieur, außerdem Gründer einer Reformschule. Wir inspizieren Ladakhs Verteidigungsanlagen: hohe Eiskegel, Stupas genannt. „Unser Feind trägt keine Uniform. Er gehört keiner Nation an und besitzt keine automatischen Waffen“, sagt er. „Grenzen halten ihn nicht auf, er hält sich an keine internationalen Gesetze. Wir Ladakhis stehen an der Front eines ganz anderen Krieges.“

Der Feind heißt Klimawandel

Ein Anstieg der durchschnittlichen Wintertemperatur um rund ein Grad während der letzten 40 Jahre hat ein entscheidendes Glied im Wasserkreislauf Ladakhs zerstört. Durch den Himalaya vom Südwestmonsun abgeschirmt, regnet es hier im Durchschnitt nur etwa 110 Millimeter pro Jahr. Die winterlichen Schneefälle und die Gletscher in den Bergen sind hier das Lebenselixier. Der Schnee ist jedoch unbeständig geworden und schmilzt vor der Frühjahrsaussaat, während sich die Gletscher hoch in die Berge zurückgezogen haben. Ihr Eis taut immer später. „Der Abstand zwischen Schneeschmelze und Gletscherschmelze wächst“, sagt Wangchuk. Die entstehende lange Trockenzeit im Frühjahr untergrabe die Landwirtschaft. „Wir haben eine vernachlässigbare CO2-Bilanz, aber wir tragen die Hauptlast der Klimaveränderungen“, stellt Wangchuk fest. Die Ladakhis können den Klimawandel nicht aufhalten – doch Eisstupas könnten dem Frühling etwas Wasser zurückbringen.

Der Stupa in der Nähe des Dorfes Shara Phuktsey siegte 2019 im Wettbewerb um den größten Stupa. Er speicherte mehr als 7,5 Millionen Liter Wasser, das bei der Bewässerung von Feldern in vier Dörfern half. Eiskletterer erklommen die steilen Flanken der Touristenattraktion.

Foto von Ciril Jazbec

Die Geschichte einer Idee

Auf der Fahrt erzählt mir Wangchuk seine Geschichte. Im Hochsommer 2013 fiel ihm auf, dass das Eis selbst in niedriger Höhe im Schatten einer Brücke nicht schmolz. So entstand die Idee, dass er den Dörfern helfen könnte, im Winter Wasser für den Gebrauch im Frühjahr einzufrieren. Weite Eisflächen zu beschatten, wäre kaum praktikabel. Ein steiler Hügel jedoch würde sein Inneres selbst klimatisieren – je steiler, desto geringer die der Sonne ausgesetzte Fläche. „Ein Kegel war die Lösung – Erkenntnis aus dem Matheunterricht“, sagt Wangchuk.

Im Buddhismus ist ein Stupa ein Hügel aus Stein oder Schlamm, der verehrte Reliquien beherbergt. Wangchuk und seine Schüler bauten ihren ersten Eisstupa im November 2013. Sie leiteten einen Wasserlauf bergab und schickten ihn dann ein vertikales Rohr hinauf zu einer Düse. Das war’s. Stupabau ist keine Hochtechnologie. Wangchuks Team öffnete die Düse in der Nacht, als die Lufttemperatur unter dem Gefrierpunkt lag. Der feine Sprühnebel gefror beim Sinken. Langsam wuchs ein Eishügel um das Rohr, der sich nach oben hin verjüngte. Dieser erste Teststupa war sechs Meter hoch, enthielt 150 000 Liter Wasser und hielt bis in den Mai.

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    Seitdem hat Wangchuk die Technik in den Dörfern Ladakhs gelehrt. 2019 wurden zwölf Stupas angelegt, von denen zwei über 30 Meter hoch waren. In diesem Jahr waren es 26; neun davon überstiegen 30 Meter. Der Klimawandel verursacht auch Sturzfluten durch heftige Sommerregenfälle. Wangchuk hofft, dass das Wasser abtauender Stupas dazu beiträgt, Berghänge zu begrünen, um Starkregen zu binden. „Bei optimaler Größe und Lage könnten Stupas den Sommer bis in den folgenden Winter überstehen“, sagt er. „Der Stupa würde Jahr für Jahr wachsen“ – und so zu einem mehrjährigen „künstlichen Gletscher“ werden.

    Im Dorf Karith wird Wangchuk von den Schülern der Mittelschule wie ein Held empfangen. Sie bauten 2016 den ersten kleinen Stupa ihres Dorfes. „Wir wollen den Kindern bewusst machen, was in der Welt geschieht und welche Folgen das für uns hat“, sagt Schulleiter Mohammad Ali. Wangchuk aber will der Welt bewusst machen, was sie Ladakh antut. Stupas, meint er, seien „eine Aufforderung, den kohlenstoffintensiven Lebensstil in den Städten zu ändern“.

     

    Aus dem Englischen von Anne Sander

    Die Autorin Arati Kumar-Rao lebt in Bangalore, Indien. Wasser ist ihr thematischer Schwerpunkt. Ciril Jazbec fotografierte für NAT GEO u. a. afrikanische Tech-Unternehmer und Inuit in Grönland.

    Der Artikel wurde in der Juli 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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